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Wie Musiker reisen & was sie lesen

Lesen und Musizieren – beides versetzt uns in Schwingungen und inspiriert uns. Wie Musiker reisen? Die gelernte Verlagskauffrau, Buchhändlerin und Berufsmusikerin Kerstin Kaernbach ist in vielen literarischen, musikalischen Welten zuhause. In diesem Beitrag erzählt sie von ihren Lieblingsorten und Lieblingsbüchern.
Inhalt

Du bist ca. 200 Tage im Jahr unterwegs. Wie kommt’s?

Das Thema Reisen ist bei mir als Musikerin ja auch beruflich begründet. Mit den 17 Hippies habe ich allein 2009 150 Konzerte weltweit gespielt. Unterwegs war ich dann wahrscheinlich 220 Tage. Da war das Limit auch fast erreicht, sodass wir beschlossen ein bisschen weniger zu spielen, um Energie und Freude nicht zu gefährden.

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Das Tour-Reisen ist ja auch sehr anstrengend, weil man nicht nur abends auf der Bühne stehst und gut gelaunt performen will, sondern auch unzählige Stunden auf Flughäfen abhängt, wenig schläft und Jetlag hat. Doch immerhin war ich so in Deutschland und weltweit inzwischen fast überall. Von Bielefeld und Idar-Oberstein bis in die USA, Algerien, Jordanien, Mexiko, nach New Plymouth und Taranaki in Neuseeland und Shenyang in China. Da sich meine gesamte (!) Fotobibliothek zerlegt hat und die Dateien unauffindbar sind, verweise ich hier auf die Fotogalerie auf der Seite der Hippies.

Oh je. Das kenne ich. Hoffentlich findest du sie doch noch wieder. Jetzt hast Du ja gesagt, dass touren sehr anstrengend ist. Neben den ständigen Ortswechseln verbringst du viel Zeit in Warteschleifen, Bussen oder an Flughäfen. Dieses Geparktsein an Nicht-Orten oder Übergangsorten ist ja ein merkwürdiger Zustand. Womit vertreibst Du Dir die Zeit, wohin flüchtest du dich?

Bücher! Ich habe einen Ebook-Reader. Da sind ungefähr 400-500 Bücher drauf gespeichert, sodass ich meine ganze Reiselektüre auf 180 g komprimiert habe. Unter anderem habe ich hier auch viele elektronische Leseexemplare der Verlage drauf, die mit ihren gedruckten Büchern verständlicherweise auch haushalten müssen und sich über jeden Buchhändler freuen, der elektronische Kopien anfordert.

Du hast mir selbst schon tolle (Reise)Lektüre geschenkt, bibliophile Schmuckstücke, ungewöhnliche Editionen. Der Umgang mit dem Ebook ist vom Haptischen her ja ein eher mageres Vergnügen.

Ja, der Ebook-Reader hat für mich rein praktische Gründe. Wenn man es schafft, in die Geschichte hineingesogen zu werden, dann vergisst man im besten Fall auch irgendwann das (Träger)Medium. Ich hatte ja nun auch viel Zeit mit diesem Instrument zu üben. Mich erinnert das unterschiedliche Erleben ein wenig an den Kinobesuch und das Anschauen einer VHS-Kassette. Klar ist und bleibt der Kinobesuch das stärkste und vor allem sinnlichste Erlebnis. Wenn ich einen Film jedoch vom Plot oder von den Schauspielern her großartig genug finde, ertrage ich auch eine VHS.

Für Dich ist die Hürde Ebook also noch einmal ein Qualitätsindex?

Genau, digital habe ich viel weniger Geduld mit Büchern, die mich nicht richtig überzeugen.

Was ist Dein Lieblings(Reisebuch) bisher?

Das letzte tolle Buch, das ich gelesen habe, ist von Tom Cooper. Es heißt Das zerstörte Leben des Wes Trench und ist ein Abenteuerroman. Ein Südstaatenroman, der in Louisiana spielt, nachdem Katrina das Land verwüstet und fünf Jahre später auch Deep Water Horizon das Meer und die Sümpfe verpestet hat. Was mich an der Lektüre besonders fesselt, ist, dass die Auswirkungen der ungeheuerlichen Umweltkatastrophe auf das Leben der Menschen anhand verschiedener merkwürdiger Protagonisten erzählt wird. Ich war selbst schon dreimal dort. Das letzte Mal vor vier Jahren, das war auch schon nach Katrina. Man hat die Zerstörung und die Auswirkungen deutlich gesehen.

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Tom Cooper, Das zerstörte Leben des Wes Trench, 2016 Ullstein Verlag ISBN 978-3-550-08096-8, 384 Seiten, 22 Euro

Wir waren in New Orleans, da waren ganze Stadtviertel nicht mehr existent. Durch die typische Holzbauweise ist ein Großteil der Gebäude natürlich noch anfälliger und verletzlicher. Das Holz verfault, die Wassermassen haben die Gärten in Mitleidenschaft gezogen, das ganze Schwemmgut und Müll hing in Zäunen, Bäumen und Ästen. Das historische Zentrum haben sie damals schnell wieder aufgebaut. Weil das ein touristischer Hotspot ist. Aber die ganzen Wohngebiete der Leute, gerade zwischen Flughafen und Ausfallstraßen, sahen sehr mitgenommen aus.

Viele Leute sind damals obdachlos geworden und in irgendwelche Trailerparks am Rande irgendwelcher Käffer abgeschoben worden. Die zerstörten Häuser der ehemaligen Bewohner wurden in vielen Fällen gar nicht mehr instand gesetzt. Die ganze leeren Häuser, ihre offenen Türen und windschief in den Angeln hängenden Fensterläden, das alles sah schon sehr unheimlich aus.

Dennoch fühle ich mich zu der Gegend, zu Louisiana, zeitlos hingezogen. Finde das Land an sich wunderschön. So schön, dass ich sogar schon einmal privat dort war, nicht nur weil wir dort Konzerte gespielt haben. Nicht zuletzt kommt meine Lieblingsmusik da her. Cajun, die Musik der französischen Einwanderer und Zydeco, die afroamerikanische Variante.

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La Danse de Mardi Gras – Nathan Abshire mit den Balfa Brothers

Wirst Du in absehbarer Zeit wieder nach New Orleans fahren? Hast Du Freunde vor Ort, die Dich auf dem Laufenden halten darüber, wie sich die Gegend entwickelt?

Ein Freund von mir stammt aus Breaux Bridge. Er heisst auch mit Nachnamen Breaux und lebt in Austin, Texas. Mit ihm und seinem besten Freund Ron sind wir ein paar mal nach Louisiana gefahren, um die Bands in den Dancehalls spielen zu hören. Die beiden sind auch saugute Tänzer, was in Louisana eigentlich ein absolutes Muss ist!

Zurück zur (Reise)Lektüre. Was liest Du aktuell?

Gerade habe ich ein ganz tolles Buch entdeckt. Es heißt 69 Hotelzimmer. Geschrieben hat es der österreichische Dokumentarfilmer Michael Glawogger.

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Die andere Bibliothek, 2015, 408 Seiten Papierbezug mit fluoreszierender Farbe. Der Buchrücken leuchtet im Dunkeln, Fadenheftung und Lesebändchen. ISBN: 9783847720102, 24 Euro

Leider ist er während der Dreharbeiten zu seinem letzten Film in Nigeria gestorben. Diese Sammlung von Reisegeschichten und kleinen Episoden ist ein tolles Vermächtnis. Denn auch das Buch ist sehr dokumentarisch. Es besteht aus 69 Geschichten, von denen jede einzelne in einem Hotelzimmer anfängt und manchmal auch endet. Diese absonderlichen Episoden spielen in kleinen, grossen, modernen oder total heruntergekommenen Hotels. Es liest sich, als würde er die Kamera die ganze Zeit dabei haben, er erzählt sehr visuell.

Gibt’s das auch als Ebook?

Das würde in dem Fall nicht wirklich funktionieren. Das Buch ist wunderschön gestaltet. Es ist Teil der „Anderen Bibliothek“ von Enzensberger und macht haptisch und optisch Spaß. Die Kapitelanfänge starten mit orangener Schrift, die langsam dunkler wird und deren Verlauf langsam ins Schwarze zieht. Und wenn es dunkel wird fängt der Schriftzug auf dem Buchrücken an zu leuchten…

Dann liegt hier noch ein weiteres Buch aus der Anderen Bibliothek, auf das ich schon sehr gespannt bin: Die Reisen eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwig des XIV. Es erzählt die Reise eines jungen Syrers von Aleppo nach Paris. Der Clou, das ganze spielt vor über 300 Jahren.

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Hanna Diyab, Von Aleppo nach Paris. Originalausgabe, nummeriert und limitiert. Buchgestalterin: Paulina Pysz. Mit 13 Abbildungen und einer Landkarte. Bezug und Vorsatzpapier mit einem von der islamischen Ornamentik beeinflussten geometrischen Muster. Fein gelbleuchtender Bundsteg, Fadenheftung, Lesebändchen. ISBN: 9783847703785, 42 Euro

Wenn Du Dich für eines Deiner bisherigen Reiseländer entscheiden dürftest, wo würde es Dich hinziehen? wo könntest Du dir vorstellen, auch zu leben?

Das wären dann wahrscheinlich doch die USA! Schon allein wegen der Musik, wegen der Größenverhältnisse. Dieses On-the-Road-sein-Gefühl, das habe ich in anderen Ländern so bisher noch nicht gehabt. Diese endlose Fahrten durch unterschiedliche Landschaften. Kilometer fressen durch Sand- und Salzwüsten und Gebirge, die Niagarafälle und die tropischen Klimazonen bis hin zum Pazifik mit seinen Seelöwen. Das fasziniert mich nachhaltig.

Trotz der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen? Du bleibst bei den USA?

(lacht) Wieso nicht? Wenn wirklich so viele Amis nach Europa ins Exil kommen wie es jetzt vollmundig ankündigen, halte ich die Stellung und hoffe, ich kann den ganzen Tag ungestört Musik hören und machen. Im Ernst. Das Land kann im Zweifelsfalle nichts dafür. Und noch hoffen wir sicher alle, dass die Geschichte nicht ganz so schlimm ausgeht.

Welches Reiseland war dein bisheriges Highlight und wieso?

Wenn es um einzigartige Erlebnisse geht, eigentlich Jordanien und Israel. Der Aufenthalt in Amman und Petra und der in Tel Aviv. Das war beides die gleiche Reise.

Wir waren erst in Israel und haben da mit der Band Boom Pam mehrere Konzerte gespielt, später sind sie dann auch zu uns nach Berlin gekommen. Die Energie in Tel Aviv ist besonders. Das Leben schon eine Art Tanz auf dem Vulkan, das ist der Stadt anzumerken. Gerade bei den Jugendlichen meine ich diese permanente innere Spannung gespürt zu haben. Von da aus sind wir nach Amman und Petra gefahren, die Felsenstadt ist ein unfassbares archäologisches Erlebnis, da waren wir 5-6 Tage, das ist für unsere Verhältnisse schon ziemlich lang.

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Video: 17 Hippies weltweit – gefilmt in Australien, Adelaide; China, Shenyang; Algerien, Algiers; Deutschland, Konstanz; Frankreich, Luxey; Jordanien, Amman.

Auch Neuseeland war sehr beeindruckend für mich. In Taranaki, einer Region im Westen der Nordinsel Neuseelands, die von einem über 2.500 Meter hohen Vulkan, dem Mount Taranaki dominiert wird, wurden alle Musiker des Womad Festivals von den Maori in einer langen traditionellen Zeremonie begrüßt. Der Haka, ein ritueller Tanz der Maori und auch die Art, in einem Erdloch mit der Glut zu kochen (Hāngi), haben mich sehr bewegt.

Auf andere Art besonders war die Solarboottour, die ich 2015 mit Lüül & Band gemacht habe. Das war total entschleunigt, unsere Reisegeschwindigkeit betrug im Schnitt 10 km/h. Da sind wir zehn Tage auf einem Solarboot die Havel entlang geschippert, haben jeden Abend an einem anderen Ort angelegt und dort Konzerte gegeben. Davon gibt es sogar noch ein Foto (s. Titel).

Auf Sirenen & Heuler erzählen wir ja auch, ganz subjektiv, von unserer Faszination für einzelne Destinationen und bewegenden Begegnungen. Wie klingt der Name für dich?

Ich persönlich finde den Namen wirklich großartig. Als Musikerin und natürlich als singende Säge Spielerin hatte ich sofort die Sirenen mit ihren Gesängen im Ohr. Wie sie die Seefahrer verführen. Auch das lautmalerische des Wortpaares, Feuerwehr- oder Polizeisirenen machen ja auch heulende Geräusche, gefällt mir gut. Klänge sind halt nicht immer nur harmonisch. Aber, und da wird der Name wieder richtig süß, natürlich denke ich bei Heulern auch an Robbenbabies.

Liebe Kerstin, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast und für die schönen Lektüretipps.

Musiker reisen und lesen mit: Kerstin Kaernbach

ist seit 1985 in Berlin und spielt seit 2002 bei den 17 Hippies, zieht mit Lüül&Band um die Häuser und kann, da mit einem fantastischen Gehör und großer Gelassenheit ausgestattet, nicht nur Theremin und Singende Sägen bändigen, sondern in nahezu jeder Konstellation auftreten, wenn es sein muss, auch ohne vorherige Probe.

Mit Elfe, Anet und Anja führt Kerstin die Buchhandlung paul+paula im Victoriakiez in F’Hain/Lichtenberg, denn Bücher bedeuten ihr, neben der Musik und dem damit in Zusammenhang stehenden Reisen, die Welt.

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