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Florentin_Streetart_041
Florentin_Streetart_041

Florentin das Streetart Mekka von Tel Aviv

Tel Aviv und Mekka. Ok, ein gewagtes Wortspiel, passt nur suboptimal zusammen. Aber der populäre Stadtteil Florentin in Tel Aviv ist tatsächlich ein absoluter Streetart-Hotspot. Auf Foto-Tour durch Florentin begegne ich Adi Sened, einem echten Streetart-Veteran. Eine richtig tolle Überraschung!
Inhalt

Florentin, das coole Viertel von Tel Aviv

In Florentin, diesem coolen Stadtteil von Tel Aviv, leben die Wände. Sie sind bevölkert von fantastischen Wesen. Sie erzählen skurrile Geschichten. Vorvorgestern war Florentin ein einfaches Arbeiterviertel zwischen Jaffa und Tel Aviv mit Industrie und Gewerbe.

Heute ist Florentin wegen seiner zentralen Lage völlig hipp. Ein Hotspot der Gentrifizierung in Tel Aviv. Florentin ist mitten im Umbruch. Die schicken Straßen-Cafés, die coolen Bars, die trendingen Designerläden sind schon da. Aber noch gibt es in Florentin verwegene, charmante Ecken. Noch welken einige Straßen romantisch vor sich hin. Ranzige Hausfassaden bieten optimale Malgründe für Streetart.

Straßenszene in Florentin. Ein parkendes Auto ist ganz und gar mit Kisten und Kartons zugepackt
Manchmal ist das bunte Treiben auf den Straßen interessanter als Streetart

Verlotterte Nische. Vernagelte Fenster. Verrosteten Rollläden. Alles Leinwände und Projektionsflächen für die poetische, die politische oder die aggressive Fantasie von Streetart-Künstler. Sie pinseln und sprühen meistens nachts und häufig inkognito ihre Werke an die Hauswände in Florentin. Die Nachtaktivität leuchtet ein, denn das Bemalen von Hauswänden ist in Tel Aviv natürlich streng verboten. Nur interessiert dieses Verbot noch nicht einmal die Polizei.

Streetart-Künstler in in diesem Viertel ausfindig zu machen, wäre kinderleicht. Die Streetart in Florentin ist ein richtiges Business und ein Top-Tourismus-Magnet. Auf Stadtführungen durch das Stadtviertel werden die öffentlichen Kunstwerke tiefgründig entschlüsselt und erklärt. Streetart-Künstler präsentieren sich auf YouTube, auf Facebook und auf Flickr. Sie betreiben Webseiten mit Online-Shops, in denen sie ihre Bilder, Gedichte, Schlüsselanhänger anbieten. Manche geben Bücher und Postkarten heraus. Das Tel Aviv Art Museum hat Ausstellungen für Streetart in Tel Aviv kuratiert. Auch in Berlin waren schon Kunstwerke von den Straßen Florentins in Ausstellungen zu sehen.

Dekoration eines Ladens in Florentin.
Die Läden in diesem Viertel Tel Avivs konkurrieren um originelle Hingucker. Hier ist die ordentliche Reihe Trumpf …
Eingang in einen Spielzeugladen in Florentin Tel Aviv.
… in dieser Dekoration überwiegt eher Symetrie und harmonisches Gleichmaß

Keine Leinwand ist so sexy wie eine leere Hauswand

Streetart, die Kunst der Unangepassten ist im Mainstream angekommen. Vielleicht ist das Anarchische und lustvoll Verbotene der Streetart so etwas wie moderne Folklore, die es in jedem Global Village geben muss. Also auch in Florentin. Der subversive Lack ist ab. Ich kann mich trotzdem für Streetart begeistern. Ich schlappe gerne durch die gut bestückte Straßengalerie von Florentin. Ich schau mich um. Ich mache Fotos.

Streetart in Tel Aviv legt eine vibrierende Schicht von Denkanstößen, pointierten Kommentaren, kritischen Meinungen, Protesten oder Poesie über die ganze Stadt. Manchmal banal. Häufig unterhaltsam und nachdenklich.

Streetart in Forentin. Auf einer rosa Hauswand ist ein Tiger gemalt.
Ein Alptraum auf Rosa

Da wo der visuelle öffentliche Raum regulär nur von Verkehrszeichen, Firmenlogos, Werbung, Leuchtreklame und Kaffeehaustischen beansprucht werden darf, behauptet Streetart den öffentliche Raum als Allgemeinbesitz. Gegen die visuelle Verschmutzung des Stadtraums mit Regelvorschriften, Konsumaufforderungen und Markenbotschaften setzt Streetart vergnügliches Kritzelkrackel und verträumte Malerei. Ich finds gut, denn so sieht für mich ein kleine Portion Freiheit aus.

Keine Leinwand ist so sexy wie eine leere Hauswand! Deswegen gibt es Street Art überall in Tel Aviv. Aber nur in Florentin gibt es so viele unterschiedliche Künstler und Künstlerinnen auf engstem Raum. Florentin ist ein richtiges Battle Field um Haltungen, Styles und Platz. Die prominentesten Wände sind natürlich schon besetzt. Deswegen wird übermalt, ergänzt oder verändert.

Piktogramme gemalt an einer Hausecke in Florentin.
Schwarz/weiße Fleißarbeit an einer Straßenecke in Florentin

Ein Streetart-Künstler aus Florentin stellt sich vor

Ich bin an einer Straßenecke in meine Betrachtungen versunken, da höre ich ein beschwingtes Pfeifen in der Ferne, das blöderweise näher kommt. Ich möchte lieber ungestört alleine bleiben.

Ein schmaler Mann mit Bart und Hut und Sonnenbrille schlendert pfeifend von rechts heran. Sein Outfit warnt mich. Sieht ein bisschen prekär aus. Werde ich jetzt angeschnorrt? Er bleibt neben mir stehen. Er schaut sich an, was ich fotografiere und fragt:

“Do you like street art?”
Ich sage: “Yes”.

So richtig weiß ich nicht, was ich von dieser Begegnung halten soll. Deswegen bin ich erst mal neutral distanziert, kühl reserviert und kurz angebunden.

“I do this stuff”

Sagt er und zeigt auf eine kleine lustige Figur. Ein blondes Mädchen mit violettem Hut und einem Gesicht regelmäßig wie ein Quadrat.

Mir sind diese kleinen reizenden Figuren in Tel Aviv an vielen Stellen aufgefallen. Ich mag diese niedliche Piraten, einäugigen Weihnachtsmänner, kleine Drachen und primitive Neandertaler. Alle mit quadratischem Gesicht. Stencils in vielen bunten Farben, eingefasst mit einer schwarzen Zeichnung. Widerborstig und fast anarchisch ist immer ausdrücklich der Geschlechter-Unterschied betont. Daneben eine Signatur: “Sened”. Dieser Mann in meinem Alter ist also Sened. Eine lebende Legende sozusagen. Die meisten hier kennen ihn. Denn Sened fing schon im Jahr 2000 an als Urban-Artist das Stadtviertel Florentin aufzuhübschen. Ein echter Streetart-Veteran.

Die Essenz der Stadt

Es ist natürlich immer interessant, einem Streetart-Künstler in die Arme zu laufen. “Bingo!” denke ich. Mister Sened hat bestimmt Antworten auf alle meine Fragen zum Thema Streetart in Tel Aviv und besonders in Florentin. Allerdings kann es auch ein bisschen heikel sein, einem wahren Künstler zu begegnen. Eventuell erwartet der Künstler eine intelligente oder lobende Meinung zu seinem Werk. Und mehr als “beautiful” oder “cute” fällt mir in solchen Situationen meist nicht ein. Aber Sened macht es einfach und unkompliziert. Er sagt:

“I am Adi. Would you like some coffee? I live over there.”

Er zeigt Richtung Eckhaus. Jetzt verstehe ich, warum Adi Sened so direkt auf mich zugekommen ist. Er hat mein Treiben von einem Fenster oder von der Terrasse aus beobachtet. Merkwürdig, denke ich. Aber ich bin zu neugierig, um über Adis Motive nachzudenken . Adi bleibt an einem Verteilerkasten an der Straßenecke stehen und sagt:

“Look, this is my best idea, I call them cut outs!”

Er streichelt über eine verblasste gestrichelte Linie auf dem Kasten.

“You understand?”

Actually I don’t. Im Verlauf des Nachmittages, den ich zusammen mit Adi verbringe, wird mir klar, dass ihm der ganze Hype rund um Streetart in Florentin ziemlich auf die Nüsse geht. Die unzähligen Bilder an den Wänden, die versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen, sind ihm einfach zu viel. Dann lieber etwas leere Wand, gerahmt von einer gestrichelten Linie. Das ist seine Art die Essenz des Stadtraum zu kondensieren.

Stromkasten in Florentin mit einer gestrichelten Linien gemalt mit einem Marker.
Stromkasten in Florentin mit einer gestrichelten Linien, einem Cut Out von Adi Sened

Katz und Maus mit Adi Sened

Adi will keine meiner Fragen zum Thema Streetart beantworten. Er windet sich immer wieder heraus. Er will keine Informationen rausrücken und kein Statement abgeben. Tatsächlich hat Adi schon mit vielen Journalisten oder Bloggern Interviews geführt. Unzählige Megabits Informationen über ihn fluten das Netz. Auf Flickr kuratiert Adi Shots aus seinem Leben.

Heute will Adi einfach nur mit einem Foreigner ein bisschen Kaffee trinken, chillen und auf seiner tollen Dachterrasse rumhängen. Da mach ich gerne mit. Der Kaffee ist ok. Adi ist ein bisschen überdreht. Er nennt mich: “My dear Adolf”. Komischer Humor, denke ich. Am nächsten Tag schickt er mir eine Whatsapp: “Got a letter from your lawyer … don’t call anyone by the name adolf, sorry …” . Da verdunkelt der trübe Schatten der Shoa einen strahlend, lauen Nachmittag. Adi zeigt mir unzählige Skizzen, Bilder und Skulpturen. Wir fotografieren uns mit einer stilisierten Dornenkrone auf dem Kopf. So plätschert die Zeit in Florentin dahin.

Auf der Wand in Adi Seneds Atelier sind viele kleine Bilder und Skizzen aufgehängt.
Wand in Adi Seneds Atelier-Wohnung. Überall Kufsonims
Hauswand in Florentin vom Streetart-Künstler Dede mit großen Luftballons bemalt.
Luftballons von Dede. Verschiedene Malschichten. Streetart ist vergänglich und temporär

Streetart Ethik in Florentin

Über eine Sache kann sich Adi so richtig ärgern. Sein Ärger gewährt einen klitzekleinen Einblick in die winzige Szene der Streetart-Künstler von Tel Aviv. Sie kennen sich alle untereinander und sind ganz dicke. Bei so viele Nähe entsteht auch Reibung und Konkurrenz. Dede, der Tausendsassa und weltberühmte Großkünstler unter den Streetart-Künstler von Florentin, hat Adi die Cut Outs ausgespannt und sie als dekorative Pflaster an Wände überall in Tel Aviv geklebt. Adi findet, das gehört sich nicht! Ich denke, ist doch toll, wenn sich Motive und Ideen weiterentwickeln.

Ziemlich lustig, wie eines der großen Motive der Kunst des 20. Jahrhunderts, der Künstlers als Heiler und Schamanen, in den Pflastern von Dede wieder auftaucht. Allerdings ist der mythische Schamane auf eine profane Krankenschwester geschrumpft, die Nachts durch Tel Aviv eilt und Pflaster malt.

Große Pflaster vom Streetart-Künstler Dede auf einer Wand gemalt.
Dedes Pflaster als Ornament gibt es an vielen Wänden in Tel Aviv

Adi mag diese großen Gesten nicht. Er ist für die kleine Form. Seine Cut Outs sind so zurückhaltend, die fallen kaum auf. Seine zauberhaften, quadratischen Figuren passen tatsächlich überall hin. Er nennt sie Kufsonim. Diese Kufsonim sollen in homöopathischen Dosen Poesie und Spaß über ganz Florentin verteilen. Eine Vermehrung von Poesie, Spaß und Schönheit mitten in der Stadt sind für Adi Sened die einzige Berechtigung Bilder an Hauswände in Florentin und Tel Aviv zu sprühen. Eine Stadt wird dadurch reicher. Das Leben lebenswert. Schönheit und Aufmerksamkeit entsteht. Eine freundliche Ästhetik, die Adi Sened da vertritt.

Auf dem Schacht eines Treppenhauses hat der Streetart-Künstler Klone zwei traurige Köpfe gemalt.
Hoch oben über Florentin. Klones trauige Köpfe schauen über Tel Aviv
Der Streetart-Künstler Zero Cents malt in Schwarz / Weiß. Er kombiniert Schrift mit verwaschenen Geistern.
Totentanz oder Geisterbeschwörung? Zero Cents “Verschwendete Jugend“

Am Ende meines Besuchs erklärt mir Adi dann doch noch etwas Streetart in Florentin. Wir stehen auf seiner Dachterrasse. Über uns schweben einige Köpfe von Clone. Unter uns hat Zero Cents eine Art Totentanz auf die verschwendete Jugend gesprüht. Auf einem Dach in einen kleinen Gewerbe-Hinterhof hat Dioz einen besoffenen Nikolaus gemalt. Ein echter Kinderschreck! Der Nikolaus wirkt so zerschossen, er sollte dringend eine Sitzung der anonymen Alkoholiker besuchen. Dann ist es auch schon Zeit zu gehen. Das war ein interessanter Nachmittag. Morgen werden wir uns wieder sehen.

Wenn Du mehr über Reisen nach Tel Aviv oder Israel erfahren möchtest, dann ließ diese Artikel auf sirenen & heuler:

Streetart in Florentin, ein betrunkener Nikolaus gemalt von Dioaz.
Der besoffene Nikolaus von Dioz

PS.:

Dioz hat die Entstehung des Nikolaus im folgenden YouTube Video dokumentiert. Der Streetart-Künstler Dioz, versteckt hinter einer Schweinemaske, erzählt auch etwas über sich.

In Tel Aviv lässt sich natürlich noch viel mehr unternehmen, als Streetart aufzuspüren. In Tel Aviv: Hotspot der Lässigkeit verraten Gabriele und Michael super Tipps, mit denen Deine Städtereise nach Tel Aviv ein spannendes Vergnügen wird.