Das Kleine im Großen und das Große – in Klein.
Vor der Elbphilharmonie ist ganz schön was los. Bevor ich mich in Gedanken über unfertige Großbaustellen und schräge Bauvorhaben verlieren kann, öffnet sie langsam – wie ein gähnendes Reptil – ihr Maul und offenbart ihr Inneres. Eine obszöne Geste irgendwie. Und ein absoluter Hingucker für das Publikum. Gedrängel, Blitzlichtgewitter, Donner und Tusch. Dann klappt sie wieder zu. Wow, Schaustelle statt Baustelle, das konnte Berlin doch auch einmal. Über die Elbphilharmonie wird in der Öffentlichkeit ja fast soviel gespottet wie über den Berliner BER. Doch davon ist hier nichts zu merken.
Wir sind im Miniatur Wunderland am Kehrwieder in Hamburgs HafenCity. Hier regiert das kindliche Staunen. Und der Respekt vor der nerdigen Detailverliebtheit und kreativen Umsetzungsstärke der Initiatoren und vor allem der Modellbauer, die diesen Wahnsinn(sspaß) für Groß und Klein und von Großflughafen bis Kleingartenkolonie erst ermöglicht haben.
Miniatur Wunderland – die Welt auf Spurbreite H0
Für jemanden wie mich, dessen Wahrnehmung ohnehin recht fein eingestellt ist, ist dieses 3D-Wimmelbild, das sich über mehrere Etagen und insgesamt 6.400qm Mietfläche, über 8 Abschnitte mit insgesamt über 13.000m Gleisen zieht, schon eine Herausforderung. Allein die helle Freude im Gesicht meines Vaters verhindert, dass mir sofort die überreizten Sinne schwinden. Auf seinen Wunsch sind wir hier und ihn habe ich im Gedränge vor den größten Attraktionen bereits zwei Mal verloren. Letztmalig am Flughafen „Knuffingen Airport“. Wohin ich schaue, verzückte Gesichter. Überall klicken Kameras und es wird gefilmt, bis die Speicherkarte glüht. Der Miniatur-Airport präsentiert ein erstklassiges Ballett aus Start und Landung. Hier läuft alles wie am Schnürchen. Besonders die Gäste aus Berlin laben sich hörbar an dieser Illusion.
Sensationsgelüste hingegen werden woanders befriedigt. Ob Rettungseinsätze in bergigem Gelände, entgleiste Züge oder Kollisionen, die den Einsatz von Rettungsfahrzeugen nötig machen. Viele der en miniature nachgestellten Szenen erzählen kleine Katastrophen. Eine Installation dreht sich um ein Flugzeug, das man per Knopfdruck in den Sinkflug bringen kann. Verstohlen drücke ich darauf, doch nichts passiert. Ob die Funktion nach dem letzten Absturz einer großen Passagiermaschine im Frühjahr bewusst deaktiviert wurde? Aus Pietätsgründen? Neben mir brüllt ein Kind im Diskant: „Guck mal, das Flugzeug stürzt ab, das Flugzeug STÜRZT AB!!!“ Seine Mutter eilt herbei, klemmt sich den Nachwuchs wortlos unter den Arm und schleppt ihn zur nächsten Sensation.
Nach einer gefühlten Ewigkeit taumeln wir zurück ans Tageslicht. Das Miniatur Wunderland ist ein wahrer Zeitfresser. Und auf dem Weg nach draußen lauern zwei Versuchungen, denen man, ausgedörrt und überreizt, nur zu leicht erliegen kann: Das systemgastronomische Angebot und der vor Quengel- und Bückware sowie hochpreisigem H0-Merchandising schier berstende Shop. Wir schaffen es ganz knapp. Budget gerettet. Doch was ist das? Mein Vater ist wieder jung, ich hingegen fühle mich wie 70. Soweit die Bilanz. Verrückte (Mini)Welt. Fast so schräg wie Schnee aus gemahlenem Glas.
Hamburg, meine Perle?
Zu Fuß nach Övelgönne. Auch dies ein allererstes Mal. Bisher bin ich den Stadtstrand und seine „Strandperle“, die auch als „Mutter aller Beachclubs“ bezeichnet wird, immer mittels Barkasse ab Landungsbrücken angesteuert. Auf unserem Spazierweg heute staunen wir Bauklötze. Viele bekannte Landmarken sind verschwunden oder werden durch neuere Bauten verdeckt. Auch auf dem Wasser hat sich einiges getan. Immer mehr immer hochklassigere Kreuzfahrtschiffe lassen sich hier blicken. Die MSC Splendida, das Schiff für alle mit großen „Splendierhosen“, tutet beim Auslaufen allen Ernstes „We are the Champions“ von Queen. „No time for losers, ‚cause we are the Champions“ singen sie von oben auf uns herab. Die Menge winkt begeistert. Nun ja. Wo waren wir?
Bei der Stadt. Genau. Hamburg ist die Stadt, die ich mal kannte. Die Stadt, in der meine Freunde und ich als Teenager richtig feiern lernten und unsere Lieblingsbands Konzerte gaben. Hamburg ist auch die Stadt, die ich später für Berlin auf den zweiten Platz verwies. Nach Berlin ist Hamburg, Freie und Hansestadt und Stadtstaat, auch faktisch die zweitgrößte deutsche Stadt mit immerhin 1,7 Mio. Einwohnern. Die traditionsreiche Schöne habe ich jahrelang nurmehr als Nadelöhr nach Dithmarschen erlebt, den ganz hohen Norden. Immer in Eile, immer auf der Durchfahrt. Selber Schuld. Umso mehr genieße ich es heute, mich heute endlich einmal wieder wie ein Flaneur in dieser alten Kaufmannsstadt zu bewegen. Keine 100Km entfernt von meiner Herkunftsheimat, in Blickweite des größten deutschen Seehafens, dem „Tor zur Welt“. So sauge ich die verheißungsvolle Weite und Fremde eben jener Welt in mich hinein und setze mich in den Sand, zu all den anderen. Natürlich mit einem Astra.
Von glasigen Augen, Tanzenden Türmen und Türmen aus Zimt
Getragen von Euphorie des Augenblicks treibt es uns in Richtung Reeperbahn. Hier konkurrieren Junggesellenabschieds-Gruppen mit glasigen Augen und internationale Pubcrawls mit ernsten Absichten um die größten Schlangenlinien und das sinnfreieste Gestammel. Werfen sich Luden und Penner bedeutungsvolle Blicke zu, während Theaterabonnenten und Musical-Busladungen aus der Provinz aufgerüscht und aufgeregt über das vermüllte Trottoir tippeln. Dort, wo ich 2007 im Rahmen einer Gruppenausstellung der Hamburger „Depressionisten“ im SKAMraum Fotografien und eine Installation gezeigt habe, stehen heute die Tanzenden Türme. Kinners, wie die Zeit vergeht.
Schnell ist uns klar, dass wir niemals so viel trinken können, um bei diesem Spektakel mitzutun. Also überlassen wir der ganzen bunten Mischung das Feld und bewegen uns in Richtung Schanze und Karolinenviertel, den alternativen Szenevierteln. Zuvor waren wir noch in den neuen Teilen und Quartieren der HafenCity unterwegs. Von der echten Elbphilharmonie über Sandtorkai, Dalmannkai, bis zum Brooktorkai. Und der neuen HafenCity Universität, die mit „Überseequartier“ und „HafenCity Universität“ gleich zwei neue Attraktionen plus U-Bahn-Haltestellen bekommen hat. Hier sehen die Leute alle besonders hip, entrückt und kosmopolitisch aus, fast wie die Figürchen, die Architekten in ihre Modell-Landschaften stellen. Nun tritt er stark zutage. Der hamburgspezifische Gegensatz zwischen Punk und Platin-Uhr, zwischen räudig-ranzig und richtig reich, zwischen Outfit und Klamotte. Kleidung ist hier noch stark kodiert, zumindest scheint es so. Wir vertreiben den Reeperbahn-Folklore-Schock, indem wir versuchen, Kontostand und politische Gesinnung aus den jeweiligen Outfit abzuleiten. Rocko Schamoni würde dazu vielleicht sagen: „Why not? Kann man machen.“
Alte Liebe, unkaputtbar?
Von leichter Muse und Sightseeing-Fee wundgeküsst und von der langen Lauferei ermattet, landen wir irgendwann in der Pizzeria Feuerstein am Pferdemarkt. Mein Vater und ich waren hier schon einmal. Vor genau 25 Jahren. Sentimentalität wird ja selten belohnt, dennoch bleiben wir. Komischer Laden, komisches Publikum, doch vielleicht denken die anderen das ja auch von uns. Das Alien-Gefühl geht weiter, am nächsten Morgen auf dem Fischmarkt, zwischen frisch aufgebauten Ständen und dem, was der Kiez so an Resten ausgespuckt hat.
Der Fischmarkt ist eine weitere feste Größe im Hype um Hamburg. War ich um 6h morgens tatsächlich zu früh da – oder zu nüchtern? Allein das Angebot an Schnittlauch und Spargel begeistern mich. Doch beides kann ich als Reisende schlecht mitnehmen. Mittlerweile ist es 7h. Ich lasse es gut sein. Und kämpfe mich gegen die Strömung, gegen die nun im Dutzend am Eingang des Fischmarktes ausgekippten Busladungen, zurück ins Hotel Hafen an den Landungsbrücken. Das Wetter ist traumhaft, also entscheiden wir uns nach dem Frühstück, einfach in Planten un Blomen abzuhängen. Hier kann man Hamburger Familien und Paaren, jung und alt beim Picknicken und chillen begegnen. Und sich ein bisschen weniger „nur zu Besuch“ fühlen. Ja, nun spüre ich es wieder. Das ist wohl doch noch meine Perle.
Zum Abschied ein Zitat, auf das ich in echt und auch im Netz wiederholt gestoßen bin, und mit dem die Hamburger, so heißt es, jedem Quatsch ein Ende machen: „Hamburg, wir sehen uns. Ein Kaufmann muss am nächsten Morgen frisch sein.“
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Service-Links
- Wer noch nicht entschieden hat, wie Anreise und Fortbewegung in der Hafenstadt Hamburg vonstatten gehen sollen, findet Infos zu Baustellen und sogar eine Verkehrs-App.
- Apropos Hafen: Im Kesselhaus gibt es ein Infocenter. Mehr Infos auf der Seite der HafenCity.
- Nachdem der Olympia-Kelch ja glücklicherweise einmal mehr an Berlin vorübergegangen ist, haben auch die Hamburger noch eine Chance, sich vor dem nächsten vermeintlich verheißungsvollen Großveranstaltungsspektakel zu retten. Eine Initiative gegen Olympia ist hier recht aktiv.
- Ihr wollt auch ins Miniatur Wunderland? Ihr seid ja verrückt. Aber bitte, da geht’s lang. Und von wegen der glühenden Speicherkarten und Akkus… Natürlich gibt es im Miniatur Wunderland auch Aufladestationen für Handy und Co.