Es ist nicht lange her, da säumten Hafenlagerhallen, schäbige Bistros und zwielichtige Matrosenbars die Ufer der Garonne. Heute zeigt Bordeaux dem Fluss seine Schokoladenseite, garniert mit prächtigen Altstadt-Fassaden, gepflegten Grünanlagen und viel Spektakel. Besonders im Sommer spaziert hier das Leben
Wir könnten zu Fuß gehen, aber die Zeit ist knapp. Also nehmen wir den Bus, um ans östliche Ufer der Garonne zu kommen – den Teil von Bordeaux kennen wir noch nicht. An einer Haltestelle namens „Stalingrad“ steigen wir um, so ist jedenfalls der Plan, doch der Anschlussbus bleibt aus. Es ist die Zeit der großen Sommerhitze, 37 Grad und kein Lüftchen, die Stadt ein einziger Backofen. Um nicht untätig herumzustehen, machen wir uns zu Fuß auf den Weg, lassen den Fluss hinter uns und geraten in eine deprimierende Gegend. Links die Gleise eines Trambahn-Depots, rechts nichtssagende Gewerbegebäude, in der Mitte eine staubige Straße. Bordeaux im Sommer – so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Umso wohltuender fließt das Selbstgebraute unsere vertrockneten Kehlen hinunter, als wir endlich das „Darwin Ecosystème“ erreichen.
Neues Leben in alten Fabrikhallen – das andere Bordeaux
Hier wollten wir hin. In den alten Kasernen und Fabrikhallen auf der Rive Droite tummeln sich heute Künstler, Hipster, Ökos, Skater, Partygänger, Familien, Touristen und Locals. Der alternative Flair, der hier herrscht, fällt in einer gediegenen Hafenstadt wie Bordeaux immer noch ziemlich aus dem Rahmen. Dabei ist „Darwins Ökosystem“ von der klassizistischen Place de la Bourse drüben in der Altstadt nur durch den Fluss und ein paar Steinwürfe entfernt.
Das Magasin Général ist das zentrale Lokal in diesem umgenutzten Fabrik-Ensemble. Dass uns das Bier so gut schmeckt, hat nicht nur mit dem hitzeflirrenden Sommer zu tun. Fast alle trinken hier Bier, es passt einfach gut zu der „proletarischen“ Fabrikumgebung, selbst in einer ausgemachten Weinstadt wie Bordeaux. Die Stimmungslage liegt irgendwo zwischen entspannt und entkräftet, das Publikum ist erstaunlich gemischt. Auf einem abgewetzten Sofa versuchen zwei Society-Damen mit Drinks und Fächern der Hitze Herr zu werden, andere Sitzecken bevölkert eher junges Publikum, die Tische im großen überdachten Fabrikhof nehmen Familien mit Kleinkindern in Beschlag. Das Lokal füllt sich zusehends, Casual Wear und Ausgehkleidung halten sich die Waage, und wir lassen uns zum Bier Falafel und Tagine schmecken.
Alles nur Öko-Gentry? Schwer zu sagen. Tagsüber wird hier gearbeitet, verschiedene Kulturstiftungen, so heißt es, nutzen das ehemalige Industrieareal als eine Art Labor für Konzepte gegen den Sozialdarwinismus. Allerdings sind die Preise in den Cafés und Restaurants genauso gesalzen wie in der herausgeputzten Altstadt von Bordeaux. Immerhin ist die Dichte der ausländischen Besucher deutlich geringer – hier wird vor allem Französisch gesprochen. In dieser Hinsicht markiert der Fluss wohl doch eine Grenze.
Wir sehen uns an der Garonne – Picknick am Fluss
Die Garonne fließt gleich nebenan, also nehmen wir zurück zur Altstadt den Weg am Fluss entlang. Auf Grünflächen sitzen die Menschen in Gruppen unter Bäumen und picknicken, trinken oder unterhalten sich einfach. Wohnzimmeratmosphäre, Feierabendstimmung, Sommer leger. Die Temperaturen sind jetzt erträglicher. Alte, Junge, Große, Kleine, Dicke, Dünne, alles mischt sich hier. Und anders als im Magasin Général steht fast immer steht eine geöffnete Flasche Bordeaux dabei.
Der Wein, der Seehandel und die Lage am Fluss haben die Stadt reich gemacht. Nicht immer ging es dabei fein zu. Manche Straßen und Plätze in Bordeaux tragen die Namen von Händlerdynastien, die ihr Vermögen auch dem Sklavenhandel verdankten. Andererseits war Bordeaux als Handelszentrum stets eine offene Stadt mit kosmopolitischen Einflüssen. Das verraten zum Beispiel die Trockenfischgerichte der lokalen Küche – ein Erbe der florierenden Gemeinde aus portugiesischen Exilanten und Migranten. Was die örtliche Weinkultur seltsamerweise nie hervorgebracht hat, ist ein eigener Käse. Trotzdem gab und gibt es Käse im Überfluss – als Import aus den Nachbarregionen und sogar aus den Niederlanden.
Sommer-Spektakel: Die Altstadtpromenade als Bühne
Mittlerweile steht die Sonne knapp über der Silhouette der Altstadt und taucht die napoleonische Pont Saint-Jean in ein warmes Licht. Wir überqueren die Brücke und schlendern auf der gegenüberliegenden Seite mit vielen anderen Spaziergängern die Uferpromenade entlang. Bordeaux ist im Sommer-Modus, der Event-Kalender quillt über vor Veranstaltungen und die Promenade am Fluss erlaubt nicht nur spektakuläre Blicke auf prächtige Palastfassaden, sie ist auch eine ideale Open-Air-Bühne.
Am Miroir d’Eau, Bordeaux‘ raffiniertem Spiegelbrunnen an der Place de la Bourse, wimmelt es wie immer vor nackten Füßen, die lustvoll im seichten Wasser herumplantschen. Dahinter wummert laute Musik, und als wir uns der Menschentraube nähern, die dort die Hälse reckt, bleiben auch wir unwillkürlich stehen. Die Show, die die vier jungen Kerle aufführen, ist wirklich fesselnd. Sie tanzen Breakdance, nur eben nicht auf die übliche Weise, indem jeder brav seine Kunststückchen vorführt. Stattdessen erzählen sie eine Geschichte und beziehen dabei das Publikum mit ein. Dabei folgen sie einer gut einstudierten Choreografie und bieten zwischendurch sogar höchst gelungene Slapstick-Einlagen. Es sieht nicht so aus, als gehörte ihre Darbietung zum offiziellen Sommer-Programm der Stadt. Sie schwitzen hier für ihren Lebensunterhalt, und das machen sie so gut, dass sie die berühmte Altstadt von Bordeaux samt Abendbeleuchtung und Fluss-Ambiente zur Kulisse degradieren.
Kaum 200 Meter flussabwärts tanzen Paare älteren Semesters zu gesetzterer Musik. Hier ist die Stadt der Veranstalter, auch sie nutzt die Fluss-Promenade als Bühne. Die Tänzerinnen und Tänzer haben offensichtlich ihren Spaß und sind engagiert bei der Sache. Sehr sympathisch, dass zwei so unterschiedliche Veranstaltungen einfach so nebeneinander existieren und ihr Publikum finden.
Ein bisschen Sommernachtstraum
An so einem Sommerabend in Bordeaux muss gar nicht viel passieren, um ein Gefühl für diese Stadt zu bekommen. Die Promenade am Fluss ist kein touristischer Aussichtsbalkon, jedenfalls nicht nur. Für die Bewohner ist sie ein neues Zentrum, das sie in Besitz nehmen und mit Leben füllen. Das gelingt ihnen ganz gut.
Auf dem Rückweg zum Hotel überqueren wir die Place des Quinconces, einen der größten unbebauten Plätze Europas – in Bordeaux wird eben nicht gekleckert. Jetzt, bei Dunkelheit, sind kaum Menschen zu sehen. Wir streben zu der malerisch angeleuchteten Siegessäule des Monument aux Girondins. An ihrem Fuß plätschern zwei barocke Springbrunnen mit dramatisch aufgebäumten Pferden. Wir setzen uns auf die Marmorumfassung eines der Becken, genießen die Kühle, die von dem Wasser ausgeht, und betrachten dieses erstaunliche Bauwerk. Es erinnert entfernt an die Fontana di Trevi in Rom, die allerdings viel größer ist. Und es gibt noch einen entscheidenden Unterschied: Diesen Brunnen haben wir ganz für uns allein – und das mitten in der Sommer-Saison!
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