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wutbuerger
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Kehren und Wiederkehren

Nach 5 Jahren San Francisco sind der Mann, drei Kinder und ich im Sommer 2016 nach Deutschland zurückgekehrt. Nun wohnen wir in Stuttgart. Nach dem Aufenthalt im Wilden Westen hat uns manches in der Schwabenmetropole in Staunen oder Begeisterung versetzt.
Inhalt

Ankommen

Wutbürger und Weinberge, Kunst und Kehrwoche, Mittelstand und Migranten, Architektur und Automobilindustrie, Vollbeschäftigung und Volksfeste, Sparer und Spätzle sind die verbreitetsten Klischeebilder der Schwabenmetropole. Für Sirenen-und-Heuler will ich meine Erfahrungen als Neu-Stuttgarterin aufzeichnen und den Eigenheiten dieses Ortes nachspüren. Dabei will ich in loser Folge einzelne Stichworte herausgreifen und in kleinen, persönlichen Vignetten abhandeln.

Im ersten Teil Aufbrechen und Ankommen ging es um den Abschied von San Francisco und die ersten Wochen in Stuttgart. Im zweiten Teil Kehren und Wiederkehren geht es um die kleinen und großen Unterschiede des Alltagslebens in San Francisco und Stuttgart.

Eine Frau in schwarzer Hose kehrt den Bürgersteig in Stuttgart.
Kehren. Ausdruck für schwäbischen Biedersinn und für die soziale Enge im Ländle?

Kehren

Die Kehrwoche ist außerhalb Schwabens Synonym für den vermeintlich typisch schwäbischen Biedersinn und die soziale Enge im Ländle. So hört man schauerliche Geschichten von Nachbarschaftsfehden, die über Generationen ausgetragen werden und ihren Ursprung im Vorwurf der unzureichend Reinigung von Treppenhaus oder Bürgersteig haben.

Wir können uns also glücklich schätzen: Die Kehrwoche, also einen Plan, der die wöchentliche Reinigung aller zum Haus gehörenden, gemeinschaftlich genutzten Flächen durch die Bewohner regelt, gibt es in unserem Haus nicht. Darum kümmert sich die Hausverwaltung. Dafür lässt sie sich allerdings auch großzügig entlohnen.

Die Nebenkosten sind aber nur das Tüpfelchen auf dem „i“ der exorbitanten Stuttgarter Mieten.

Qualität

Nach fünf Jahren im Wilden Westen, hat uns eines während der ersten Wochen in Stuttgart vor allem eines immer wieder in Staunen und Begeisterung versetzt: Alles ist solide und funktioniert! Gibt es ein Problem, kann man einen Handwerker anrufen, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ausbildung ins einem Fach genossen hat. Will man sich beraten lassen, kann man in einem Fachgeschäft einen Fachmann oder eine Fachfrau konsultieren.

Im Vergleich dazu die USA: Selbst Millionen-teure Häuser sind an der Westküste Holzkonstruktionen, deren hohle Wände etwa die Qualität von Weinkisten haben. Gerne fallen die goldenen Türklinken zu Boden, wenn man versucht ein Zimmer zu betreten. Waschmaschinen sind zwar schnell mit dem Waschgang fertig, entfernen dafür aber garantiert keinen Flecken. Elektrische Leitungen sind auf abenteuerliche Weise verknotet und an halbvermoderte Holzpfosten genagelt. Der Wasserdruck reicht schon im ersten Obergeschoss kaum zum Zähneputzen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Felix Germania mit deiner guten, alten Handwerkstradition!

Wegweiser an einem Baum in Stuttgart.
Der Fernsehturm von Stuttgart.

Innovation

Jeden Unsinn schaut man sich in Deutschland von den Amerikanern ab. So wird seit einigen Jahren etwa das klobige Boxspring-Bett hierzulande als non plus ultra der „Schlafkultur“ angepriesen. Die einzige Alltagserfindung aus den USA, die ich hier wirklich vermisse, nämlich den Garbagedisposal, also den automatischen Essensrestezerhäcksler im Spülbecken, hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Angeblich sind ist Stuttgart das Innovationszentrum Deutschlands. Da müsste sich doch was machen lassen, liebe Küchenhersteller.

Schulen

Mit zwei Kindern im schulpflichtigen Alter kommt man nicht umhin, sich mit den Bildungseinrichtungen der Stadt zu beschäftigen. Das bessere Bildungsangebot –vor allem wenn man weder willens noch in der Lage ist, den Nachwuchs in den USA auf eine teuere Privatschule zu schicken– war schließlich einer der Gründe, für unsere Rückkehr nach Deutschland.

In Stuttgart gibt es Realschulen, Werkrealschulen (früher Hauptschulen genannt) und Gymnasien. Seit dem Wegfall der verbindlichen Schulempfehlung besuchen 55 % der Kinder nach der Grundschule die letztgenannte Schulform.
 Wie schon bei der Wohnungssuche, so war ich auch bei der Suche nach geeigneten Schulen auf das Internet angewiesen. Die ersten Recherchen brachten zwei Dinge zu Tage:

  1. Die Anmeldefristen für das im Herbst beginnende Schuljahr waren bereits im März abgelaufen und
  2. Für den Wechsel auf ein Stuttgarter Gymnasium fehlten meinem älteren Sohn drei Jahre Unterricht in einer zweiten Fremdsprache.

Es ist allein dem persönlichen und unbürokratischen Einsatz zweier großartiger Schulleiter zu verdanken, dass unsere Kinder auf den Schulen, die uns passend erschienen eine Chance bekommen haben.

Der Übergang ist jedoch für beide nicht leicht. Spätestes nach der Grundschulzeit gehen die Unterrichtsinhalte diesseits und jenseits des Atlantiks weit auseinander. Während man sich in Baden Württemberg einem klassischen Kanon der Allgemeinbildung verpflichtet fühlt, rücken in den USA amerikanische Geschichte und Kultur deutlich in den Mittelpunkt.

Steht in San Francisco soziale Kompetenz hoch im Kurs, so ist in Stuttgart ordentliche Heftführung unverzichtbar. Aber auch die Unterrichtsform ist für die Kinder gewöhnungsbedürftig: Vom kunstintegrierten Projektunterricht im Team von Klassenkameraden hin zum traditionellen Frontalunterricht, Mitschreiben und Stillarbeit.

Liegewiese mit Bäumen, Badesee bei Stuttagrt.
Anders in Stuttgart als in San Franciso: Chillen an Badeseen und im Freibad.

Integration

Bundesweit gilt Stuttgart seit langem als Musterbeispiel gelungener Integrationspolitik. Diesen Ruf hat sich die Stadt vor allem in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erworben. Aufgrund der boomenden Automobilindustrie war Stuttgart seit Beginn der sechziger Jahre Anlaufpunkt für Migranten vor allem aus Süd- und Südosteuropa.

Schon sehr frühzeitig setzte die Stadt bei der Wohnraumvergabe an sogenannte Gastarbeiter und ihre nachziehenden Familien auf eine dezentrale Verteilung, die der Ghettobildung vorbeugen und die Eingliederung in die jeweiligen Stadtviertel fördern sollte. Infolgedessen erlebe ich Stuttgart heute als eine Stadt, die geprägt ist von Migranten und Migrantinnen der dritten und vierten Generation. Sie sind Teil der alteingesessene Kultur, führen Geschäfte weiter, die schon die Großeltern gegründet haben, bauen neue ökonomische Strukturen auf und repräsentieren alle gesellschaftlichen und politischen Schichten.

Jahreszeiten

Nord-Kalifoniens mediterranes Klima sorgt dafür, dass die Temperaturen in San Francisco selten 25 Grad Celsius übersteigen oder unter 10 Grad fallen. So angenehm es auch ist, das ganze Jahr über von grüner und blühender Vegetation umgeben zu sein, so sehr vermisste ich doch bis zum Schluss die klar definierten Jahreszeiten mitteleuropäischer Breiten.

Nach unserer Ankunft in Stuttgart haben wir uns jubelnd in Freibäder und Badeseen gestürzt, uns am Anblick der überaus zahlreichen Springbrunnen erfreut und warme Sommernächte Nächte im Freien verbracht. Der lange Sommer wurde abgelöst von einem milden Herbst, dessen Farbenpracht selbst die leider nicht sehr Natur-affinen Kinder in Staunen und Begeisterung versetzte. Und seit Mitte November warten alle gespannt auf den ersten Schnee!

Fragt man Stuttgarter übrigens nach der Schneewahrscheinlichkeit in ihrer Stadt, erhält man überraschend widersprüchliche Antworten. Während die einen behaupten, Aufgrund der Kessellage schneie in der Stadt es praktisch nie, prahlen die anderen mit Schneemassen, die jedes Jahr zuverlässig auf die Stadt niedergingen. Obschon man sicherlich im Netz ohne Mühe Wetterstatistiken finden kann, die die eine oder andere Position bestätigen oder irgendetwas dazwischen suggerieren, haben wir beschlossen, uns einfach überraschen zu lassen.

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Wie geht es weiter in Stuttgart?

Beobachtung und Teilnahme sind die Stichworte für den 3. Teil von Anias Bericht über Aufbruch in San Francisco und die Ankunft in Stuttgart. Ihre persönlichen Vignetten aus der alten, neuen Welt erzählen dann von Küche. Kunst, Kirche, Architektur und der lieben Arbeit.