Mit dem Zug nach Lüttich
Der Zug fährt pünktlich in Köln ab. Der junge Mann, der uns gegenüber sitzt, hat offenbar anderes erwartet. Er wird am Bahnhof abgeholt, erzählt er uns freimütig, und soll unbedingt gleich Bescheid sagen, wenn er Verspätung hat. „Ich genieße sonst den Luxus eines Autos“, sagt er etwas gestelzt. Schon an der nächsten Station steigt er aus, in Aachen. Viel Aufhebens um eine halbe Stunde Fahrt, denken wir verdutzt.
Nach einer weiteren halben Stunde sind auch wir schon am Ziel: Lüttich bzw. Liège. Ist das überhaupt eine richtige Reise? Jedenfalls keine lange, was sehr angenehm ist. Trotzdem hat sich einiges verändert: die Sprache, das Essen, die Atmosphäre… Nur das Wetter ist gleich: nicht warm und nicht kalt, wie oft im März, wenn der Frühling auf sich warten lässt. Am Himmel ziehen Wolken.
Wir registrieren das nur am Rande, weil wir abgelenkt sind. Und hier kommt schon der erste unserer Lüttich-Tipps: Wer mit dem Zug nach Lüttich reist, beginnt den Stadtrundgang gleich mit einem Paukenschlag.
Lüttich-Tipp 1: Ein Bahnhof wie ein UFO
Kein Gebäude in Lüttich hat diese Präsenz – nicht die Fassaden im Jugendstil, nicht die Paläste der Altstadt, nicht einmal der überwältigende Innenraum der Oper. Dieser Bahnhof von Stararchitekt Santiago Calatrava, 2009 nach über zehn Jahren Bauzeit fertiggestellt, hockt im Viertel Guillemins wie ein Raumschiff, das gerade aus einer fernen Galaxis hier gelandet ist. Weiß, gläsern, luftig, scheinbar schwerelos, ohne Ecken und Kanten ist er das genaue Gegenteil vom Rest der Stadt.
Woher die Stadtverwaltung das Geld und den Mut genommen hat, um diesen Wunderbau zu verwirklichen, wissen vermutlich nicht mal die Lütticher selbst. Aber sie kommen gern hierher, besonders sonntags, wenn Lüttich jenseits des berühmten Marché de la Batte in Lethargie verfällt. Dann sind die Cafés im Erdgeschoss des Bahnhofs gut gefüllt, und auch auf dem Vorplatz stehen vereinzelt Gruppen, während der träge Nachmittag wie in Zeitlupe vergeht.
Doch so schön der Bahnhof ist, so wenig passt er in seine Umgebung. Vor der breiten Freitreppe ist der Boden noch sorgfältig gepflastert und symmetrisch angeordnete Beete und Rasenflächen gliedern den öffentlichen Raum. Und was kommt dann? Ein umzäunter Parkplatz, noch ein umzäunter Parkplatz, dahinter eine große, ungenutzte Freifläche, flankiert von einer Reihe niedriger Häuser und gefolgt von einer Baustelle. Und dann kommt der 118 Meter hohe Paradis-Turm. Der ist eigentlich ein Bankenturm in der üblichen Glas-Betonbauweise und verdankt seinen poetischen Namen einer Kapelle, die vorher hier stand. Fazit: Seit 2009 gibt es kein Konzept, wie sich der Bahnhof ins übrige Stadtbild fügen soll.
Das ist typisch für Lüttich, wie wir bei unserem Stadtrundgang rasch feststellen. Immerhin ist die Altstadt so weit vom Bahnhof entfernt, dass der Kontrast nicht ins Gewicht fällt. Umso größer ist der Gegensatz zu den kleinstädtisch wirkenden Straßenzügen gleich nebenan. Hier stehen zugleich einige herausragende Beispiele für den Lütticher Jugendstil, die mit Calatravas Architektur in etwa so viel zu tun haben wie ein Kolibri mit einem Schwan. Damit sind wir bei Teil 2 unserer Lüttich-Tipps.
Lüttich-Tipp 2: Jugendstil dank Kohle und Stahl
Das Industriezeitalter des europäischen Kontinents beginnt in Belgien. Lüttich spielt dabei ganz vorne mit. 1720 geht in der Umgebung die erste Dampfmaschine des europäischen Kontinents in Betrieb – als Pumpenantrieb zur Entwässerung einer Zeche. Für weitere kontinentaleuropäische Premieren sorgt die Dynastie des englischen Maschinenbauers William Cockerill. 1800 konstruiert er in der Nachbarstadt Verviers die erste Spinnmaschine, 1807 gründet er eine ganze Fabrik für Textilmaschinen in Lüttich selbst. Aus den Kokshochöfen, die sein Sohn John Cockerill im ehemaligen Palast der Lütticher Fürstbischofe im benachbarten Seraing installiert, entwickelt sich bis 1850 der größte Industriekomplex seiner Art in Europa. Die erste Dampflok, „La Belge“, geht dort auf die Schiene, und auch den Eisenbahnbau treiben die Cockerill-Werke massiv voran.
Die industrielle Vergangenheit prägt das Bild der Stadt bis heute. Lüttich ist eine ehemalige Hochburg der Arbeiterbewegung, gleichzeitig wurde hier viel Geld verdient. Ein Relikt dieses Wohlstands blitzt in den verstreuten Jugendstil-Fassaden auf, die wir bei unserem Stadtrundgang gezielt ansteuern. Viele der Häuser sind dringend renovierungsbedürftig – möglicherweise eine Folge des teuren Bahnhofbaus. Trotzdem zeigen die Fassaden einen Grad von Glamour, der Lüttich heute völlig abgeht.
Andererseits ist dieser Glamour – etwa im Vergleich zu den schwülstigen Exzessen des Jugendstil in Riga – auffällig zurückhaltend. Vielleicht liegt es daran, dass die örtlichen Stahl- und Kohlemagnaten und ihre leitenden Angestellten einen eher nüchternen Geschmack pflegten. Manchmal ist der Jugendstil à la Liège deshalb geradezu spektakulär unspektakulär, was unseren modernen Sehgewohnheiten sehr entgegenkommt. Oft beschränkt sich die Verzierung auf Details im Bereich der Türen und Fenster, Figürliches spielt eine ganz und gar untergeordnete Rolle.
Unser Jugendstil-Stadtrundgang konzentriert sich auf das Viertel zwischen dem Botanischen Garten und der rue des Guillemins gleich nördlich des Bahnhofs. In den 1830er Jahren entstehen hier die ersten repräsentativen, meist klassizistischen Wohnhäuser, der Stadtteil gilt als gutbürgerlich. Um 1900 renovieren die Hausherren ihre Domizile. Sie passen besonders die Fassaden der herrschenden Mode an und integrieren Elemente aus dem Jugendstil, ohne die Hausansicht komplett neu zu gestalten. Ein besonderes Merkmal sind Verzierungen aus Metall – die Stahlstadt Lüttich saß ja an der Quelle. Die Namen der Architekten – Victor Rogister, Paul Jaspar, Clément Pirnay, Arthur Snyers – sind international wenig bekannt, haben jedoch das Erscheinungsbild von Lüttich entscheidend mitgeprägt.
Noch ein Tipp zum Schluss: Ein Hotspot für Jugendstil in Lüttich ist auch der nördliche Teil des Viertels Amercoeur im Umkreis der rue Général de Gaulle am rechten Ufer der Maas. Der Parcours zu den interessanten Häusern ist gut vier Kilometer lang. Der Stadtrundgang, dem wir gefolgt sind, kommt auf knapp drei Kilometer und liegt näher an der Altstadt. Wer also nicht so viel laufen will, ist mit der Jugendstil-Tour im Guillemins-Viertel bestens bedient.
Hier gibt es noch mehr Lesefutter:
- 5 Lüttich-Tipps (Teil 2): Ein Stadtrundgang der Kontraste
- Belgien Reiseberichte
- Jugendstil in Riga – Die Alpträume des Michael Eisenstein
- Glasgow – verliebt in die (un)schottischste Stadt von allen
- Meine Lieblingsfotos aus Australien. Fotoparade 1-2018
- Der große Sprudel. Bäderromantik in Bad Nauheim
- Quartiere Coppedè – Ein Jugendstil Märchen in Rom
- Antwerpen: Innovative Architektur an den Ufern der Schelde
- Rotterdam: Eine Hafenstadt als Labor für Architektur mit Zukunft
Hier geht es zum zweiten Teil der Tipps für einen Lüttich Stadtrundgang. Es geht in die Altstadt rund um die Kathedrale und hoch auf den Zitadellenhügel. Die Frage, was der „Café Liègeois“ mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hat, führt direkt zur deftigen Lütticher Küche und zum Marché de la Batte…