Kurz vor der Reise nach Turin
Kurz vor meiner Reise nach Turin habe ich Familienlexikon von Natalia Ginzburg gelesen. Ein tolles, ein magisches Buch. Auf entschieden nüchtern beschreibende Art versetzt Natalia Ginzburg mich in das Turin der 30 und 40 Jahre.
Natalia Ginzburg erzählt über Turin und ihre Familie aus der Perspektive der gesellschaftlichen Isolierung. Das faschistische Regime zwingt ihrer jüdischen und sozialistisch orientierten Familie in diese Abgeschlossenheit. Als Nesthäkchen unter älteren Geschwistern erlebt sie diese Zeit erst als dunkles Geheimnis. Dann als junge Frau getrieben “zwischen Fluchten und Verkleidung”.
Familienroman Turin
Ginzburgs Turin das sind Beziehungen zu unglaublich vielen Menschen. Natürlich zu den Eltern. Den Geschwister. Der Schneiderin, der Zugehfrau, den Schulfreunden, der Industriellen-Familie Olivetti, dem Maler Casorati, dem Sozialist Togliati und so fort.
Turin das sind die Wege, die die Mutter, der Vater, die Geschwister abgehen. Das sind Orte, die sie gemeinsam mit ihrer Familie besucht. Erst nach und nach, als Heranwachsende, entwickelt Ginzburg eine eigene Topografie der Stadt Turin.
Dann durchwandert auch sie die Arkaden-Gänge und die Cafés, für die Turin so berühmt ist. Sie geht über den Corso Re Umberto und die Piazza Carlo Felice. Das Ausschreiten in den sich weitenden Stadtraum tröpfelt als Bild für die Selbständigkeit und die Abnabelung von der Herkunftsfamilie in den Text. Dann zieht Ginzburg nach Rom und das Buch ist aus.
Flanieren ohne Reiseführer
Die meisten Straßen, Plätze und Gebäude, die ich in Turin durchstreife oder betrachte kommen in Ginzburgs Familienlexikon nicht vor. Überhaupt keine Sehenswürdigkeiten. Vergeblich suche ich in dem Buch den Turiner Barock. Die Piazza Castello mit dem königlichen Schloss. Den Fluss Po. Den Fluss Dora. Das Turiner Grabtuch. Die Kirche San Lorenzo mit ihrer bizarren Kuppelkonstruktion. Die monumentale Via Roma. Die köstlichen Aperitifs in den Abendstunden auf den großzügigen Plätzen und unter verschatteten Arkaden. Die vielen Restaurants mit dem wahnsinnig guten Essen und den unglaublich zögerlichen und diskreten Kellnern. Die vielen Autos. Die wahnsinnig vielen Menschen.
Als praktischer Reiseführer in das moderne Turin taugen Natalia Ginzburgs Familienerinnerungen überhaupt nicht. Aber die Lektüre ihres Lexikons hat mir eine melancholische Stimmung eingeimpft, die mich während meines kurzen Turin Aufenthalts umhüllt. In Ginzburgs Beschreibung wird Turin eine geheimnisvolle, mythische, weit entfernte Stadt. Es ist mir, als ließe sich Turin nicht berühren. Als sei Turin ein großes 3D Bild, durch das sich nur vereinzelt und isoliert hindurch wandeln lässt. Turin kommt mir vor, wie in Watte eingeschlagen oder in Nebel oder in Trägheit. Fern!
Die kühle barocke Stadtplanung verstärkt diese Distanz. Konsequent kreuzen sich die endlos gradlinig verlaufenden Straßen im ewig gleichen rechten Winkel. Monotone Palastfassaden reihen sich eine an die andere. Schnurgerade Gesimse und Balkone erzeugen einen ungemütlichen Sog in die Ferne. Kilometerlange Arkadengänge fluchten Richtung Unendlichkeit.
Stadt der Erinnerungen
Am Ende der langen Sichtachsen wachsen aus dem Mittelpunkt großer, symmetrischer Plätze heroisch tösende Denkmäler des italienischen Militarismus in den Himmel. Manche sind putzig operettenhaften. Andere martialisch unterkühlt. So präsent wie in Turin gibt es die monumentale italienische Erinnerungskultur nirgendwo. Grüne Bronze und harte Steine erinnern an die Entstehung des italienischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert und an die Opfer der beiden Weltkriege.
Lächerlich! denke ich. Sofort ärgere ich mich über mich selbst, weil es mir schwer fällt, diesen pathetischen Aspekt der nationalen Selbstdarstellung zu respektieren. Ist ja auch nicht einfach. Außerdem trägt diese alberne kriegerische Stadtdekoration zu meiner gefühlten Distanz bei. Die vielen Denkmäler machen Turin zu einer popeligen Residenzstadt.
Nachdenklich stimmen mich die blumengeschmückten, kleinen Erinnerungstafeln an den Hauswänden und in den Bogenarkaden. Diese Votivtafeln erinnern an Partisan*Innen, die in der Resistenza ihr Leben ließen für die Befreiung Norditaliens von der deutschen Besatzung und dem italienischen Faschismus.
Der Gründungsmythos der Republica Italiana als eine Erfolgsgeschichte der Selbstbefreiung von Besatzung und Faschismus hat scharfe Kratzer bekommen. Aber es bleibt doch bemerkenswert wie viele Menschen aus so unterschiedlichen Milieus wie dem katholischen, dem kommunistischen, dem jüdischen, dem intelektuellen in Turin in der Resitenza organisiert waren.
Mein erstes Mal Turin
Manchmal endet der Blick entlang der gewaltigen Straßenfluchten auch in der Landschaft. Turin, gegründet als römische Militärstadt Augusta Taurinorum an der Mündung des Fluss‘ Dora in den Po, liegt wie alle Römerstädte in der Ebene. Turin ist so unglaublich flach. Auf dem anderen Ufer des träge dahin fließenden Po aber wellen sich sanfte, bewaldete Hügel. Und um die Stadt falten sich die schneebedeckten Alpen dramatisch empor. So viel Schönheit! Die Po-Ebene, die Hügel, die Alpen. Sie bringen die Feuchtigkeit, den Nebel, die Watte, die Turin umhüllen.
Mein erstes Mal Turin. Deswegen fallen mir völlig nebensächliche Dinge auf. Sie erregen für kurze Momente meine nervöse Aufmerksamkeit und bleiben haften. Nirgends habe ich so viele goldene Schuhe gesehen wie an den Füßen von Turin. Auf dem Corso Vittorio Emanuele werden die Bürgersteige mit Wischwasser geschrubbt. Natürlich von Extra-Communitarii. Die doppelt Fremden, die Nicht-EU-Ausländer (auch keine schöne Wortschöpfung), haben in Italien erstaunlicher Weise eine eigene Bezeichnung. Großartig ist, dass immer Mittags der Hochnebel über der Stadt zerreißt und strahlend, blauer Himmel zum Vorschein kommt.
Wie italienisch ist Turin?
Für eine italienische Stadt gibt es in Turin unglaublich viele Busse und Straßenbahnen. Es scheint so, als ob der öffentliche Nahverkehr unglaublich gut funktioniere. Das ist eine echte Überraschung für mich. Ich meine, funktionierender öffentlicher Nahverkehr und Italien das gehört einfach nicht zusammen.
Straßenbahnfahren in Turin macht übrigens richtig Spaß. Die Stadt, die Promenaden, der trubelige Markt, der Fluß sie flanieren hinter dem Straßenbahnfenster gemächlich ruckelnd vorbei. Und für 1 Euro 50 ist eine Fahrt ein unschlagbar günstiger Spaß. Dieser Turin-Tipp kommt dann doch aus Ginzburgs Familienlexikon. Natalia beschreibt Straßanbahnfahrten mit ihrer Mutter, ohne konkretes Ziel einfach nur zum reinen Vergnügen.
Seit den Olympischen Winterspielen 2006 ist das Zentrum Turins von Autos weitgehend befreit. Großartig! Überall gibt es Fußgängerzonen. Und vor allem auf den riesigen Plätze im Zentrum, der Piazza San Carlo oder der Piazza Castello sind überhaupt keine Autos abgestellt. Turin ist schon ein besonderes Stück Italien.
Irgendwo habe ich gelesen, Torino das sein mehr Parigi als Roma. Vielleicht. Mir wäre der Vergleich so allerdings nicht eingefallen. Immerhin ging von Turin die Bewegung aus, Italien zum Nationalstaat zu vereinen. Der erste italienische Ministerpräsident Camilo Cavour, Erfinder des Begriffs Risorgimento, zog von Turin aus die Fäden, um die Regierungen Frankreichs und Englands von der Idee der Einigung Italiens zu überzeugen. Übrigens vom Restaurant aus. Außerdem findet sich im Norden natürlich auch der Süden.
Verflixte Leckereien
Ich frühstücke in einem kleinen Café neben meinem Hotel. Da gibt es sizilianische Cassata und Cannelloni gefüllt mit Ricotta und kandierten Früchten. Ich denke mir aus, diese Rezepte haben sizilianische Zuwanderer mitgebracht, die die Industrialisierung und das Miracolo Economico in den nebeligen Norden verschlagen hat. Wer die Süße des Südens kennt, weiß, ohne ist schwer leben.
Aber auch aus Turin kommen erstaunliche Süßwaren. Berühmt ist die Stadt für Trink-Schokolade, in der der Löffel stecken bleibt. Auf der Piazza San Carlo gibt es zum Beispiel die Pasticceria Stratta. An deren herrlichem Schnuckerzeug haben schon italienische Könige und Königinnen genascht. Da gibt es diese verflixt leckeren Apfeltörtchen. Und diese verflixt niedlichen Kellner, die so aufgeweckt sind, dass sie sogar für die Kundschaft mitdenken können. Das geht so:
Kunde: “Ein Caffé bitte!”
Kellner: “Einen Caffé?“
Kunde: “Si, si …“
Kellner: “Einen normalen Caffé? Gestern hatten sie einen doppelten …”
Recht hat er. Gestern hatte ich einen doppelten Espresso. Wie hat er sich das bloß gemerkt? Habe ich etwa einen bleibenden Eindruck bei ihm gemacht? Wäre ja schön, aber …
Die tollsten Museen von Turin
Das liest sich jetzt so, als hätte ich meine Zeit in Turin unter Arkaden und in Cafés verbummelt. Mitnichten! Ich habe wahnsinnig viel gesehen. Das Ägyptische Museum zum Beispiel. Das größte und bedeutendste Ägyptische Museum nach dem in Kairo. 10.000 Quadratmeter für ägyptische Kunst. Ganz modern. Eindrucksvoll präsentiert. Fantastische Exponate. Toll, toll, toll.
Auf die kostenlose Audio-Führung habe ich allerdings verzichtet. Die Technik des Audio-Guides war viel zu kompliziert, habe ich nicht verstanden. Neben mir standen hunderte Besucher, denen es ähnlich ging. Anstelle sich die Ausstellung anzuschauen, haben die auf ihrem Handheld rumgedrückt. Das war natürlich blöd. Wenn es mir mal gelang einen erklärenden Beitrag aufzurufen, hat mich die deutsche Sprecherstimme mit Ohrenkrebs infiziert. Ging gar nicht. Auch ohne Audioführung habe ich die schwarze Perücke der Königin Merit entdeckt. Genau so eine, mit so krassen flachen Wellen, hat Sigourney Weaver als ägyptische Königin Mutter Tuya in Ridley Scotts Moses Epos Exodus getragen. Find ich irre.
Im Museo Nazionale del Cinema war ich natürlich auch. Stilsicher ist das Kino-Museum in der Mole Antonelliana untergebracht. Heute Wahrzeichen von Turin und auf die italienischen 2 Cent Münze geprägt. Dieser irre Kuppelbau passt aber eher auf ein ausgeflipptes Fantasy-Filmset als in eine unterkühlte Real-Stadt. Auch hier ist die Ausstellung toll, toll, toll. Noch großartiger ist es allerdings mit dem frei hängenden, gläsernen Aufzug durch die gigantische Kuppel der Mole Antonelliana auf die Höhe von 84 Metern zu schweben. Mein Turin-Tipp: Mole Antonelliana hoch fahren und von dort oben den Rundblick über die Stadt genießen. Am besten in den Abendstunden, wenn die Stadt vor Lichtern zu glühen beginnt.
Der Palazzo Madama in Turin
Einen schönen Rundumblick über Turin gibt es auch von den Türmen des Palazzo Madama. Der war schon im 18. Jahrhundert eine echte Touristenattraktion. Die vornehmen Italienreisenden auf Grand Tour pilgerten zum Treppenhaus des Palastes. Entworfen hat erstaunliche Stiege ein Sizilianer, der fantastische Filippo Juvarra. Das Treppenhaus ist eines der großartigsten Beispiele für barocke Repräsentations-Architektur.
Die englischen Reisenden beschwerten sich vor 200 Jahren besonders darüber, dass sie in Turin von der besseren Gesellschaft nie zum Essen eingeladen wurden. Sie fanden die Torineser deswegen wenig gastfreundlich und ziemlich geizig. Ob das immer noch so ist, werde ich bei einem meiner nächsten Besuche mal herausfinden. Denn nach Turin fahre ich bestimmt noch mal. So gut hat es mir gefallen!
Außerdem war ich noch nicht bei FIAT. Das Museum für Cesare Lombroso, den Begründer der fatalen Pseudowissenschaft Kriminalanthropologie, die im 20. Jahrhundert den mörderischen Rassenwahn befeuerte, habe ich noch nicht gesehen. Ich muss noch mal Bollito Misto futtern. Und meine Freundin Birgit hat mir versprochen, dass wir zusammen zu Juve pilgern. Ich war doch noch nie im Fußballstadion. Also, liebes Turin, ich komme wieder. Ganz bestimmt!
Natalia Ginzburg, Familienlexikon
Zum Schluss möchte ich noch verraten, warum Natalia Ginzburgs Familienlexikon mich so in seinen Bann geschlagen hat. Ich glaube, es hat mit dem staunenden Verwundern Ginzburgs über das Zugehörigsein und das Angehörigsein zu tun. Wie funktioniert eigentlich Herkunft und Familie? So liest sich das:
Wir sind fünf Geschwister. Wir wohnen in verschiedenen Städten, einige sogar im Ausland, und wir schreiben uns nicht häufig. Wenn wir uns treffen, sind wir den anderen gegenüber manchmal vielleicht zerstreut oder gleichgültig. Doch ein Wort genügt zwischen uns. Ein Wort oder einen Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. Es genügt, uns zu sagen: Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um ein Ausflug zu machen oder: Wonach stinkt der Schwefelwasserstoff? um mit einem Schlag unsere alten Beziehungen, unsere Kindheit und unsere Jugend wiederzufinden, die untrennbar mit diesen Sätzen, mit diesen Worten verbunden sind. An einem dieser Worte würden wir uns im Dunkeln einer Grotte unter Millionen von Menschen als Geschwister wiedererkennen. Diese Sätze sind wie unser Latein, das Vokabular unserer vergangenen Tage, sie sind wie die Hieroglyphen der Ägypter oder Assyrer Babylonier, Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt, …
Natalia Ginzburg, Familienlexikon
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