Die Medina von Marrakesch – Ein lautes, buntes Wimmelbild
Was macht jemand wie ich, der so viel mehr am Meer hängt, als an Wüsten- oder Höhenluft, ausgerechnet in Marrakesch? Zum einen folge ich der unwiderstehlichen Einladung einer Reisebekanntschaft aus Neuseeland, sich endlich einmal wiederzusehen. Und wenn dieses Mal schon auf der Nordhalbkugel des Planeten, dann doch gern auch in wärmeren Gefilden als den heimischen. Warum also nicht Marokko? Zum anderen bin ich neugierig. Auf dieses Land, das ich bis dato noch nicht kannte. Und ich bin der Ansicht, auch ein Wasser-, Wind- und Küstenfreund, gehört immer man kurz in gänzlich fremde Elemente und Substanzen getaucht.
Dass diese Stadt nicht nur unfassbar staubig und trocken ist, sondern alles an ihr ständig „kaufen!“ schreit, ist trotz innerer Vorbereitung eine Herausforderung. Shoppen ist für mich kein Freizeitvergnügen, sondern eine Notwendigkeit. Durchbrochen von einigen wenigen Lustkäufen. Ich stehe mehr auf Augenblicke, als auf Dinge. Und wenn denn Ding, dann bitte zum Festpreis. Will sagen, verhandeln tue ich gar nicht gerne. Und wie alle „Individualreisenden“ möchte ich gerne selbst entdecken. Wer schon einmal im Marrakesch war und erlebt hat, wie es dort zugeht, wird nun entweder in Lachen ausbrechen oder mich gar bedauern. „Kauf das!“, „Good price!“, „This way!“, „Come here!“, „Look!“. Aber ich kann euch beruhigen, auch trotz dieser für das aktuelle Setting ungünstigen Grundausstattung finde ich es hier bald genauso toll wie anstrengend.
Nur mal schauen? Bekenntnisse einer Zwangsbeshoppten
Von Stadt-Spaziergang kann man anfangs nur bedingt reden. Am ersten Tag taumeln wir wie besoffen von der Mellah, dem jüdischen Viertel in der Medina, durch die engen, wuseligen Straßen. Lederwaren, Schmuck, hand- und maßgeschneiderte Gewänder, ein nicht enden wollender Strom an Geschäften. Biegen relativ früh schon von der trubeligen Shopping-Meile des Mellah ab, und machen Sightseeing-Pause. Wir besuchen den berühmten Bahia Palast. Auch hier ist es krachvoll. Viele Gruppen sind mit Tourguides unterwegs und ergänzen sprachliche Mosaikbausteine zu unser aller Augenfest. Wir stolpern von einem Innenhof in den nächsten und wissen gar nicht, was wir zuerst bestaunen sollen. Die unzähligen Mosaike oder die wunderschönen, aufwändigst gearbeiteten Holztüren und Holzdecken.
Nach dem Palast-Besuch geht es entlang der Rue Riad Zitoun el Jdid zum berühmt, berüchtigten Djemaa el Fna. Die Überforderung bekommt hier nun einen neuen, viel größeren Raum. Mehr Gesichter, mehr Fülle, einfach mehr von allem. Wir lassen uns treiben und werden getrieben. Landen schließlich mitten in den Souks, dem Gewimmel traditioneller Märkte, von denen an der nordöstlichen Seite des großen Platzes einer in den nächsten übergeht. Wo wir uns genau befinden? Gute Frage! In einem duftenden, stinkenden, lärmenden, schön-schaurigen Labyrinth aus Marktständen und Kaufläden. Nicht konsumieren wollen im Souk ist wie Fasten in einem Bonbonladen. Wenn man vielleicht Hunger auf Käse hätte, und stattdessen überall an einem Zucker klebt. Danke, ist ganz süß, doch ich möchte lieber nicht.
Ich würde zu gerne „einfach nur mal schauen“, mich an der Farbenpracht und dem Stimmengewirr ergötzen. Doch das ist schlicht nicht drin. Marrakesch ist „full on“. Wir Reisende sind hier zu allererst einmal Portemonnaies auf zwei Beinen. Hoffnungsträger, Hass-Liebe-Subjekte, die wirtschaftlich gesehen gleichermaßen herbeigesehnt und gebraucht werden. Wir werden mindestens ebenso häufig skeptisch bis kritisch beäugt wie offen angestrahlt. Verweilt unser Blick eine Millisekunde zu lang auf einem Gegenstand, werden wir angesprochen. Machen wir einander per Fingerzeig auf einen Gegenstand aufmerksam, werden wir angesprochen. Bleiben wir gar kurz stehen, sind wir, ohne es groß mitzukriegen, schon mitten drin in einem Verkaufsgespräch.
Wenn die Gasse gerade einmal breit genug ist, um theoretisch einen Roller hindurch schieben zu können, kann man selbstverständlich auch mit 50-60 km/h hindurch rasen. Dieses Phänomen beschert uns geschätzte zehn Nahtod-Erfahrungen pro Stunde und sehr viel durch „Huch!“s und „Pass auf!“ gekennzeichnetes Gelächter. Dass es hier nicht öfter knallt, grenzt für uns an ein Wunder. Die Erschöpfung am Ende des ersten Tages ist dann grenzenlos. Im Riad angekommen, lassen wir uns erstmal stumm in die Kissen der Sitzecke auf der Dachterrasse sinken. Nach einer Portion Harira, der traditionellen marokkanischen Suppe auf Kichererbsen- und Linsenbasis, einer Tajine und einer Flasche Vin gris, dem von Franzosen hier gekelterten marokkanischen „Grauen Wein“, kommen wir langsam wieder zu uns. Na dann: Willkommen in Marrakesch!
Ankommen im Gewimmel
Schon am zweiten Tag fühlt es sich auch draußen deutlich besser an. Ab dem dritten Tag laufe ich alleine durch die Gassen, als gehörten sie mir. Schäkere mit den Verkäufern, wimmele sie charmant und erfolgreich (!) ab, tänzele zwischen schwer beladenen Muli-Lastenkarren und Motorrollern hindurch und irritiere Einheimische mit meiner vermeintlichen Zielstrebigkeit. Ich verlaufe mich schon immer noch, aber es macht mir nichts mehr aus. Diese Stadt kapieren? Das noch lange nicht. Doch sie schüchtert mich nun nicht mehr ein. Immer öfter finde ich sogar, was ich suche. Zum Beispiel die besten Gewürze und Kräuter der Stadt auf dem Markt in der Mellah. Ras el hanout zum Beispiel, Royal Tea, Marokkanische Curry-Mischung. Meine tollste Entdeckung: eine Mischung aus Kreuzkümmel und Eukalyptus, die sie auf Wunsch in kleine Gaze-Tücher wickeln. Für freie Atemwege – und gegen den Gestank der Marktstände, die sich auf lebende Tiere und toten Fisch spezialisiert haben. Von nun an trifft man mich oft an etwas schnüffelnd an, was wie eine volle Schlumpf-Windel aussieht. Ist mir egal, wie das wohl ausschaut, die Wirkung von dem Zeug ist großartig.
Der Palast El Badi, einstmals ein Schmuckstück, dekoriert mit viel Gold und italienischem Marmor, ist heute eine steinerne Ruine. Wenn auch eine nach wie vor sehr eindrucksvolle. Das Palast-Gelände ist eine Hauptattraktion für die Besucher von Marrakesch. Ferner ist es Wohnort zahlloser Orangenbäume und Störche. Auch The Marrakesh Museum For Photography And Visual Arts wohnt hier, dessen aktuelle Ausstellung uns mit moderner, weltoffener Bildsprache begrüßt. Dass der Badi-Palast dem Bahia-Palast nicht nur namentlich ähnlich ist, sondern sich beide auch noch in Nachbarschaft befinden, führt immer wieder zu Verwirrungen. Bei dem Versuch, ihn direkt zu erreichen haben wir uns natürlich verlaufen. Die Beschilderung bricht unvermittelt ab und der Eingang versteckt sich keck am Ende einer kleinen Seitenstraße. Umgehen lässt sich das Orientierungsproblem zum Beispiel so: Man suche und buche eine Kutsche (das ist leicht), handele einen Preis für mehrere Stationen und Stunden aus (man schicke seinen am sportlichsten verhandelnden Mitreisenden ins Feld) – und los geht die Fahrt. Der Chauffeur wartet dann jeweils vor dem Objekt auf seine Gäste, auch wenn man viel später als ursprünglich vereinbart zum Treffpunkt zurückkehrt (und hier springen wir wieder zu Punkt zwei, denn jetzt wird nachverhandelt).
Marrakesh: Oasen in Indigo und Weingrau
Am nordwestlichen Ende des Djemaa el Fna habe ich eine Oase der Ruhe und des Luxus entdeckt. Les Jardins de la Koutoubia. In diesem Riad mit Hammer-Spa und Wahnsinns-Restaurant möchte ich mal eine Nacht verbringen. Wenn ich eines Tages groß bin – oder reich. Wer genug süßen Pfefferminztee für ein ganzes Leben getrunken hat, kann seine Geschmacksknospen in der wunderbaren Bar des Les Jardins de la Koutoubia auf edelste Weise neutralisieren. Das Angebot ist charmant, der Service und der Pianospieler auch. Von den marokkanischen Weinen in weiß, rosé und grau über Cocktails bis hin zu Single Malt Whiskys gibt es alles, was des Reisenden Herz begehren mag. Natürlich auch Säfte und alkoholfreie Cocktails.
Zu wissen wo eine tolle Bar ist, ist ja nicht verkehrt. Doch das nächste Ziel ist nun der Jardin Majorelle. Ein Kaktusgarten, initiiert von dem Orientalistischen Maler Jacques Majorelle (1886-1962), vergessen und 1980 wiederentdeckt von Pièrre Bergé und Yves Saint Laurent. Die beiden letzteren retteten das Gelände vor dem Zugriff von Immobilien-Investoren und führten es zu altem und neuen Glanz. Als Yves Saint Laurent in 2008 starb, verfügte er, seine Asche solle hier, in diesem Garten, verstreut werden.
Am Eingang des Jardin Majorelle kann man ein Kombi-Ticket kaufen. Für den kleinen Park und das Berber Museum. Wir sind erst unschlüssig und entscheiden uns dann für beides. Welch ein Glück, denn das Museum ist der heimliche Star des Ensembles. Doch erst wandern wir über die roten Wege, lassen diesen Ort auf uns wirken. Fremdartig in einer fremden Welt wirkt er. Orientalisch und europäisch zugleich. Die Sattheit der Farben wirkt fast obszön. So dicht sitzen die Pigmente auf den großen Stehvasen und Wänden, so blass erscheint daneben alles andere.
Als eine Einführung in die Berber Kultur stellt sich das Museum ganz bescheiden auf seiner Website vor. Im Inneren des von Paul Sinoir im Art Deco Style erbauten Studio dann die große Überraschung. Aufwändigste, multimediale Präsentation der Exponate. Ein Fest für Augen und Ohren. Ich empfinde es als Verneigung vor dieser indigenen marokkanischen Kultur, ihrem häuslichen Leben und Handwerk, ihren traditionellen Gewändern und Trachten, ihrem Schmuck und ihren Liedern, ihrem Alphabet und ihrer Sprachen. Fotografieren ist im Museum verboten, doch allein das Schmuck-Kabinett ist mehr als einen Besuch wert.
Allen, die lieber einkaufen gehen als ich, rate ich, den Museums-Shop möglichst rasch zu durchqueren. Er strahlt in schönstem Majorelle-Blau, ist gefährlich animierend und richtig teuer. Unbezahlbar hingegen die Farbenpracht, Ruhe und Würde der Kakteen jenseits der blauen Mauern. Wieder draußen, baden wir unsere Sinne in blauem, rotem und gelbem Licht. Streicheln jeden Kaktus mit den Augen, bis wir uns schweren Herzens losreißen, um zu unserem Kutscher zurückzukehren. Und in das laute, staubige Herz von Marrakesch, die Medina.
Frische Luft gibt es im Gebirge zuhauf. Im zweiten Teil meines Marokko-Berichtes geht es daher um Farbenpracht und Atlas-Macht. Um Berber-Pop-up-Märkte und Berber-Kultur im Ourika-Tal. Zumindest den Eindrücken, die man als Durchreisender und im Vorbeifahren von einem Nomadenvolk erhaschen kann. Und darum, was Arganöl mit Frauenkoorperativen zu tun haben.
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Service
Hat man sich auf den Trubel eingelassen, ergibt sich alles von selbst. Nur das Wechselgeld (die Landeswährung ist Marokkanischer Dirham) würde ich an eurer Stelle immer nachzählen, auch die Rechnungen in den Restaurants gegen checken.
Ein Muss für Marrakesch-Besucher ist der wunderschöne Jardin Majorelle im Stadtteil Gueliz (außerhalb der Medina). Unbedingt besuchen, wenn ihr da seid: Das Berber Museum.
Unser Riad, das nur als Fußnote, war sicher nicht das Schönste von Marrakesch. Ich kann also an dieser Stelle nur empfehlen, sich im Vorfeld möglichst genau zu erkundigen, was einen erwarten könnte. Viele Bewertungen lesen, vor Ort anrufen oder mailen. Besonders Allergiker oder Asthmatiker seien gewarnt: eine ungünstige Mischung aus Schimmelsporen, Katzenhaaren und dem allgegenwärtigen Staub kann allzu leicht zum Trio Infernale werden. Schön ist es zum Beispiel im Riad Dar Crystal (ebenfalls in der Mellah) und im Les Jardins de la Koutoubia (wie der Name sagt, unweit der größten Moschee Marrakeschs, direkt am Djemaa el Fna).