Florentin, das coole Viertel von Tel Aviv
In Florentin, diesem coolen Stadtteil von Tel Aviv, leben die Wände. Sie sind bevölkert von fantastischen Wesen. Sie erzählen skurrile Geschichten. Vorvorgestern war Florentin ein einfaches Arbeiterviertel zwischen Jaffa und Tel Aviv mit Industrie und Gewerbe.
Heute ist Florentin wegen seiner zentralen Lage völlig hipp. Ein Hotspot der Gentrifizierung in Tel Aviv. Florentin ist mitten im Umbruch. Die schicken Straßen-Cafés, die coolen Bars, die trendingen Designerläden sind schon da. Aber noch gibt es in Florentin verwegene, charmante Ecken. Noch welken einige Straßen romantisch vor sich hin. Ranzige Hausfassaden bieten optimale Malgründe für Streetart.
Verlotterte Nische. Vernagelte Fenster. Verrosteten Rollläden. Alles Leinwände und Projektionsflächen für die poetische, die politische oder die aggressive Fantasie von Streetart-Künstler. Sie pinseln und sprühen meistens nachts und häufig inkognito ihre Werke an die Hauswände in Florentin. Die Nachtaktivität leuchtet ein, denn das Bemalen von Hauswänden ist in Tel Aviv natürlich streng verboten. Nur interessiert dieses Verbot noch nicht einmal die Polizei.
Streetart-Künstler in in diesem Viertel ausfindig zu machen, wäre kinderleicht. Die Streetart in Florentin ist ein richtiges Business und ein Top-Tourismus-Magnet. Auf Stadtführungen durch das Stadtviertel werden die öffentlichen Kunstwerke tiefgründig entschlüsselt und erklärt. Streetart-Künstler präsentieren sich auf YouTube, auf Facebook und auf Flickr. Sie betreiben Webseiten mit Online-Shops, in denen sie ihre Bilder, Gedichte, Schlüsselanhänger anbieten. Manche geben Bücher und Postkarten heraus. Das Tel Aviv Art Museum hat Ausstellungen für Streetart in Tel Aviv kuratiert. Auch in Berlin waren schon Kunstwerke von den Straßen Florentins in Ausstellungen zu sehen.
Keine Leinwand ist so sexy wie eine leere Hauswand
Streetart, die Kunst der Unangepassten ist im Mainstream angekommen. Vielleicht ist das Anarchische und lustvoll Verbotene der Streetart so etwas wie moderne Folklore, die es in jedem Global Village geben muss. Also auch in Florentin. Der subversive Lack ist ab. Ich kann mich trotzdem für Streetart begeistern. Ich schlappe gerne durch die gut bestückte Straßengalerie von Florentin. Ich schau mich um. Ich mache Fotos.
Streetart in Tel Aviv legt eine vibrierende Schicht von Denkanstößen, pointierten Kommentaren, kritischen Meinungen, Protesten oder Poesie über die ganze Stadt. Manchmal banal. Häufig unterhaltsam und nachdenklich.
Da wo der visuelle öffentliche Raum regulär nur von Verkehrszeichen, Firmenlogos, Werbung, Leuchtreklame und Kaffeehaustischen beansprucht werden darf, behauptet Streetart den öffentliche Raum als Allgemeinbesitz. Gegen die visuelle Verschmutzung des Stadtraums mit Regelvorschriften, Konsumaufforderungen und Markenbotschaften setzt Streetart vergnügliches Kritzelkrackel und verträumte Malerei. Ich finds gut, denn so sieht für mich ein kleine Portion Freiheit aus.
Keine Leinwand ist so sexy wie eine leere Hauswand! Deswegen gibt es Street Art überall in Tel Aviv. Aber nur in Florentin gibt es so viele unterschiedliche Künstler und Künstlerinnen auf engstem Raum. Florentin ist ein richtiges Battle Field um Haltungen, Styles und Platz. Die prominentesten Wände sind natürlich schon besetzt. Deswegen wird übermalt, ergänzt oder verändert.
Ein Streetart-Künstler aus Florentin stellt sich vor
Ich bin an einer Straßenecke in meine Betrachtungen versunken, da höre ich ein beschwingtes Pfeifen in der Ferne, das blöderweise näher kommt. Ich möchte lieber ungestört alleine bleiben.
Ein schmaler Mann mit Bart und Hut und Sonnenbrille schlendert pfeifend von rechts heran. Sein Outfit warnt mich. Sieht ein bisschen prekär aus. Werde ich jetzt angeschnorrt? Er bleibt neben mir stehen. Er schaut sich an, was ich fotografiere und fragt:
“Do you like street art?”
Ich sage: “Yes”.
So richtig weiß ich nicht, was ich von dieser Begegnung halten soll. Deswegen bin ich erst mal neutral distanziert, kühl reserviert und kurz angebunden.
“I do this stuff”
Sagt er und zeigt auf eine kleine lustige Figur. Ein blondes Mädchen mit violettem Hut und einem Gesicht regelmäßig wie ein Quadrat.
Mir sind diese kleinen reizenden Figuren in Tel Aviv an vielen Stellen aufgefallen. Ich mag diese niedliche Piraten, einäugigen Weihnachtsmänner, kleine Drachen und primitive Neandertaler. Alle mit quadratischem Gesicht. Stencils in vielen bunten Farben, eingefasst mit einer schwarzen Zeichnung. Widerborstig und fast anarchisch ist immer ausdrücklich der Geschlechter-Unterschied betont. Daneben eine Signatur: “Sened”. Dieser Mann in meinem Alter ist also Sened. Eine lebende Legende sozusagen. Die meisten hier kennen ihn. Denn Sened fing schon im Jahr 2000 an als Urban-Artist das Stadtviertel Florentin aufzuhübschen. Ein echter Streetart-Veteran.
Die Essenz der Stadt
Es ist natürlich immer interessant, einem Streetart-Künstler in die Arme zu laufen. “Bingo!” denke ich. Mister Sened hat bestimmt Antworten auf alle meine Fragen zum Thema Streetart in Tel Aviv und besonders in Florentin. Allerdings kann es auch ein bisschen heikel sein, einem wahren Künstler zu begegnen. Eventuell erwartet der Künstler eine intelligente oder lobende Meinung zu seinem Werk. Und mehr als “beautiful” oder “cute” fällt mir in solchen Situationen meist nicht ein. Aber Sened macht es einfach und unkompliziert. Er sagt:
“I am Adi. Would you like some coffee? I live over there.”
Er zeigt Richtung Eckhaus. Jetzt verstehe ich, warum Adi Sened so direkt auf mich zugekommen ist. Er hat mein Treiben von einem Fenster oder von der Terrasse aus beobachtet. Merkwürdig, denke ich. Aber ich bin zu neugierig, um über Adis Motive nachzudenken . Adi bleibt an einem Verteilerkasten an der Straßenecke stehen und sagt:
“Look, this is my best idea, I call them cut outs!”
Er streichelt über eine verblasste gestrichelte Linie auf dem Kasten.
“You understand?”
Actually I don’t. Im Verlauf des Nachmittages, den ich zusammen mit Adi verbringe, wird mir klar, dass ihm der ganze Hype rund um Streetart in Florentin ziemlich auf die Nüsse geht. Die unzähligen Bilder an den Wänden, die versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen, sind ihm einfach zu viel. Dann lieber etwas leere Wand, gerahmt von einer gestrichelten Linie. Das ist seine Art die Essenz des Stadtraum zu kondensieren.
Katz und Maus mit Adi Sened
Adi will keine meiner Fragen zum Thema Streetart beantworten. Er windet sich immer wieder heraus. Er will keine Informationen rausrücken und kein Statement abgeben. Tatsächlich hat Adi schon mit vielen Journalisten oder Bloggern Interviews geführt. Unzählige Megabits Informationen über ihn fluten das Netz. Auf Flickr kuratiert Adi Shots aus seinem Leben.
Heute will Adi einfach nur mit einem Foreigner ein bisschen Kaffee trinken, chillen und auf seiner tollen Dachterrasse rumhängen. Da mach ich gerne mit. Der Kaffee ist ok. Adi ist ein bisschen überdreht. Er nennt mich: “My dear Adolf”. Komischer Humor, denke ich. Am nächsten Tag schickt er mir eine Whatsapp: “Got a letter from your lawyer … don’t call anyone by the name adolf, sorry …” . Da verdunkelt der trübe Schatten der Shoa einen strahlend, lauen Nachmittag. Adi zeigt mir unzählige Skizzen, Bilder und Skulpturen. Wir fotografieren uns mit einer stilisierten Dornenkrone auf dem Kopf. So plätschert die Zeit in Florentin dahin.
Streetart Ethik in Florentin
Über eine Sache kann sich Adi so richtig ärgern. Sein Ärger gewährt einen klitzekleinen Einblick in die winzige Szene der Streetart-Künstler von Tel Aviv. Sie kennen sich alle untereinander und sind ganz dicke. Bei so viele Nähe entsteht auch Reibung und Konkurrenz. Dede, der Tausendsassa und weltberühmte Großkünstler unter den Streetart-Künstler von Florentin, hat Adi die Cut Outs ausgespannt und sie als dekorative Pflaster an Wände überall in Tel Aviv geklebt. Adi findet, das gehört sich nicht! Ich denke, ist doch toll, wenn sich Motive und Ideen weiterentwickeln.
Ziemlich lustig, wie eines der großen Motive der Kunst des 20. Jahrhunderts, der Künstlers als Heiler und Schamanen, in den Pflastern von Dede wieder auftaucht. Allerdings ist der mythische Schamane auf eine profane Krankenschwester geschrumpft, die Nachts durch Tel Aviv eilt und Pflaster malt.
Adi mag diese großen Gesten nicht. Er ist für die kleine Form. Seine Cut Outs sind so zurückhaltend, die fallen kaum auf. Seine zauberhaften, quadratischen Figuren passen tatsächlich überall hin. Er nennt sie Kufsonim. Diese Kufsonim sollen in homöopathischen Dosen Poesie und Spaß über ganz Florentin verteilen. Eine Vermehrung von Poesie, Spaß und Schönheit mitten in der Stadt sind für Adi Sened die einzige Berechtigung Bilder an Hauswände in Florentin und Tel Aviv zu sprühen. Eine Stadt wird dadurch reicher. Das Leben lebenswert. Schönheit und Aufmerksamkeit entsteht. Eine freundliche Ästhetik, die Adi Sened da vertritt.
Am Ende meines Besuchs erklärt mir Adi dann doch noch etwas Streetart in Florentin. Wir stehen auf seiner Dachterrasse. Über uns schweben einige Köpfe von Clone. Unter uns hat Zero Cents eine Art Totentanz auf die verschwendete Jugend gesprüht. Auf einem Dach in einen kleinen Gewerbe-Hinterhof hat Dioz einen besoffenen Nikolaus gemalt. Ein echter Kinderschreck! Der Nikolaus wirkt so zerschossen, er sollte dringend eine Sitzung der anonymen Alkoholiker besuchen. Dann ist es auch schon Zeit zu gehen. Das war ein interessanter Nachmittag. Morgen werden wir uns wieder sehen.
Wenn Du mehr über Reisen nach Tel Aviv oder Israel erfahren möchtest, dann ließ diese Artikel auf sirenen & heuler:
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- documenta 2022: Kassel, Kunst & Aktivismus
PS.:
Dioz hat die Entstehung des Nikolaus im folgenden YouTube Video dokumentiert. Der Streetart-Künstler Dioz, versteckt hinter einer Schweinemaske, erzählt auch etwas über sich.
In Tel Aviv lässt sich natürlich noch viel mehr unternehmen, als Streetart aufzuspüren. In Tel Aviv: Hotspot der Lässigkeit verraten Gabriele und Michael super Tipps, mit denen Deine Städtereise nach Tel Aviv ein spannendes Vergnügen wird.