Suche
Close this search box.
Suche
Close this search box.
Suche
Close this search box.
Die Bürotürme des modernen Vilnius.
Die Bürotürme des modernen Vilnius.

Vilnius: Die malerische Hauptstadt von Litauen

Vilnius, das Rom des Ostens, ist eine verwirrende Stadt. Mit einem Stadtplan und einem Reiseführer ist ihr nur schwer beizukommen. So viele Schichten von Mythen, Geschichten und Religionen. Wer soll da den Überblick behalten? Versuch einer Annäherung an komplexe Realitäten.
Inhalt

Erste Schritte in Vilnius

Kennst Du das? Du machst einen Spaziergang durch eine fremde Stadt. Du hast einen Stadtplan dabei. Dein Reiseführer liegt ungelesen zuhause. Du streunst ein bisschen orientierungslos umher. Du guckst nach links und nach rechts. Die merkwürdigen Straßennamen in einer fremden Sprache sprechen nicht zu Dir. Die Häuser sehen irgendwie alle ähnlich aus. Du schleichst einfach der Masse hinterher.

Wenn Du dann eine Reisegruppe entdeckst, die sich vor einer Sehenswürdigkeit etwas erklären lässt, bleibst Du abseits stehen und lauschst, was der Fremdenführer zu erzählen hat. Vielleicht schnappst Du ja was Interessantes auf, was weiterhilft.

So ist es mir in Vilnius ergangen. Am ersten Tag. Ich bin über einen unübersehbar breiten Touristenpfad die Didžioji Gatvé, die Große Straße, in die Altstadt geschlendert. Überall, wo ich eine Reisegruppe erspähte, habe ich mich hingestellt und gelauscht. Die Guides in Vilnius erzählten alle ziemlich ähnlich von Barock, von Religion und religiöser Vielfalt, von Toleranz. Sie beschreiben Vilnius als Rom des Ostens und berichten vom einstigen Ruhm als Zentrum jüdischer Kultur, dem Jerusalem des Nordens.

Gerade die Erzählungen über Toleranz haben mich stutzen lassen. Warum? Als ich meine schwule Dating-App im Hotel anschmeiße, warnt mein Smartphone. Sei vorsichtig mit wem Du Dich verabredest. Litauen ist ein homophobes Land. Du könntest Opfer eine Hassverbrechens werden.

Im Gepäck habe ich Zeitungsartikel, die darüber berichten, wie schwer sich die baltischen Staaten mit der Aufnahme afrikanischer Flüchtlinge tun. Deutsche Medien berichten von der Russophobie im Baltikum. Von religiöser Vielfalt habe ich nichts gesehen. Aber viele katholische Kirchen. So viele Kirchen und Hügel. Vilnius erscheint mir tatsächlich als das Rom des Ostens.

Ich stolpere am ersten Tag in Vilnius in ein merkwürdiges Parallel-Universum. Geht für mich überhaupt nicht zusammen, was ich erlebe und was die Fremdenführer erzählen. Stimmt irgendwas nicht mit meinem Gefühl? Oder sind die Fremdenführer auf der falschen Spur? Vielleicht verstehe ich das Konzept des kulturellen Gedächtnis einfach völlig falsch. Diese Überlegungen sind ein spannender Ausgangspunkt für meine individuelle Entdeckungstour durch Vilnius, das Rom des Ostens. Hier geht es lang:

Vilnius ist eine Stadt am Fluss. An zwei Flüssen! Unterhalb des Burghügels mäandert der wilde Fluss Vilnia in die gemächlich fließende Neris. Die Vilnia hat das Temperament eines sprudelnden Bergbachs bewahrt. Erstaunlicher Weise schwappt an ihren unbefestigten Ufern so etwas wie ursprüngliche, modernde Natur in das Zentrum der Stadt. Schattige Wege. Verfallene Schuppen. Verwilderte Birnen und Mirabellen Bäumen. Ein Spaziergang an den Ufern der Vilnia ist ein wild romantisches Unterfangen.

Der Fluss Vilnia in Vilnius.
Der Fluss Vilnia
Grenzschlid der Republik von Užupis mitten in Vilnius.
Eine Grenze mitten in der Stadt. Hier endet die Republk von Užupis

Užupis. Der Ort hinter dem Fluss

Wenn Du die Vilnia überquerst, erreichst Du die Republik Užupis, den Ort hinter dem Fluss. Dieser Stadtteil ist mit dem Namen Künstlerviertel gelabelt. Das war einmal. Heute ist Užupis Gentrifizierung pur. Coffee ToGo an jeder Ecke. Verfallene Fischer-Häuschen werden aufwändig restauriert. Protzige Villen werden neugebaut. Eine exklusive Beauty-Klinik ist schon da. Trotzdem gibt es in Užupis immer noch geheimnisvolle Plätze. Zum Beispiel den Friedhof der Bernhardiner Brüder. Hoch über der Vilnia gelegen. Ein verwunschener Ort, wie aus der Zeit gefallen.

Blick auf dei Gräber des Friedhofs der Bernhardiner Brüder in Vilnius.
Verwunschen. Der Friedhof der Bernhardiner Brüder in Užupis
Das "Gotische Eck" in Vilnius.
Das „Gotische Eck“ in Vilnius. Blick in die Stadt von der Republik Užupis aus gesehen

Filigrane Gotik in Vilnius

An einer Kehre der Vilnia steht das Gotische Eck. Es ist ein bemerkenswertes Ensemble prächtigster Backstein Gotik. Die Fassade der Annen Kirche rankt sich mit verschränkten Bögen in den Himmel empor. Das ist so zerbrechlich schön, dass Napoleon dieses aus Backstein geklöppelte Kirchlein auf seinen Händen nach Paris tragen wollte, um es der geliebten Josefine zu verehren. So schmeichelte Napoleon seiner Angebeteten in Briefen, als er während seines Russlandfeldzuges Station in Vilnius einlegte. Diese Geschichte ist so schön. Sie wird in einer geradezu babylonischen Sprachverwirrung vor der Annen Kirche von den Guides zum besten gegeben.

Die gorische Fassade der Annen Kirche in Vilnius.
Eine Fassade wie geklöppelte Spitze. Die Annen Kirche ein Beispiel der Backsteingotik in Vilnius

Hinter der Annen Kirche steht wuchtig die Kirche der Bernhardiner Brüder. Auch Gotik. Umgestaltet mit etwas Renaissance. Im hoch aufsteigenden Innenraum unzählige Altäre in wild schnörkelndem Rokoko. Feinste Schnitzarbeit überzogen mit Furnier. Dass diese die stürmischen Zeiten des letzten Jahrhundert in Vilnius überlebt haben, lässt mich staunen. Überall in der Kirche entdecke ich die Spuren der Vernachlässigung und der Zerstörung. Die sowjetische Okkupation hat an den Kirchen brutale Spuren hinterlassen. Jetzt wird stetig restauriert. Ein langsamer Prozess. Denn der litauische Staat hat kein Geld. Kirchen Restaurierung wird mit privaten Spenden finanziert.

Ich bin an einem sonnigen Freitag in Vilnius unterwegs. Vor den Kirchen stehen kleine Gruppen elegant gekleideter Menschen. Sie halten Blumensträuße in den Händen, plaudern und lächeln freundlich aufgeregt. Am Wochenende im Sommer verwandelt sich Vilnius in eine Stadt der Liebe. Vilnius als das Paris des Ostens? Auf jeden Fall wird hier viel und auffällig geheiratet. Vor und hinter dem gotischen Eck parken die Strech-Limos. Sie sollen den glückliche Frischvermählten einen guten Start in das neue Leben garantieren. So viele SUVs und verlängerte Hummer Karossen wie an diesem Freitag habe ich noch nie an einem Tag gesehen.

Hochzeitslimousine vor der Annen Kirche in Vilnius.
Ein fetter Hummer vor der Annen Kirche. Warten auf die Braut

Vilnius eine Stadt zwei Flüsse

Die reißende Vilnia integriert und verbindet. Die spröde Neris trennt die neue Stadt am nördlichen Ufer von der Altstadt, die unter UNESCO Weltkulturerbe Schutz steht. Vilnius Altstadt ist während des 2. Weltkrieges in großen Teilen zerstört worden. Allerdings ist das im Weichbild der Stadt nur schwer zu erkennen.

In den 50er Jahren gab es Pläne, die Altstadt sozialistisch zu modernisieren und mit breiten Schneisen und Achsen zu durchziehen. Diese Stadterneuerung blieb in den Kinderschuhen stecken. Ein echter Grund der wirtschaftlichen Schwäche des sowjetischen Systems mal richtig dankbar zu sein. An der Vokiečiu Gatvé, der ehemaligen Deutschen Straße, lässt sich nachvollziehen, in welche Richtung sich das sozialistische Vilnius entwickelt hätte.

Die Vokiečiu Gatvé, die ehemalige Deutsche Straße in Vilnius.
Die Vokiečiu Gatvé, die ehemalige Deutsche Straße. Experimentierfeld der sozialistischen Stadterneuerung

Anstelle dieser Kaputt-Sanierung wurden die neuen Stadtviertel schließlich außerhalb der alten Stadtgrenzen errichtet. In diese Richtung entwickelt sich Vilnius auch heute weiter. Die meisten Bewohner Vilnius leben in diesen neuen Quartieren. Das alte Zentrum sieht zu jeder Tages- und Nachtzeit erschreckend unbewohnt aus. Am Neris Ufer wird ganz modern in Stahl, Glas und Beton gebaut. Investoren-Architektur. Sieht so aus wie überall. Die disziplinierte Skyline steht allerdings in wundersamen Kontrast zum romantischen Wildwuchs der alten Stadt.

Skyline von Vilnius am Neris Ufer.
Die moderne Skyline von Vilnius am nördlichen Neris Ufer. Hochhäuser machen Kirchtürmen Konkurrenz
Putto von der Kirche des heiligen Kasimir in Vilnius.
Putto im flammenden Feuerkranz. Dekoration an der barocken Kirche des heiligen Kasimir

Kuppeln, Putten und Geschraube – Barock in Vilnius

In der Altstadt lächeln niedliche Puten herzallerliebst von Gesimsen. Vergoldete Turmspitzen strahlen im Sonnenlicht. Aufgesprengte Voluten wabern über Häuserwände. Tatsächlich gibt es unglaublich viel barockes Geschwurbel und Geprunke an Kirchen, Palästen und Bürgerhäuser. Die barocken Details sind an vielen Gebäuden ziemlich traurig anzuschauen.

Denke ich an den prächtigen Barock der Päpste und der Kardinäle in Rom, dann finde ich Barock in Vilnius enttäuschend. Schaue ich mir an, was ich in Vilnius vor mir sehe, dann bin ich überrascht und betört. Denn in Vilnius kommt es nicht auf das Einzelne an sondern auf das Ganze, die Gesamtschau.

Kuppel der Kasimir Kirche.
Fast überall in Vilnius Altstadt zu sehen. Die Kuppel der Kasimir Kirche

Die Architektur des Barock verwandelt Vilnius Altstadt in ein malerisches Bühnenbild. Romantische Atmosphäre pur. Die einzigartige Topografie der Stadt steuert vieles zu dieser pittoresken Kulisse bei. An den Hügel wogen Häuser, Tore, Paläste und Kirchen übereinander. Sie staffeln sich zu einem verschnörkelten, visuellen Crescendo dessen Höhepunkt in einer Kuppel oder einer Turmspitze duftig verpufft und die Architektur mit dem Himmel verschmilzt. Sensationell!

Das Tor des Basilius Kloster.
Einfach so hingetupft. Das barocke Tor des Basilius Kloster. Dahinter schlanke Kirchtürme mit Sonnenkreuz.

Außerdem gibt es in der Altstadt von Vilnius keine gerade Straßen. Noch die kleinste Gasse schlänget krumm gebogen durch die verwirrende Altstadt. Das eröffnet immer wieder neue Perspektiven auf die ungewöhnliche Stadtlandschaft. Deswegen hier mein ultimativer Tipp für Vilnius: immer wieder stehen bleiben, umdrehen, schauen, was die neue Perspektive zu bieten hat.

Eine Entdeckung hängt mir immer noch nach. Das sind die Papierkörbe in Vilnius. Ich finde sie sehen aus wie ein Stück klasssische griechische Architektur. Sie sind geformt wie eine Tryglyphe, also wie der Dreistab der klassischen dorischen Tempel-Architektur. Wie kann es sein, dass in Vilnius, ausgezeichnet als Weltkulturerbe und 2009 europäische Kulturhauptstadt, die Klassik so auf den Hund gekommen ist?

Ein Mülleimer in Vilnius dekoriert mit klassischem Dreistab.
Ein Mülleimer in Vilnius im dorischen Design der griechischen Klassik. im Hintergrund die barocke Michaelis Kirche
Ein Mülleimer dekoriert mit klassischem Dreistab.
Es gibt sie wirklich überall. Auch auf diesem Mülleimer der klassische Dreistab.

Vilnius, das Rom des Osten

Hügel, Barock, die vielen Kirchen machen aus Vilnius tatsächlich ein Rom der Ostens. Hört sich harmlos an. Dabei ist Rom des Ostens ein brisanter politischer Kampfbegriff. Warum? Um das zu erklären, muss ich ein bisschen in die Geschichte einsteigen.

Der Begriff Rom des Ostens entstand, als mit Ivan dem Schrecklichen, der Fürst von Moskau, begann sich Zar, Cäsar, Kaiser zu nennen. Mitte des 16. Jahrhunderts fingen die Russen an Moskau als das 3. Rom, nach dem untergegangenen 2. Rom in Konstantinopel zu bezeichnen. Immerhin war die Großmutter Ivan des Schrecklichen mit Namen Sofija Paleolog eine Nichte des letzten abgesetzten römischen Kaisers, Konstatin des XI, der in Byzanz regierte. Dessen ideelles Erbe trat Zar Ivan an. Er versuchte mit der machtvollen Erzählung vom römischen Kaiser im Kreml, sein russisches Fürstentum in Europa zu verankern. Ist das gelungen?

Wetterfahne in Vilnius mit Engel und Teufel.
Über den Dächern von Vilnius kämpft das Gute gegen das Böse

Ivan war ein orthodoxer Christ. Und das durfte nicht sein. Dem Papst mit Sitz im 1. Rom war diese Traditionswanderung gar nicht recht. So eng hingen der Kaisertitel und die römisch katholische Kirche zusammen. Also positionierte sich Vilnius, in Abgrenzung zum orthodoxen Fürstentum Moskau, als die letze Bastion des rechten katholischen Glaubens. Vilnius wurde Frontstadt in einer Auseinandersetzung des christlichen Europas gegen die Ungläubigen aus dem Osten. Russophobie hat hier also auch religiöse Wurzeln. Genug Historie! Ich bin davon schon so erschöpft, dass ich den ersten Teil meines Vilnius Berichts hier beende.

In Vilnius: vom Tor der Morgenröte bis zur Neris geht es um Burgen, geheimnisvollen Fürsten, das jüdische Ghetto, malerische Hinterhöfen und Essen & Trinken in Vilnius.

Wenn Du weiterlesen möchtest: hier geht’s lang: