Typisch Azoren!
Ist schon ein bisschen exzentrisch, hier eine gotische Kirche hinzusetzen. Man muss sich das so vorstellen: Da ist dieser See, die Lagoa das Furnas, ein ehemaliger Vulkankrater natürlich wie auf São Miguel und den Azoren üblich, und das Seeufer ist so gut wie nicht besiedelt. Die Heiße-Quellen-Stadt Furnas liegt hinter den nächsten Hügeln, am Rand des Sees stehen, versteckt in verwilderten Gärten, ein paar verwitterte Villen, die aber höchstens sporadisch genutzt werden – vereinzelt hören wir das raue Gebell von einsamen Hunden.
Das ist irgendwie typisch für die Azoren: tolle Landschaften, die mit ein paar Ausnahmen kaum verbaut sind – weil das Geld fehlt, weil das Prestige fehlt, weil die Menschen fehlen und damit der Antrieb, Geld zu verdienen. Zustände wie im Paradies eigentlich, wo gibt es das sonst noch in Europa? Natürlich, wir sind im Winter da, sonst wären hier mehr Touristen unterwegs, aber auch in der Urlaubssaison werden die Inseln nicht überrannt – noch nicht.
Französische Gotik vor wuchernder Waldkulisse
Mitten in diese Idylle baute der wohlhabende azorianische Botaniker José do Canto eine gotische Kapelle, die sich stilistisch an der Kathedrale von Chartres orientiert. Zu dem Bauherrn passt das: Er konnte schon als Zehnjähriger die Werke des jüngeren Cato im Original lesen, war ein leidenschaftlicher Camões-Fan und besaß eine Privatbibliothek mit 18.000 Titeln – ein höchst kultivierter Mensch also. Nur zur Umgebung passt die Kirche überhaupt nicht.
Das wird auch nicht wesentlich dadurch abgemildert, dass José do Canto um den Bau einen ausgedehnten Park anlegte. Darin war er sehr gut, auch in der Hauptstadt Ponta Delgada hat er einen schönen botanischen Garten hinterlassen, der bis heute seinen Namen trägt – mit lauter exotischen Pflanzen. Die Kapelle Nossa Senhora das Vitórias am See von Furnas ist ebenso ein Exot: ein Schmuckstück in einer Parkanlage. Was auch sonst? Es war ja niemand da, der zur Messe hätte gehen können. Immerhin erzeugt die Kirche mit ihrer domestizierten floralen Baukunst einen reizvollen Gegensatz zu der wuchernden Waldkulisse gleich dahinter. Was die wohl verbirgt?
Das Paradies liegt gleich nebenan
Der Weg in den Wald ist beschildert, Salto do Rosa steht auf den Wegweisern. Das macht uns neugierig. Anfangs ist der Baumbewuchs noch licht, auch die obligatorische Kuhweide, auf die wir auf den Azoren früher oder später immer treffen, darf nicht fehlen, doch danach rücken Bäume und Gestrüpp näher und näher zusammen. Das ist etwas ganz anderes als die Parkanlagen-Natur, die wir schon kennen. Nichts ist hier angelegt, oder wenn es einmal so war, ist nun alles vollkommen verwildert. Nur der immer schmalere Trampelpfad gibt Orientierung.
Auch hier wachsen die baumhohen Farne, die wir zuerst in den botanischen Gärten bestaunt haben, aber nun sehen wir, dass diese Exoten tatsächlich auf den Azoren heimisch sind. Auch Azorenlorbeer gibt es, wir sehen ihn immer wieder, obwohl er mehr und mehr von eingeführten Pflanzen verdrängt wird. Selbst die Blumen sind alte Bekannte, aber nun in ihrer wilden Variante und an manchen Stellen so dicht gesetzt, wie wir es noch nicht erlebt haben.
So begeistert wir von den Parks der Insel waren, das hier stellt das bisher Gesehene noch einmal in den Schatten. Dazu kommt die Feuchtigkeit, die aber längst nicht so drückend ist wie in den Tropen, jedenfalls jetzt im Winter. Überall glitzern Tropfen vom letzten Regen, der kaum ein paar Stunden her ist, der Boden ist an manchen Stellen aufgeweicht, die Rinde der Bäume glänzt vor Nässe und das Moos auf den Steinen wächst grün und saftig. Schon das Luftholen ist ein reines Vergnügen. So könnte doch das Paradies gewesen sein, oder?
Ein Wasserfall namens Rose
Neben uns plätschert schon seit einiger Zeit ein Bach. Die Vegetation wird zusehends üppiger, als wollte sie etwas verbergen. Wir erklettern mehrere Bodenwellen – nicht mit Händen und Füßen, sondern auf Holztreppen. Denn der Weg ist gut gepflegt, Naturtourismus spielt eine wichtige Rolle auf den Azoren mangels anderer Einnahmequellen, und wir sehen das Bemühen, diesen Tourismus in geregelte Bahnen zu lenken, damit die Natur nicht gleich wieder zertrampelt wird. Wir sind zwar ganz allein hier im Wald, aber das wird nicht das ganze Jahr über so sein.
Jetzt hören wir ein leises Rauschen, und wenige Augenblicke später sehen wir vor uns den Wasserfall. Er ist ein zarter Vertreter seiner Art, vielleicht heißt er deshalb Salto do Rosa – Rosenwasserfall. Dafür ist seine Lage umso verwunschener. Üppiges Grün umwuchert die kleine Schlucht, von oben leuchtet eine diesige Sonne auf eine schmale, wie ein seidiger Vorhang wehende Kaskade. Hier ist der Weg zu Ende, auch deshalb, weil Teile des steilen Hangs, der das Bachbett flankiert, vom Regen weggewaschen sind. Manche Bäume oben an der Abbruchkante greifen mit ihren Wurzeln schon ins Leere, und das sind keine kleinen Bäume. Vielleicht ist das eine Art, wie sich das Paradies selbst schützt. Zugleich zeigt sich hier, wie aufwändig es ist, Wanderwege instand zu halten.
Die Wipfel verschwinden irgendwo im Nirgendwo
Die Wälder von Furnas haben es uns angetan, wir können gar nicht genug davon bekommen. Das Fantastische ist: Es gibt immer noch eine Steigerung – in diesem Fall buchstäblich, denn es geht auf den 570 Meter hohen Pico do Ferro. Schon der Aufstieg ist rasant, oben erwischt uns ein Regenschauer, aber gleich darauf kommt wieder die Sonne zum Vorschein. Wir genießen den sonnig-diesigen Blick auf den See, treffen wieder einmal auf Wiesen in diesem unglaublich saftigen Grün, bevor wir uns erneut abwärts wenden.
Wieder kraxeln wir durch einen Wald mit gewaltigen Bäumen. Wir sehen nur die schlanken Stämme, die Wipfel verschwinden irgendwo weit oben im Nirgendwo. Manche Bäume sind auch von Stürmen umgeknickt wie Mikadostäbe. Das sieht zum Teil wild aus, ist aber keine richtige Wildnis, oder anders ausgedrückt: Was hier wächst, kommt oft von weit her – da haben die Azorianer dem Paradies ein wenig nachgeholfen. Mit japanischen Zedern zum Beispiel. Oder mit der Krausblättrigen Klebsame, die eigentlich aus Australien kommt und nun eine der Pflanzenarten ist, die durch ihre ungebremste Ausbreitung dem Azorenlorbeer den Garaus machen. Eingeführt wurde sie ursprünglich, um die Orangenplantagen durch Baumhecken vor Wind zu schützen. Moment mal: Orangenplantagen?
Die Ruine im Wald
Plötzlich stoßen wir mitten im Wald auf ein verfallenes Haus. Aber was für eins! Es muss einmal prachtvoll gewesen sein. Gehört hat es einem reichen Orangenpflanzer – Orangen waren im 19. Jahrhundert auf den Azoren eine wahre Goldgrube. Die Casa da Grená – so heißt das Herrenhaus – erzählt noch davon, auch wenn sie sich heute in einem beklagenswerten Zustand befindet. Warum? Der Orangenboom war von verhältnismäßig kurzer Dauer, Schädlinge verwüsteten die Plantagen und die reichen Großgrundbesitzer packten ihre Sachen und kehrten Furnas den Rücken.
Wir streunen um das Haus herum, sehen den Söller an der Fassade, Schmuckdetails an Türen und Kaminfronten, aber auch die irreparablen Wunden, die Wald und Klima der Bausubstanz geschlagen haben. Die Regierung hat das historische Gebäude mittlerweile erworben, doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Verfall irgendwie aufgehalten werden soll. Später erfahren wir, dass der Name Grená von dem irischen Ortsnamen Grenagh entlehnt ist. Denn die Frau des Orangenpflanzers war Irin und hatte als Kind ihre Ferien in Grenagh verbracht – für sie ein Ort im Paradies. Das Herrenhaus sollte sie an die ferne Heimat erinnern.
Ein Fauchen und Gurgeln
Das Bild von der erstaunlichen Natur auf den Azoren ist nicht vollständig ohne die Vulkane – ihnen verdanken sie überhaupt ihre Existenz. Auch São Miguel ist voll davon. Die großen Krater sind erloschen, aber das heißt nicht, dass es keine vulkanische Tätigkeit mehr gäbe. Bei Furnas entweicht die unterirdische Hitze meist in Form von kochend heißen Schwefelquellen und – zum Glück – weniger heißen Thermalquellen, deren 39 Grad im Winter angenehm, im Sommer wohl weniger erträglich sind. Die Inselbewohner nutzen die kostenlose Erdwärme auf verschiedene Art, unter anderem zum Kochen. Was sie sonst noch so umtreibt, erzähle ich beim nächsten Mal.