Der Maler Caravaggio; ein wahnsinniges Genie?
Der Maler Michelangelo Merisi da Caravaggio genießt einen äußerst zweifelhaften Ruf. Kurz und knapp lässt sich der komplizierte Charakter des Künstlers Caravaggio so zusammenfassen: aufbrausend und streitsüchtig, dem Alkohol und dem Glücksspiel zugewandt, eitel und anmaßend, gewalttätig und sexuell an Männern besonders jungen Knaben interessiert. Mithilfe dieser negativen Eigenschaften wird Michelangelo Merisi da Caravaggio zu einem Protagonisten in der weit verbreiteten – aber nicht unbedingt wahren – Erzählung von Genie und Wahnsinn stilisiert.
Heutige Caravaggio Biographien zeichnen allerdings ein anderes Bild. Sie bezweifeln das wahnsinnige Genie und betonen eher, dass der Künstler Caravaggio alles für seinen sozialen Aufstieg tat. Mit Hilfe seines Talents drängelte er auf eine Position in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Aber sein gut dokumentierter Hang zu körperlicher Gewalt sowie sein aufbrausende Temperament machten ihm dabei immer wieder einen Strich durch die Rechnung.
Künstler und Verbrecher
Unbestritten ist, dass der Rowdy Caravaggio wegen eines Mordes aus Rom, wo er seine größten Triumphe feierte, fliehen musste. Seine überstürzte Flucht führt über Neapel, weiter nach Malta. Von dort reist Caravaggio nach Sizilien, dann zurück nach Neapel. Obwohl auf der Flucht, hinterlässt Caravaggio an allen diesen Stationen bemerkenswerte Gemälde für überaus prominente Auftraggeber.
Insgeheim muss Michelangelo Merisi auf eine Begnadigung wegen seines Verbrechens gehofft haben. Großzügige Sonderrechte für Künstler waren um 1600 üblich. Schon der aufbrausende Bildhauer Benvenuto Cellini hatte von diesen profitiert und konnte sich dank Künstlerprivileg einer Verurteilung wegen Mordes entziehen. Warum sollte so etwas nicht auch Caravaggio gelingen?
Denn Caravaggio war ein Maler, der die Kunst um 1600 mit psychologisch ausgeklügelten und kraftvollen Gemälden revolutionierte. Seine Auftraggeber rissen sich um seine spektakulären Gemälde, vor denen sich prächtig nachdenken und diskutieren ließ. In jener vergangenen Zeit ohne Kino, mega Sport-Events oder Facebook & Co. waren neue Kunstwerke und besonders Gemälde die Gegenstände hitziger öffentlicher Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung. Außerdem erzielten die Gemälde Merisis auf dem gerade sich entwickelnden Kunstmark höchste Preise.
Caravaggio in Neapel
Caravaggios innovativer Umgang mit Hell und Dunkel, sein Interesse an realistisch anmutenden Körpern, die er auf abstrakte Bildbühnen zusammen zwängt, und seine spektakulären Kompositionen fanden viele Bewunderer und Nachahmer. Heute wird diese Malschule unter dem Begriff Caravaggisten zusammengefasst. Besonders groß ist sein Einfluss nördlich der Alpen. Sogar in Gemälden Rembrandts ist Merisis Einfluss noch sichtbar.
Aber auch in Neapel hätte sich eine eigenständige Maltradition ohne die Impulse des Kunstrevoluzzers Michelangelo Merisis wahrscheinlich nicht entwickeln können. Der neapolitanische Maler Battistello Caracciolo ist ebenso durch die Gemälde von Caravaggio in Neapel beeinflusst worden wie Juseppe di Ribera oder die berühmte Malerin Artemesia Genteleschi.
In dem Gemälde Die Befreiung Petri lässt sich der Einfluss Caravaggios auf die Malerei Caracciolos besonders gut nachvollziehen. Hier findet sich wie bei Caravaggio eine enge Bildbühne. Gestaltet ist diese als dunkler, unklar definierter Ort, in dem die Figuren dicht aneinander gedrängt dargestellt werden. Besonders spektakulär ist aber das dramatische Schlaglicht, das die Szene effektvoll beleuchtet. Im Vordergrund modelliert das Licht den muskulösen Körper eines eingeschlafenen Mannes mit außergewöhnlich schmutzigen Füßen. Im Mittelgrund hebt es Petrus, der von einem Engel an der Hand geführt wird, hervor. Bezaubernd ist das Wechselspiel der Hände. Während die Hand des Engels zeigt und eine Richtung weist, tastet sich die Hand Petri unsicher im Dunkel voran.
Ein unlösbarer Rätsel ist die Funktion und Bedeutung des halbnackten Mannes im Vordergrund. Wer ist dieser Mann? Ein weiterer Soldat, der Petrus bewacht? Nur eben ohne Helm und Rüstung. Oder ist es ein Mitgefangener Petri im Mamertinischen Kerker? Oder ist er, worauf das rote Lendentuch und der lange Stab, den er in Hand hält, hindeuten Johannes der Täufer? Bloss, was hätte der in dieser Szene zu suchen? Vielleicht ist es einfach die Darstellung eines armen Mannes. Dann hätte Caracciolo sich diesen armen Schlucker vielleicht in dem berühmtesten Gemälde von Caravaggio in Neapel abgeschaut. Denn die Sieben Werke der Barmherzigkeit von Caravaggio sind prominent über dem Hauptaltar der Kirche der Pio Monte della Misericordia aufgehängt. Im Vordergrund ist auch hier ein armer Mann mit außerordentlich muskulösem Körper dargestellt. In der selben Kirche befindet sich gleich gegenüber das fantastische Gemälde Caracciolos.
Die Sieben Werke der Barmherzigkeit
Kurz bevor Michelangelo Merisi auf seiner Flucht aus Rom nach Neapel kam, hatten 7 junge Adelige eine wohltätige Vereinigung, den Pio Monte della Misericordia gegründet. Die karitativen Aufgaben dieser Institution umfassten die Werke der leiblichen Barmherzigkeit wie die Hilfe und Unterstützung für Arme und Bedürftige, die Pflege und Betreuung von Kranken und Gefangenen sowie die Fürsorge für Pilgern auf der Reise ins heilige Land. Besonders wichtig aber war die Befreiung von christlichen Sklaven aus den Händen islamischer Sklavenbesitzer.
Im Jahr 1606 war die neue Kirche des Pio Monte fertig geworden. Für den Hochaltar wurde eine Gemälde bei Caravaggio in Auftrag gegeben, das die sieben Werke der Barmherzigkeit wiedergeben sollte. Denn Anfang des 17. Jahrhunderts spielten die selbstlos erbrachten Werke der Barmherzigkeit für das Seelenheil der Menschen noch eine große Rolle. Heute sind sie ziemlich in Vergessenheit geraten, darum hier eine Aufzählung:
- die Hungernden speisen
- den Dürstenden zu trinken geben
- die Nackten bekleiden
- die Fremden aufnehmen
- die Kranken besuchen
- die Gefangenen besuchen
- Tote begraben
Der Maler Michelangelo Merisi hat diese sieben Werke in seinem Gemälde ökonomisch auf engstem Raum dargestellt. Tatsächlich schildert er einer übervollen Straßenszene, die sich an einer Straßenecke in Neapel hätte abspielen können. Hier ereignet sich also die Barmherzigkeit
Vom heiligen Martin bis zur Caritas Romana
Die einzelnen Werke der Barmherzigkeit in diesem Gemälde Caravaggios auseinander zu halten, fällt gar nicht so leicht. Denn der Maler hat meist die Darstellung zweier Werke auf eine Person verteilt. Der heilige Martin – wie ein junger Edelmann prächtig gekleidet – teilt seinen Mantel, um eine Hälfte an den Bettler im Vordergrund zu reichen. Der Bettler ist hier sicherlich nicht nur die Darstellung eines verarmten Menschen. Vielmehr symbolisiert er durch seine prachtvollen Körperlichkeit, dass der Mensch zwar nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, aber eben immer schwach und der Erlösung bedürftig ist.
Hinter dem heiligen Martin sind die Füße eines niedergestreckten Kranken zu erkennen. Martin verkörpert also die Werke: den Nackten bekleiden und den Kranken besuchen. Hinter dem Heiligen ist ein fetter Gastwirt zu erkennen, der einen Pilger mit Pilgerstab und Jakobsmuschel ein Zimmer in seiner Herberge weist. Während im Hintergrund der biblische Held Samson aus einem Kieferknochen trinkt. Hier sind also die Werke die Fremden aufnehmen und den Dürstenden zu trinken geben zusammengefasst.
Linker Hand lässt sich die heute verstörende Szene der Caritas Romana bestaunen. Dort ist die junge Frau Pero dargestellt, die sich Cimon – ihren zum Hungertod verurteilten Vater – zur Brust nimmt, um ihn zu füttern und so vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der alte Mann streckt seinen Kopf gierig durch das Gefängnisgitter, während seine junge Tochter ängstlich um sich blickt. Nachvollziehbar, wer möchte sich schon bei solch einer inzestuösen Szene überraschen lassen. Mithilfe einer durch die römischen Historiker Valerius Maximus und Plinius dem Älteren überlieferten uralten Legende gelingt es Caravaggio in Neapel die Werke die Hungernden speisen und die Gefangenen besuchen ins Bild zu setzen. Von einer Hauswand fast verdeckt wird ein Leichnam zur Beerdigung getragen. Das siebente Werk der Barmherzigkeit.
Die Madonna della Misericordia von Caravaggio
Caravaggios Gemälde fordert den Betrachter heraus. An dieser neapolitanischen Straßenecke gibt es so viel zu entdecken und beobachten. Etwa die verschämte und heimlichtuerische Haltung der Pero. Das prächtige Gewand des heiligen Martins und seine außerordentlich kräftigen Waden. Aber auch der Dialog zwischen Gastwirt und Pilger erregt Aufmerksamkeit.
Das bunte Treiben wird beobachtet von einer jugendlichen Mutter Maria mit Christuknaben, die auf dem Rücken athletischer Engel heranschwebt. Die knabenhaften Engel in dieser zärtlichen Umarmung sind ganz besondere Hingucker. Aber warum schwebt die Mutter Maria über dieser Szene?
Als Madonna della Misericordia wird die Mutter Maria in Neapel besonders verehrt, weil sie die Seelen aus dem Fegefeuer erlöst. Mit tätiger Nächstenliebe, also zum Beispiel einem Werk der Barmherzigkeit, ließen sich nicht nur die eigene Zeit im Fegefeuer reduzieren, sondern auch die dort schon lodernden Seelen. Vielleicht ist die wohlwollend blickende Maria ja unterwegs auf der Mission Seelenrettung.
Die Geißelung Jesu
Kurz nachdem Caravaggio in Neapel Die sieben Werke der Barmherzigkeit vollendet hatte, bestellte der reiche Tommaso de Fanchis eine Geißelung Jesu für die Familienkapelle in der Kirche San Domenico. Dort hängt heute nur noch die Kopie, das Original wird im Museo Nazionale di Capodimonte ausgestellt.
Der Kontrast zwischen dem leuchtenden und edlen Leib Jesu und den schmutzigen, verknorpelten Körpern der Folterknechte fällt sofort auf. Klassisch schön wird gleichgesetzt mit dem Guten. Dagegen ist das Häßliche und Abgenutzte mit dem Bösen identisch. Eine physiognomische Gleichung, die blöderweise noch heute funktioniert.
Tatsächlich sieht es ziemlich gemein aus, wie einer der sadistischen Schergen Jesus an den Haaren reißt, während der zweite seinen Fuß brutal in die Wade Jesu‘ stemmt; und der dritte im Vordergrund ein Rutenbündel bindet, mit dem er gleich den unschuldigen, weißen Leib wund und blutig schlagen wird.
Obwohl die Szene so realistisch aussieht, orientiert sich Michelangelo Merisi an berühmten Vorbildern. So ist die Körperhaltung Jesu‘ von Zeichnungen des Namensvetters Michelangelo Buonarotti inspiriert. Der Scherge im Vordergrund soll das Zitat einer antiken Skulptur sein.
Das Martyrium der heiligen Ursula
Lange galt das Martyrium der heiligen Ursula als das vermeintlich letze Gemälde Caravaggios. Heute gilt diese Vermutung nicht mehr als sicher. Denn obwohl das Bild knapp einen Monat vor Caravaggios Tod noch in Neapel entstand, wird inzwischen angenommen, dass der Maler auf der Rückreise nach Rom an weiteren Gemälde gearbeitet haben könnte.
Nichtsdestotrotz ist das Martyrium der heiligen Ursula ein verstörendes Gemälde. Denn Caravaggio hat Handlung und Raum auf das Notwendigste reduziert. Ursula steht rechts und blickt verträumt auf ihre von einem Pfeil durchbohrte Brust. Keine Spur von Todesangst oder Todeskampf. Ganz nah bei ihr hat der wütende Hunnenkönig gerade den Pfeil abgeschossen, der Ursula töten wird. Die beiden Hauptfiguren der Handlung sind wie in einer schlechten Theater-Inszenierung unrealistisch zusammengerückt.
Im Rücken der Heiligen hat sich Michelangelo Merisi da Caravaggio selbst porträtiert. Wie ein neugieriger Zuschauer reckt er den Hals, um jedes Detail dieser reichlich unspektakulären Darstellung mitzubekommen. Leider ist das Bild in einem ziemlich schlechten Zustand. Trotzdem lässt sich auch vor diesem Bild prächtig rätseln, was der Maler hier eigentlich meint. Das hat dieser Caravaggio in Neapel gemeinsam mit vielen andern Gemälden des genialen Kunstrevolutzers Michelangelo Merisi.
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Service Caravaggio in Neapel
- Caravaggios Gemälde Die 7 Taten der Barmherzigkeit findest du in Neapel in der barocken Kirche der Pio Monte della Misericordia in Via del Tribunali 253. Über die Eintrittspreise und Öffnungszeiten informiert diese Website.
- Die Geißelung Jesu ist im Museum von Capodimonte ausgestellt. Über Eintrittspreise und Öffnungszeiten informiert die Museums-Website.
- Caravaggios Gemälde Martyrium der heiligen Ursula ist ein Highlight in der Sammlung der Banca d’Itlia im Palazzo Zevallos Stigliano auf der Via Toledo. Mit diesen Informationen zu Öffnungszeit und Eintritt kannst Du Deinen Besuch planen