Erfurt und Luther
Erfurt hat keine „Weimarer Klassik“. Na und? Schließlich ist man thüringischer Regierungssitz. Überhaupt brauchen sich die Erfurter nicht hinter der berühmten Nachbarstadt zu verstecken. Die Chronik beweist es: Goethe, Schiller, Humboldt, Paganini, Napoleon – alle waren sie hier!
Und natürlich Luther! „Erfurt liegt am besten Ort“, befand er kategorisch, „da muss eine Stadt stehen.“ Sechs Jahre verbrachte der freidenkende Mönch im hiesigen Augustinerkloster, bevor er nach Wittenberg ging und als Reformator für religiösen Wirbel sorgte.
So einer wie Luther ist für das örtliche Stadt-Marketing ein wahrer Glücksfall. Aber auch sonst haben die verwinkelten Gassen Erfurts einiges zu erzählen – im buchstäblichen Sinne. War es ein Spaßvogel, der sein Domizil „Zum großen Paradies und Esel“ nannte? Und ist es Zufall, dass die Gera auf ihrem Weg durch die Stadt so oft ihren Namen wechselt? Für die Erfurter ist sie offenbar ein Fluss mit vielen Gesichtern. Mal heißt sie Bergstrom, mal Breitstrom, dann wieder wirft sie alles Stromartige von sich und teilt sich in die Wilde und die Schmale Gera.
Häuser über dem Fluss: Erfurts Ponte Vecchio
Im Stadtbild ist der Fluss nicht zu verfehlen: Die Bäume an seinen Ufern verraten ihn, und weil er mitten durch das historische Zentrum fließt, muss jeder Spaziergänger ihn irgendwann einmal überqueren. Die meisten tun das an der Krämerbrücke, die gar nicht aussieht wie eine Brücke. Da, wo eigentlich die Geländer sein sollten, stehen lauter Läden und Wohnhäuser.
Erfurt ist zu Recht stolz auf die „einzige bewohnte Brücke nördlich der Alpen“. Sie ist zwar etwas niedriger als ihr berühmtes Pendant, der Ponte Vecchio in Florenz, aber das Prinzip ist dasselbe: eine Brücke als Straßenzeile. Und wie in Florenz waren es mittelalterliche Händler, die auf diese Weise jeden Quadratmeter nutzten. Wichtigstes Erfurter Handelsgut war damals Waid, eine Pflanze, die in der Textilindustrie begehrt war, weil sich aus ihr vergleichsweise günstig blaue Farbe gewinnen ließ. In den hohen Dachböden der örtlichen Kaufmannshäuser lagerten große Mengen davon. Über zwei Fernstraßen, die sich in Erfurt kreuzten, fand die Ware ihren Weg nach ganz Europa.
Der Waidhandel spülte viel Geld in die Börsen der Stadt – so viel, dass sich die Erfurter zum Lob Gottes und der eigenen Herrlichkeit ein einzigartiges Kirchenensemble leisteten. Wie zwei große, ruhende Tiere hocken Mariendom und St. Severi-Kirche nebeneinander auf einem Ausläufer des Petersberges. Gemeinsam wachen sie über den riesigen Domplatz, einen der größten Stadtplätze Mitteleuropas.
„Thüringer Weihrauch“ und Klöße
Jeder Tag ist hier Markttag, und durch die Blumen- und Gemüseläden wabert der verheißungsvolle „Thüringer Weihrauch“. Den verströmen die berühmten Rostbratwürste, die zu Erfurt gehören wie Goethe zu Weimar. Wer mehr Hunger hat, bestellt Schweinekammscheiben alias „Rostbrätel“, vor dem Grillen traditionell in Biersauce mariniert. Allerdings: „Mit Bier, das macht man heute nur noch zu Hause“, entschuldigt sich Ilona Weiß und wendet die knackigen Würste ihrer mobilen Grillstation. Im Verkauf wird das Bier weggelassen, „aus hygienischen Gründen, und weil es nicht so gut läuft.“ Also: Rostbrätel alkoholfrei.
Die Thüringer essen gerne deftig. Das hat schon Martin Luther geschätzt, der Erfurt mit einer „Schmergrube“ verglich und damit die Vorliebe der Einheimischen für kalorienreiche Kost auf den Punkt brachte. Was Luther noch nicht kannte, aber sicherlich gemocht hätte, ist der Thüringer Kloß, der sich heute auf jeder Speisekarte findet. Das Mischungsverhältnis – zwei Drittel rohe und ein Drittel gekochte Kartoffeln – unterscheidet ihn von seinem bayerischen Artgenossen und erst recht vom Knödel, in dem keine einzige rohe Kartoffel steckt.
Das älteste Reinheitsgebot Deutschlands
„Der Kloß muss schwimmen“, stellt Ralf Schäddrich aus dem Erfurter Ratskeller mit lutherischer Treffsicherheit fest. Der knappe Satz des Küchenmeisters meint nicht nur die obligatorische Soße, sondern auch Bier. Die Stadt – wie übrigens die gesamte Region – blickt auf eine jahrhundertealte Biertradition zurück. Im thüringischen Weißensee haben Archivare sogar das älteste erhaltene Reinheitsgebot Deutschlands ausgegraben, älter noch als die berühmten bayerischen Bestimmungen dieser Art. In Erfurt selbst ging die Zahl der Bierbrauer in die Hunderte. „Bierausrufer“ verkündeten den Einwohnern der Stadt, wo es gerade frisches Bier gab. Neuerdings lebt diese Tradition wieder auf – der Tourismus macht’s möglich.
Überhaupt unternehmen die Erfurter viel, um ihren Besuchern etwas zu bieten. Der mittelalterliche Stadtkern ist umfassend restauriert. Dasselbe gilt für die Zitadelle auf dem Petersberg, die einzige weitgehend erhaltene barocke Stadtfestung Mitteleuropas. Sie bietet den besten Blick über die Erfurter Altstadt. Am Horizont sind die Hügel des Thüringer Burgenlandes zu sehen. Irgendwo dahinten liegt Weimar. Na und?
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Auf einen Blick
„Erfurt liegt am besten Ort“, befand Luther kategorisch, „da muss eine Stadt stehen.“ Das können die Erfurter nur unterschreiben. Besucher empfangen sie mit einer ausgedehnten Altstadt, Brückenarchitektur à la Florenz und einem der größten Stadtplätze Mitteleuropas. All das ist so sorgfältig restauriert, als wäre das Mittelalter gerade erst vorbei. Das Tüpfelchen auf dem i: Die ebenso deftige wie schmackhafte Thüringer Küche mit Rostbratwurst, Klößen und selbstgebrautem Bier.