Kassel und die documenta 2022
Alle 5 Jahre erwacht die Stadt Kassel im Nordhessischen in Erwartung eines 100 tägigen Sommermärchen mit dem Namen documenta aus ihrem Dornröschenschlaf. 2022 ist daraus ein böses Erwachen, ein regelrechter Alptraum geworden.
Als ich mich auf den Weg nach Kassel machte, hatten sich die dunklen Wolken der hitzigen Debatte um antisemitische Bilder auf der documenta fifeteen längst zu einem heftigen Proteststurm zusammengebraut, der erbarmungslos auf die Weltkunstschau nieder prasselte. Der Traum von der documenta 2022 als heiteres internationales Kunstereignis war lautstark zerplatzt. Denn der erbitterte Streit um einige wenige Bilder hatte die Kunstwerke und Anliegen von 1.400 Künstlern so stark überschattet, dass diese in der öffentlichen Wahrnehmung der documenta fast völlig untergingen.
Damit mich niemand missversteht: die Kritik an dem Werk People’s Justice des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, das antisemitische und menschenverachtende Darstellungen enthält, ist berechtigt. Der Umgang der documenta 15 mit den Vorwürfen des Antisemitismus wirft Fragen auf. Um eine kritische Diskussion kommt darum niemand herum. In einem lesenswerten Beitrag ordnet die israelische Autorin Shany Littma den Streit um People’s Justice ein. Sie kommt zu dem Schluss, dass dieser Streit bedeutende Fragen überdeckt, welche die Kunstausstellung im Jahr 2022 thematisiert. In diesem spannenden Gespräch in den Kulturfragen des Deutschlandfunks, erörtert der Kurator Tom Holert, welche Konsequenzen sich aus der Antisemitismus Debatte für die Kunstwelt ergeben.
Trotz der heftigen Debatte um die documenta fifeteen habe ich mich in Berlin in den ICE gesetzt und bin gut 3,5 Stunden nach Kassel gefahren. Ich habe mir 3 Tage Zeit genommen, um zwischen Wilhelmshöhe, Fridericianum, Fulda und Bettenhausen zu pendeln, dabei die Kunstschau zu erkunden und mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Tatsächlich gibt es 2022 so viele künstlerische Positionen zu entdecken, dass ich auch in drei Tagen nicht alles sehen konnte. Darum kommt hier auch nur eine kleine Auswahl, von Eindrücken, die ich mit nach Hause genommen habe. Eines sei jetzt schon verraten mit einem klassischen, europäisch geprägten Kunstbegriff kommt man auf der documenta 2022 nicht sehr weit.
Kassel: Kunst & Kollektiv
Für 2022 wurde die documenta 15 von Kollektiven kuratiert. Die künstlerische Leitung der Ausstellung liegt beim indonesischen Kollektiv ruangrupa. Dieses hat wiederum 50 Künstler*innenkollektive eingeladen, die als Kurator*innen-Teams gemeinsam mit weiteren Künstler*innen ihre Projekte für Kassel realisierten.
ruangrupa experimentiert mit einem gewagt dezentralisiertes Konzept für eine international beachtete Kunstausstellung. Diese Struktur hat schlussendlich auch zu dem verstörenden Verantwortungsvakuum während der Debatte um das anstößig antisemitische Werk des Kollektiv Taring Padi geführt. Dennoch ist dieses dezentralisierte Konzept interessant, weil es untersucht, ob die Vorstellung der individuellen Autorenschaft noch zeitgemäß ist, oder ob ein Kollektiv von Produzenten der Position des Autors überlegen ist.
Kassel ist während der documenta 15 voll von politischen Aktivisten und Protestkulturen. Bunte Bannern, fordern zur Selbstreflexion und Inklusivität auf. Merkwürdige temporäre Architekturen laden als Orte des Nachdenkens zum Verweilen ein. Andere Räume entpuppen sich als ausgewiesenen Chill-out-Zonen für Neurodivergente. Auf der Karlsaue wird kompostiert, am Ottoneum kann in Workshops Käse produziert werden und irgendwo wird sogar geimkert. In bunt zusammen gewürfelten Sitzecken hocken Besucher*innen gemeinsam mit dem Guide, der sie eben durch die Ausstellung geführt hat. Dort diskutieren sie lebhaft über die gesehene und erlebte Kunst. Denn für die Macher der documenta 15 ist eines besonders wichtig: Make friends no art.
Useless is usefull!
Außerdem gibt es Kunstschulen mit speziellen Angeboten für Kinder und Jugendliche. Für Eltern mit Kindern sind auf der documenta 2022 Kinderkrippen eingerichtet, in denen sie sich gemeinsam an die Kunst herantasten können. In kollektiv betriebenen Kiosken werden Kunsthandwerk, T-Shirts und Schallplatten verkauft. Und in partizipativen Oral-History-Projekten können Besucher*innen ihre Spuren und Geschichten hinterlassen. Sogar über Cheesecoin economics lässt sich in Kassel nach dem Motto “useless is usefull“ etwas lernen.
Das Kunstwerk ist dabei nicht unbedingt ein herausragendes Objekt, das Nachdenken über die Welt, in der wir leben, anregt und unterstützt. Das Kunstwerk wird häufig verstanden als ein ganz praktisches Ding oder sogar Projekt, mit dem sich unsere Welt verändern und aktiv verbessern lässt. Und deswegen wollen anstelle faszinierender Meisterwerke in dieser Kunstausstellung häufig Diagramme und Mindmaps entschlüsselt werden, die eben solche Projekte und ihre Prozesse künstlerisch dokumentieren. Diese Protokolle und Skizzen werden im Jargon der documenta 15 als harvest bezeichnet.
Lumbung, Harvest, Majelis, Meydan
Überhaupt muss die Besucher*in 2022 für die documenta viele neue Begriffe lernen. Der wichtigste ist: lumbung. lumbung ermöglicht laut dem indonesischen Kollektiv ruangrupa …
… eine alternative Ökonomie der Kollektivität, des gemeinsamen Ressourcenaufbaus und der gerechten Verteilung. lumbung basiert auf Werten wie lokaler Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration.
documenta-fifteen.de
Das Wort lumbung kommt aus dem Indonesischen und bezeichnet die kommunale Reisscheune. Diese ist ein “Ort, an dem Bäuer*innen den Ernteüberschuss miteinander teilen. Nur den Überschuss! Wenn sie nichts haben, müssen sie auch nichts abliefern.“ Die Ökonomie des gerechten Teilesn ist ein ganz großes Thema auf der documenta 15.
Die Bedeutung des lumbung habe ich im Glossar auf der Website der documenta nachgeschaut. Genauso wie den Begriff majelis, der so etwas wie Versammlung oder Zusammenkunft bedeutet. Dort spielt nongkrong, das gemeinsam Abhängen, eine bedeutsame Rolle. Wenn alles gut geht, kann auf das nongkrong der harvest folgen. Dieser harvest wird den Besucher*innen in Kassel an vielen Stellen präsentiert. Die ungewohnten Begriffen und Wortschöpfungen formulieren also die Anders- und Neuartigkeit des Ausstellungskonzepts. Denn die “documenta fifteen steht … für Vielstimmigkeit. Vor diesem Hintergrund bedient sie sich der Begriffe aus unterschiedlichen Sprachen.“
Der globale Süden auf der documenta 15
Immer wieder wird betont, dass vor allem Werke von Künstler*innen und Kollektiven aus dem globalen Süden in Kassel zu sehen sind. Aber was bedeutet eigentlich globaler Süden?
Globaler Süden ist eine geografische Vokabel, die sich anhört, als hätten wir im Westen nichts damit zu tun. Denn auf den ersten Blick suggeriert sie Ferne, sichere Distanz, Andersartigkeit und Fremdheit. Künstler, die aus dieser Weltregion ihre Werke in die documenta-Stadt Kassel schicken, müssen weit entfernt in den sogenannten Entwicklungs- oder Schwellenländern irgendwo um den Äquator zuhause sein. Trifft diese Vermutung zu?
Nein. Denn der globale Süden ist nicht nur durch die grausame Geschichte der Kolonisation aufs Engste mit Europa verbunden. Inzwischen teilen wir durch weltumspannende digitale Distributionssystem eine gemeinsame Kultur der unbegrenzten Kommunikation. Sowieso ist der globale Süden seit der Ankunft von Flüchtlingen aus Krisen-, Kriegs- und Hungerregionen dauerhaft in Europa zuhause. Und an manchen Orten poppen sogar die prekären Produktionsmethoden dieses Südens in Europa auf. Beispiel, die Textilstadt Prato mitten in der beliebten Urlaubsregion Toskana oder die Schlachthöfen der deutschen Fleischindustrie in Niedersachen.
Tatsächlich gelingt es der documenta 2022 die marginalisierten und in Europa häufig unbekannten Perspektiven von Künstler*innen aus dem globalen Süden nach Kassel zu holen. Mitten in Kassel wurde die schmutzige Wäsche des europäischen Kolonialismus rund um dem Friedrichsplatz abgeworfen. Aber in den deutschen Feuilletons ist von einer Debatte über diese Positionen nur wenig zu lesen. Verwunderlich, ist doch das Projekt Dekolonisation mitten im deutschen Kulturbetrieb angekommen. Auch wenn die Forderung nach Rückgabe von geraubtem Kulturgut aus ehemaligen Kolonien nur zögerlich angegangen wird.
Wo ist die Kunst auf der documenta?
Nachdem das Banner People’s Justice des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi vom Friedrichsplatz verschwunden ist, steht dort auf einer einsamen Insel die Aboriginal Tent Embassy des australischen Künstlers und Aktivisten Richard Bell. Das Aufwachsen als Mensch zweiter Klasse in der rassistischen Gesellschaft Australiens hat Bell politisiert. Mit Statements wie: “White invaders you are living on stolen land“, wird das große Thema der documenta in Kassel vorgestellt. Die Schulden des Westens entstanden durch die europäische Kolonisation; sowie die Auseinandersetzung mit deren dramatischen Spätfolgen auf kolonisierte und marginalisierte Bevölkerungen und Ethnien überall in der Welt.
Als die erste documenta 1955 in Kassel eröffnet wurde, wurden die Kunstwerke ausschließlich im Museum Fridericianum gezeigt. 2022 dehnt sich die Kunstausstellung fast über die ganze Stadt. Das Fridericianum ist auch kein Museum mehr, es wird unter dem Namen Fridskul als Schule genutzt. Vielleicht hätte sich Joseph Beuys darüber gefreut, lässt sich die Fridskul doch als eine Art Weiterentwicklung seines Büros der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung verstehen.
Vor 50 Jahren diskutierte Beuys, der Künstler, Lehrer und Schamane während der documenta 5 im Fridericianum 100 Tage über gesellschaftliche Gestaltungsfragen der direkten Demokratie und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung. Erleben wir 2022 in Kassel eine aktualisierte Fortsetzung dieser Debatten? Überall in der Kassel stolpern die Besucher*innen außerdem über die legendären 7000 Eichen, einem Projekt von Joseph Beuys für die documenta 1982. Die 7000 Eichen erinnern genauso wie das Büro für direkte Demokratie daran, dass die Weltkunstschau in Kassel schon häufig Labor für partizipatorische Kunstpraxis und eine Verschmelzung der Rollen von Künstler und Politiker gewesen ist.
Fridskul: eine Schule im Fridericianum
Die Kurator*innen von ruangrupa verstehen das Fridericianum als lumbung. Also als ein Gebäude in dem die Ernte eingelagert und geteilt wird. Darum ist hier ein Ort der Bildung entstanden, an dem Workshops, Seminare aber auch die Arbeit von Künstler*innen mit Kindern und Jugendlichen angeboten werden. Von diesen Workshops oder Seminaren habe ich allerdings nichts mitbekommen. Ich bin durch verwaiste Workshop-Studios geschlendert, in denen ich kalten Spuren und verwischten Fährten vergangener kreativer Prozesse folgen konnte.
Einen großen Schwerpunkt bilden im Fridericianum Archive wie The Black Archive, Asia Art Archive und Archives des luttes des femmes un Algérie. Sie sollen zeigen, “was sie Praxis der Archivierung bewirken kann, wenn sie mit Protest und Gemeinschaft verknüpft ist“. Aber sie stellen die Besucher*innen auch vor die Frage: wer soll das alles lesen? Sogar wenn man dieser bedeutenden Archivarbeit mit Respekt und Interesse gegenübertritt, wird man von der großen Fülle schlicht überfordert.
Wer soll das alles lesen?
Schon im Fridericianum zeigt sich deswegen ein Hauptproblem der documenta 15. Weder scheint sich jemand überlegt zu haben, wie die vielen schriftlichen Informationen konsumiert werden sollen, noch woher die Zeit während des Besuchs der Ausstellung kommen soll, die langen dokumentarischen Videos angemessen zu würdigen. Offen bleibt auch, wie die hübsch anzusehenden aber kafkaesk verzweigten MIndmaps an den Wänden entschlüsselt werden können.
2022 hat die documenta ein Vermittlungsproblem. Das hat auch damit zu tun, dass in vielen Kunstwerken mit Texten und Parolen gearbeitet wird. Für die Texte liegen aber keine Übersetzungen vor. Ebenso bleiben von den suggestiv in einer geheimnisvollen Sprache vorgetragene Erzählungen oder Songs an vielen Orten vor allem emotionale Stimmungswerte. Dennoch überwiegt bei mir der Eindruck, dass es viel wichtiger ist, die vielen künstlerischen Positionen aus dem globalen Süden kennenzulernen, als sie sofort zu verstehen. Es scheint so zu sein, dass auf der documenta etwas ganz und gar Neues entsteht, für das mir häufig die Begriffe und die Worte fehlen.
Natürlich gibt es im Fridericianum auch küntlerische Einzelpositionen. Da sind zum Beispiel Richard Bells Gemälde mit ihren kräftigen Farben und den sehr direkten Botschaften des bekannten Aborigine-Aktivist. Die Werke der Off Biennale Budapest, wollen ein Museum der transnationalen Roma-Kunst gedanklich vorweg nehmen. Ich bin tatsächlich an den bemalten Motorhauben von Edelkarossen hängen geblieben. Der Künstlerin Selma Selman ist es gelungen, mir schlagartig viele meiner Vorurteile gegen Roma bewusst zu machen.
documenta Halle
Die documenta Halle am Friedrichsplatz in Kassel betrete ich durch eine rostige Wellblechhütte. Sie soll an die Architekturen der Slums in Nairobi erinnern. In der Hütte umfängt mich eine Geräuschkulisse entfernt fahrender Autos und gedämpfter Stimmen. Diese Straßengeräusche stellen eine akustische Verbindung her zwischen der documenta in Kassel und Lunga Lunga. Denn in diesem Teil des Mukuru-Slum in Nairobi, wurde der Sound der Straße aufgenommen. Und tatsächlich werde ich durch diese sensible Sound-Installation auf das eingestimmt, was mich erwartet.
Denn in der documenta Halle präsentieren Künstler*innen des Wajukuu Art Project aus dem Lunga Lunga ihre Bilder und Skulpturen. In einem Dokumentarfilm berichten die Künstler*innen über ihr Kunstverständnis und ihre Motivation Kunst zu produzieren. Das wichtigste Ziel ist es, “Mukuru zu einem Ort zu machen, an dem Kinder sich frei entfalten können, und Arbeitsplätze durch die Produktion und den Verkauf qualitativ hochwertiger Kunst geschaffen werden.“ Widerspricht diese pragmatische Vorstellung, was mit Kunst zu erreichen sei, dem universellen, europäischen Kunstverständnis? Ganz sicher!
Etwas weiter hat das INSTAR, das Instituto de Artivismo Hannah Arendt aus Kuba einen Space auf der documenta in Kassel eröffnet. Schon der Neologismus Artivismo macht es deutlich, dieses Kollektiv arbeitet an der Schnittstelle von Aktivismus und Kunst. In Kassel präsentiert INSTAR eine Gegenerzählung zur offiziellen kubanischen Kulturgeschichte, die besonders herausstellt, wie schwierig die Arbeitssituation für Künstler*innen unter der scharfen Zensur des Castro-Regime ist. Ich muss zugeben, dass mein Blick auf Kuba romantisch verbrämt ist, deswegen hat mich die deutliche Kritik auch schwer betroffen.
Am Ende der documenta Halle arbeitet die lumbung Press, eine Offset Druckerei, die allen Kollektiven und Künstlern der documenta zur Verfügung steht, um Druckerzeugnisse zu produzieren. “Die Idee ist es, einen direkten Fluss von Information durch die unvermittelte Weitergabe von Bildern und Erzählungen zu erzeugen.“ Die hier hergestellten Postkarten, Zines, Bücher und Poster können direkt auf der documenta in verschiedenen Kios, im Buchhandel oder in den Künstler eigenen Ekosistemen vertrieben werden. Die lumbung Press ist so eine Schnittstelle zu alternativen Formen des Handelns und Wirtschaftens, mit denen auf der documenta 15 experimentiert wird.
Stadtmuseum Kassel
Im Stadtmuseum wird die Stadtentwicklung Kassels seit dem 18. Jahrhundert anschaulich ausgebreitet, schon deswegen lohnt der Besuch. Noch reizvoller wird das Museum während der documenta 15. Denn hier sind künstlerische Positionen aus Australien und Aotearoa ausgestellt. Aotearoa ist der Name der Maori für Neuseeland.
Safdar Ahmet ist ein englischer Künstler, der nun in Sydney lebt und dort im Rahmen des Refugee Art Projects Kunstworkshops für Geflüchtete und Asylsuchende anbietet. Seine Videoinstallation Border Farce, die er gemeinsam mit Kazem Kazemi und der Heavy Metal Band Hazeen realisiert hat, dokumentiert die Erfahrungen und emotionale Zerrüttung Geflüchteter, die in australischen Detention Centre gefangen saßen. Erschütternd sind nicht nur diese Berichte. Auch die nihilistische Weltsicht der Black Death Metal Music, mit der er sich die Vergangenheit von der Seele hämmert, ist nichts für schwache Nerven. Denn die Musiker treten als Monster, als lebende Tote und Opfer illegaler Kriege auf.
Das Kollektiv FAFSWAG aus Aotearoa wählt einen versöhnlicheren Weg. In einer Archiv-Ausstellung zeigen sich die Künstler*innen in opulent inszenierte Fotoarbeiten und interaktiven Videos, die queeres indigenes Vergnügen und Lebensgefühl aus dem pazifischen Raum vorstellen. Der Name FAFSWAG ist dabei Programm. Denn er setzt sich zusammen aus Silben des Wortes fa’afafine, das in samoaischen Kulturen non-binäre Geschlechterrollen bezeichnet, und dem Begriff Swag, der in etwa lässige Coolness bedeutet.
Tatsächlich posieren die Modelle cool und gleichzeitig verführerisch als Pin-Ups, Sex-Gött*innen oder schwulen Männerfantasien. Die kitschigen Fotoarbeiten des Künstlerduos Pierre e Gilles scheinen dabei Pate gestanden zu haben. Andere Bilder wiederum zitieren die Bildsprache der Maori-Porträts des in Europa geschulten Malers Gottfried Landauer. Auf der Website FAFSWAGVogue.com werden die queere Ballroom Culture und deren Vogueing Battles aus dem New York der 70er und 80er Jahre adaptiert. In einer Art Videospiel können die User*innen Battles zusammenstellen und mehr über deren Protagonisten erfahren.
Kassel Hauptbahnhof
Schon architektonisch ist der Hauptbahnhof im Zentrum Kassels ein Highlight. Denn hier verschmelzen Architektur des 19. Jahrhunderts mit der absurden Eleganz der Nachkriegsmoderne, dem nüchternen Protz der 80er und dem Bauen der Gegenwart. Vor dem Bahnhofsgebäude hat Jonathan Borofskys Skulptur The Man Walking to the Sky von der documenta 1992 ihren endgültigen Platz gefunden. Ein monumentales Zeugnis dafür, dass in der Vergangenheit Kunstwerke auf der documenta unterhaltsam, lustig, unernst und eben auch mal bloß spektakulär Kalauer sein durften.
Auf dem Rainer Dierichs Platz vor dem Bahnhof hat Dan Perjovschi sein Horizontal Newspaper fallen lassen. Unregelmäßig sind weiße Flächen wie Zeitungsseiten auf dem Platz verteilt und mit witzigen Zeichnungen versehen. Nach Auffassung des Künstlers sollen diese Zeichnungen nicht als Comics oder Graffiti missverstanden werden. Vielmehr fertigt Perjovschi ironische Pressezeichnungen an. Aktuelle Ereignisse, wie der russische Krieg in der Ukraine, die COVID Pandemie oder die drohende Wirtschaftskrise werden in einer präzisen Bild-Wort-Sprache kritisch kommentiert und in größeren Kontexten sichtbar gemacht. Im Verlauf der documenta werden diese Zeichnungen fortlaufend aktualisiert. Perjovschi hat außerdem die Säulen des Fridericianum in monumentale News-Kolumnen verwandelt, in denen er Themen der documenta wie Unabhängigkeit, Großzügigkeit, Humor … verhandelt.
Auch das Bahnhofsgebäude wird als Ausstellungsraum genutzt. Dort finden sich Arbeiten einer Gruppe von Künstler*innen, die der amerikanische Künstler Jimmie Durham kurz vor seinem Tod im November 2021 zusammen geführt hatte.
Jimmie Durham & A stick in the Forest by the side of the road
Joen Vedel ist einer dieser Künstler. Bei seinem Beitrag zur documenta 15 handelt es sich um eine Klanginstallation, die seinen Versuch dokumentiert, die tatarische Sprache zu erlernen – die Muttersprache seiner Partnerin. In einem Seitenflügel des Hauptbahnhofs hat der Künstler riesige Lautsprecher an die Decke montiert, deren Größe in keinerlei Zusammenhang zu gestellten Aufgabe des Spracherwerbs steht. Vielmehr erhält die Klangarbeit so eine skulpturale Anmutung, deren Dimension und Positionierung im Raum sofort unheimliche und absurde Bilder von Autorität hervorrufen.
“Ich muss nichts wissen, ich muss nur darüber nachdenken“
Ich muss nichts wissen, ich muss nur darüber nachdenken, ist eine zentrale Idee Jimmie Durhams, um welche die kleinen Gruppenausstellung im KAZimKuBa kreist. Für einen Flugzeug-Ingenieur oder einen Automechaniker hätte dieses Denken wahrscheinlich fatale Folgen. Aber Durhams Werk ist keineswegs westlichen Erkenntnismethoden verpflichtet. Es ist tief beeinflusst von der Spiritualität der Wörter und der freien Kombination der sich dahinter verbergenden Konzepte. Besonders beunruhigend fand ich in der Ausstellung die Ausforschung des menschlichen Körpers in den fragilen Objekten von Jone Kvie, die “etwas von einer metaphorischen Begegnung zwischen Wissenschaft und der westlichen Geschichte der Bildhauerei“ haben. Die runden Teppiche von Maria Thereza Alves dagegen verweisen auf den kolonialen Ursprung der exotischen Flora von Neapel.
Von Durham selber stammt der bronzene Kopf einer Schildkröte. Für ihn war das ein Forschungsobjekt, an dem der Künstler als „theoretischer Biologe“ herausfinden wollte, ob eine Schildkröte wohlmöglich zwei getrennte Gehirne hat. Die Frage: Was könnte das für die Wahrnehmung und Interaktion der Schildkröte bedeuten.
WH 22
WH22 ist die Abkürzung für einen Gebäudekomplex mit Adresse Werner-Hilpert-Straße 22. Hier hat das palästinensische Kollektiv The Question of Funding eine Ausstellung mit Künstlern aus dem Gaza-Streifen kuratiert. The Question of Funding ist eine lose Gruppe von Künstler*innen, die seit 2019 Ausstellungen und Kunstprojekte in Palästina organisiert und finanziert. Die bedeutendste Frage dieser Gruppe: wie kann palästinensische Kunst- und Kulturarbeit unter den einschränkenden Bedingungen der israelischen Besatzung in Gaza und dem Westjordanland funktionieren.
Dem Kollektiv wird immer wieder Nähe zu der antiisraelische Kampagne BDS (Boycott, Desinvestment, Sanctions) unterstellt. Die Teilnahme von The Question of Funding löste deswegen eine anhaltende Debatte um Antisemitismus auf der documenta 2022 aus. Wahrscheinlich in diesem Zusammenhang kam es in der Nacht vom 27. auf den 28. Mai zu einem Einbruch im WH22. Unbekannte beschmierten die Räume mit Parolen, die als rechtsextreme Gewaltandrohungen interpretiert werden können.
Die Künstler von Question of Funding stellen keine eigenen Arbeiten aus. Sie haben die Räume der Gruppe Eltiqa übergeben, die eine Galerie im Gaza-Streifen betreiben. Unter deren Künstlern ist auch Mohammed Al Hawajri. Er zeigt in seiner Serie Guernica Gaza Bilder, in denen er in ländlichen Idyllen bekannter Maler wie Millet oder van Gogh israelische Soldaten als Angreifer aufmarschieren lässt. Der Titel wirft sofort die Frage auf, ob hier Palästina mit Guernica und die israelische Armee mit Faschisten gleichgesetzt wird oder ob Guernica als weltweit bekannte Ikone gegen sinnlose Gewalt und Zerstörung im Krieg verstanden werden soll.
Hallenbad Ost und das Kollektiv Taring Padi auf der documenta 2022
Die Arbeiten des Kollektiv Taring Padi aus Indonesien sind während der documenta 15 an vielen Stellen in Kassel zu sehen. Das umstrittene Werk People’s Justice hat zu Beginn der Kunstausstellung wegen antisemitischer Darstellungen für einen gewaltigen Skandal gesorgt. Die Mitglieder der Kollektivs verstehen sich als politische Künstler. Die meisten ihrer Banner und Plakate entstanden im Eigenauftrag, manche auf für NGOs.
Im Hallenbad Ost kann sich die Besucher*in ein Bild über 20 Jahre Kunstproduktion von Taring Padi, des Instituts für bürgernahe Kultur, machen. Die großflächigen Banner und Plakate sind wegen der Fülle an Details immer wieder als Wimmelbilder beschrieben worden. Besonders auffällig ist die unglaubliche Stilvielfalt der Arbeiten. In ihnen scheinen Einflüsse aus Cartoons, Agitprop, javanischem Schattenspiel und mythologischen Erzählungen zu etwas Neuem zusammenzufließen.
Nicht immer wird ganz klar, welche Aussage die Bilder haben. Aber es scheint eine universelle Botschaft zu geben, die trotz aller kultureller Distanz sichtbar wird: Der Aufstand der Unterdrückten gegen die Unterdrücker oder der Schwachen gegen die Starken. Gefordert wird Bildung für alle, das Recht auf Abtreibung, Demokratie, mehr Umweltschutz. Gekämpft wird gegen Kinderarbeit, Ausbeutung, Korruption und die Macht des Geldes. Diesem sympathischen Kampf schließe ich mich gerne an. Aber dass die Guten immer freundliche Gesichter haben, die Bösen aber als Raubtier oder Schwein dargestellt werden, ist für mich dann doch zu sehr schwarzweiß.
Die Ghetto Biennale in St Kunigundis
Die römisch katholische Kirche San Kunigundis wurde in den 1920er Jahren in Kassel Bettenhausen errichtet. Als erste Kirche in Spannbetonbauweise steht die einschiffige Hallenkirche im romanischen Stil heute unter Denkmalschutz. Seit 2019 ist die Kirche geschlossen, da während dringend notwendiger Restaurierungsmaßnahmen schwere Schäden am Deckengewölbe festgestellt wurden. An der Eingangstür wird mir erzählt, dass die documenta 2022 mit der Ghetto Biennale aus Port-au-Prince hier habe einziehen können, weil mit den Einnahmen die Wiederherstellung der Kirche weiter betrieben werden könne. Sogar die Zentrale in Rom habe dem zugestimmt.
In sakralen Kirchenraum prallen nun christliche Bildwelten und haitianische Kunst direkt aufeinander. Das ist besonders faszinierend, weil die bizarren Figuren des Künstlers André Eugènes sofort Bilder von Voodoo Zauber evozieren. Seine surrealen Assemblagen spielen mit den großen Fragen von Leben und Tod. Denn der Mensch beginnt – laut Eugènes – sofort nach seiner Geburt am Busen des Todes zu nuckeln. Kein beruhigender Gedanke. Der Künstler ist ist eine führende Figur im Künstler*innen-Kollektiv Atis Rezistans. Seine grotesken Figuren setzt Eugènes – wie auch andere Mitglieder des Kollektivs ihre Werke – aus dem Wohlstandsmüll des 21. Jahrhunderts zusammen, der häufig aus dem Westen kommend auf Haiti entsorgt wird.
Zur documenta 15 sind mehr als 30 Künstler*innen der Atis Rezistans nach Kassel gekommen. Die Künstler*innen des Widerstandes stellen nicht nur fertige Werke aus. Michel Lafleur und Harold Pierre Louis fertigen im Verlauf der Ausstellung weitere Assemblagen mit Fundstücken aus Kassel. In St. Kunigundis habe ich während meines documenta Besuchs zum ersten Mal das Gefühl in einer richtigen Kunstausstellung zu sein. Wahrscheinlich weil die ausgestellten Werke so selbstverständlich mit der Kirchenkunst korrespondieren und dort auch ihre Wurzeln haben.
Lohnt sich die documenta 15 in Kassel?
Ein klares Ja! 2022 lohnt ein Besuch auf der documenta in Kassel. Die Kunstausstellung trägt den merkwürdigen, inoffiziellen Beinamen Weltkunstschau. Besonders im Rahmen der Debatte um antisemitische Bilder sind Zweifel an diesem Anspruch laut geworden. Doch meiner Meinung nach ist die documenta im Jahr 2022 diesem Titel sehr gerecht geworden. Denn noch nie hatte ich die Möglichkeit an einem Ort und innerhalb so kurzer Zeit so viel von unserer Welt kennenzulernen. Manche Entdeckungen haben mich sehr überrascht.
Die Archiv-Ausstellung des Kollektiv FAFSWAG hat mir die Augen dafür geöffnet, dass es eine queere indigene Community in Aotearoa, Neuseeland gibt. Da hätte ich selber drauf kommen können, aber mein Blick war zu sehr von romantischen und exotischen Bildern vernebelt. Ähnlich ist es mir mit der Arbeit des Instituto de Artivismo Hannah Arendt aus Kuba gegangen, die meine verklärten Vorstellungen vom Castro Regime korrigiert haben.
Die großen Namen und die Meisterwerke fehlen auf der documenta fifteen. Habe ich die vermisst? Am Anfang schon, denn sie hätten mir die Orientierung erleichtert. Schlußendlich bin ich aber froh in einem Überfluss von Eindrücken versinken zu können, die mich auf neue Gedanken gebracht haben. Zum Beispiel den, dass es nicht auf das Werk als verwertbares Endprodukt eines künstlerischen Prozesses ankommt. Denn es ist nicht das Werk, das die Welt verändert. Veränderung entfaltet sich im Prozess, der dahin führt.
Die Klimakrise ist ein Prozess. Die Erderwärmung ist ein Prozess. Die Umweltkrise ist ein Prozess. Die documenta 15 versucht zu belegen, dass sich Prozesse im Kollektiv steuern und beeinflussen lassen. Das ist eigentlich eine gute Botschaft. Also nach Kassel fahren und zur Fridskul gehen.
Wer sich lieber im Freien rumtreibt, kann in der Karlsaue sehr eindrucksvolle Installationen entdecken. Zum Beispiel den Pavillon Return to Sender, des Nest Collective. „Während der documenta fifteen in Kassel prangert das Kollektiv die negativen Folgen der Urbanisierung Kenias mithilfe einer imposanten Multimedia-Installation an: Return to Sender ahmt eine dystopische Müllandschaft nach.“ Dabei wird sofort deutlich, warum es keine gute Idee ist unseren Wohlstandsmüll nach Afrika zu entsorgen. Auch das eine Erkenntnis, die Besucher von Kassel aus nach Hause tragen können.
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