Die Tempel von Paestum – eine völlig fremde Welt
Griechische Tempel in Italien, das ist schon ein eigentümlicher Mix, doch erstaunlicherweise gibt es in den Ausgrabungen von Paestum sogar drei dorische Tempel. Der sogenannte Neptun Tempel, der Ceres Tempel und die Basilika sind sogar so gut erhalten, dass sie in Griechenland ganz neidisch werden. Darum gehört ein Besuch der Tempel und der Ausgrabungen von Paestum seit vielen Jahrhunderten zu den besonders starken Eindrücken, die ein Reisender aus Italien mit nach Hause bringen kann.
Schon der berühmteste aller deutschen Italienreisenden, Johann Wolfgang von Goethe, hat die Tempel in Paestum besucht und fand sich in eine völlig fremden Welt versetzt. Auf der abenteuerlichen Anreise über morastige Pfade und durch Bach und Gewässer sah er “nilpferdischen Büffeln in die blutroten wilden Augen“. Und als der Dichter dann endlich, nur 35 Jahre nach deren Entdeckung, vor den berühmten Tempeln von Paestum stand, war er verwirrt und irritiert, weil ihm “diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen“.
Heute ist die Anreise natürlich viel bequemer. Anstelle durch sumpfige Ebenen zu rumpeln, lassen sich die Tempel in Paestum von Neapel oder Salerno aus bequem mit dem Zug erreichen. Die morastigen Pfade des 18. Jahrhunderts sind asphaltierten Straßen gewichen. Deswegen kommen die meisten Besucher mit dem Auto oder dem Reisebus zu den antiken Sehenswürdigkeiten.
Der Eindruck “einer völlig fremden Welt“, den Goethe beschreibt, ist allerdings nicht verflogen. Der hat sich bis heute gehalten. Denn die Tempel von Paestum liegen südlich von Salerno ziemlich verloren und vereinsamt in einer für Italien eher untypischen Ebene. Die Sedimente des träge dahinfließenden Fluss Sele haben diese flache Ebene über Jahrtausende aufgeschwemmt.
Die weite Ebene der Sele
Bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war die Sele-Ebene ein menschenleeres von Malaria verseuchtes Gebiet am Rande von Kampanien. Erst nachdem die Sümpfe trockengelegt und die Malariamücken mit DDT ausgerottet waren, konnte mit dem Gemüseanbau begonnen werden. Die Landstädte Battipaglia, Eboli und Capaccio breiteten sich immer weiter in die Ebene aus. An den langen Sandstränden des Golf von Salernos schossen Urlaubshotels wie Pilze aus dem Boden. Heute werden in der Sele-Ebene unter einem silbrigen Meer aus verschwitzten Plastikfolien frühreife Tomaten, Auberginen und Zucchini vor allem aber die begehrten Artischocken der Varietät Romanesco angebaut. Der bittere Carciofo di Paestum ist mit dem IGP Siegel der Europäischen Union zertifiziert und gehört im Frühjahr zu den begehrteste Gemüsen auf den Märkten in ganz Italien.
In dieser geschichtslosen und verschossenen Landschaft sind also die Tempel von Paestum zuhause. Sie erinnern an eine Zeit vor über 2500 Jahren als die fruchtbare Saat ausgebracht wurde für eine Kultur, die wir heute europäisch nennen. Die griechische Tempel in Paestum, in Italien und auf Sizilien sind eindrückliche Zeugen der aggressiven Expansion griechischer Stadtstaaten im gesamten Mittelmeerraum.
Die gewalttätige Kolonisation der Küsten den Mittelmeeres, die auch Kampanien erfasste, begann in den dunklen Zeiten des archaischen Griechenlands; also in der Mitte des 8. Jahrhundert vor unserer Zeit. Sie dauerte gut 200 Jahre und endete Mitte des 6. Jahrhunderts. Die Auslöser für die massenhafte Auswanderung aus den griechischen Stadtstaaten und die griechische Kolonisation waren Krieg, Hunger, Armut und soziale Not, Perspektivlosigkeit der männlichen Jugend, politische Verfolgung in der Heimat. Motive, die auch heute noch die Flucht- und Wanderbewegungen rund um das Mittelmeer befeuern.
Süditalien muss für die antiken Griechen eine Faszination ausgeübt haben, wie Amerika auf die europäischen Auswanderer des 19. Jahrhunderts. Die Magnia Grecia, Großgriechenland, war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. In Italiens Süden wurden in Städten wie Paestum, Tarent oder Reggio Calabria Träume wahr und aus dem verbitterten Tellerwäscher ein zufriedener Millionär.
Kurze Geschichte von Paestum
Interessanterweise wird die griechische Kolonisation des Mittelmeerraums auch heute noch fast durchweg positiv beurteilt. Und das obwohl sie mit den grausamen Werkzeugen des Kriegs, der Vertreibung, des Raubs, der Vergewaltigung und der Versklavung durchgesetzt wurde. Ist ja lange her, könnte man sagen. Aber das hieße vergessen, dass die Konflikte um Dekolonisierung, die heute ausgetragen werden, ihre tiefen Wurzeln in eben diesem Geburtsfehlers Europas haben. Die verächtlichen Ressentiments und die Angst vor dem Anderen sind halt schon von den antiken Griechen kultiviert und in die DNA Europas eingeschrieben worden.
Das griechische Poseidonia ist eine der letzten Pflanzstädte, die griechische Siedler in Italien errichteten. Der Impuls für die Gründung dieser Polis ging nicht mehr von den Städten des griechischen Mutterlandes aus. Vielmehr hatten auch die griechischen Städte in Italien begonnen, als Stadtgründerinnen aktiv zu werden. Der griechische Geograph Strabon berichtet, dass Poseidonia Ende des 7. Jahrhunderts von Bürgern aus der legendär reichen Polis Sybaris am ionischen Meer im heutigen Kalabrien gegründet wurde. Wahrscheinlich um Handel mit den Etruskern zu treiben, die nördlich des Sele Fluss lebten.
Im Jahr 510 vor unserer Zeit wurde dann die Stadt Sybaris zerstört. Es ist anzunehmen, dass viele Flüchtlinge aus Sybaris eine neue Heimat in Poseidonia fanden. Anscheinend brachten sie viel von ihrem legendären Reichtum mit und verliehen der Stadt neuen Schwung. Denn an der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert erhielt die Stadt das Aussehen, das wir heute kennen. Für 100 Jahre muss Poseidonia eine riesige Baustelle gewesen sein. Die sogenannte Basilika, ein Tempel, der wahrscheinlich Hera geweiht war, entstand um 560. Nur 50 Jahre später wurde der Ceres Tempel errichtet, von dem wir heute wissen, dass er ein Athene-Heiligtum war. Schließlich wurde um 460 vor unserer Zeit der Bau des berühmten Neptun Tempels in Paestum beendet. Heute einer der am besten erhaltenen dorischen Tempel überhaupt.
Die Eroberung durch die Lukaner
Ende des 5. Jahrhunderts scheinen dann die Lukaner, ein italisches Volk aus den Bergen, die Kontrolle über die griechische Stadt übernommen zu haben. Wie genau die neuen Herrscher an die Macht gekommen sind, lässt sich nicht rekonstruieren. Aber wahrscheinlich hat es sich um einen schleichenden Prozess gehandelt. Denn Archäologen konnten nachweisen, dass die Lukaner schon lange vor ihrer Machtübernahme als Söldner im Dienst der griechischen Stadt standen und teilweise sogar innerhalb der stark befestigten Stadtmauern Poseidoninas lebten.
Die Lukaner herrschte ungefähr 150 Jahre über die Stadt. Wenig scheint sich in dieser Zeit geändert zu haben. Vielmehr lebten die Griechen und die Lukaner in einer Gemeinde, in der die jeweiligen Sprachen, Kulturen und Traditionen nebeneinander existierten und sich schlussendlich wahrscheinlich vermischten. Die griechischen Tempel wurden weiterhin genutzt. Berühmte Künstler bemalten herrliche Vasen und die reiche Elite ließ ihre Gräber mit prächtigen Malerei ausschmücken, die heute zu den bedeutenden Schätzen des Museums von Paestum gehören.
Poseidonia wird zur römischen Kolonie Paestum
Erst unter den Römern, die Kampanien und Poseidonia im Jahr 273 vor unserer Zeit einnehmen, änderte sich das Aussehen der Stadt. Poseidonia wird römische Kolonie und in Paestum umbenannt. Im Zentrum der Stadt entsteht ein rechteckiges römisches Forum, das jenem in den Ausgrabungen von Pompeji ziemlich ähnlich ist. Ein Amphitheater für mörderisches und martialisches Entertainment römischer Veteranen wird gebaut und im ganzen Stadtgebiet wachsen prächtige römische Häuser aus dem Boden. Obwohl das römische Paestum abseits der großen Handelsrouten wie der Via Appia oder der Via Popilia liegt, bleibt die Stadt wohlhabend, da sie über einen natürlichen Hafen in einer Lagune verfügte.
Irgendwann im 3. Jahrhundert aber beginnt die Lagune und damit der Hafen der Stadt Paestum zu verlanden. Außerdem versumpft die Sele Ebene rund um die Stadt. Malaria breitet sich aus. Völkerwandernde Barbaren aus dem Norden und später arabische Piraten ziehen plündernd und mordend die Küste entlang. Spätestens im 9. Jahrhundert wird Paestum aufgegeben. Nachdem die Normannen die Stadt geplündert hatten, um Baumaterial für den prächtigen Dom in Salerno zu ergattern, gerät Paestum in Vergessenheit. Nur noch die Wasserbüffel sonnten und suhlten sich in morastigen Schlammlöchern rund um die Tempel. Vielleicht trieben Hirten ihre Schafherden während der malariafreien Wintermonate ihre Herden hierher.
Die Entdeckung von Paestum in Italien
Dieser Dornröschenschlaf dauert über 700 Jahre. Mitte des 18. Jahrhunderts, als wegen der Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji das gebildete Europa sowieso schon Richtung Neapel und Kampanien schaut, werden auch die Tempel von Paestum wieder entdeckt. Als 1829 die Tirrena Inferiore, die heutige Staatsstaße 18 gebaut wird, führt sie ganz nah an den prächtigen Tempeln von Paestum vorbei. Die Reisenden sollen aus ihren Kutschen die spektakuläre Aussicht auf die großartigen Monumente genießen können.
Dummerweise haben die Ingenieure mit dem Straßenbau das römische Amphitheater in zwei Hälften geschnitten. Aber das fiel den Archäologen erst bei späteren Ausgrabungen auf. Inzwischen sind 25 Hektar der 120 Hektar großen Stadt freigelegt worden. Dabei haben sich die Ausgräber vor allem auf das Stadtzentrum konzentriert. Neben den griechischen Tempeln, dem Amphitheater und dem römischen Forum gibt es in Paestum weitere interessante Objekte zu entdecken.
Ein Heroon erinnert an den mythischen Gründer der Stadt. Vor dem Friedenstempel, der Mens Bona, lässt sich prächtig über das eigene Leben nachdenken. In unmittelbarer Nähe zu den Ausgrabungen werden in einem großartigen Museum, die sensationellen Funde aus Paestum präsentiert. Weltweiten Ruhm genießt das berühmte Grab des Tauchers.
Seit 1998 sind die Tempel von Paestum gemeinsam mit den Ausgrabungen von Velia, der Landschaft des Cilento und des Val del Diano mit der Kartause von Padula unter den Schutz des UNESCO Welterbe gestellt.
Die dorischen Tempel von Paestum
Der Ruf der Ausgrabungen von Paestum beruht in Italien aber nicht so sehr darauf, dass hier das Leben in einer griechischen und dann römischen Stadt nachvollzogen werden kann. Für den gute Ruf sorgen vor allem die drei großen dorischen Tempel der Stadt. Sie vermitteln über 100 Jahre Architekturgeschichte und die künstlerische Entwicklung des dorischen Tempels von der Zeit der Archaik bis in die Epoche der Klassik. Außerdem gibt es nur wenige griechische Tempel, die so gut erhalten sind, wie die Tempel von Paestum.
Drei große dorische Tempel innerhalb eines Zeitraums von nur 100 Jahren zu errichten, muss mit ziemlicher Sicherheit als Ausdruck allergrößten Optimismus und eines unerschütterlichen Vertrauens in die Zukunft verstanden werden. Darüberhinaus sind die Tempel Symbole politischer Macht der nach ihrem Selbstverständnis allen überlegenen griechischen Kultur. Diese Großprojekte zeugen aber auch davon, dass die griechischen Siedler über einen felsenfesten Willen zur Selbstverewigung verfügten. Das ist den griechischen Bauherren nun immerhin für eine Ewigkeit von über 2500 Jahre gelungen.
Eines der faszinierendsten Geheimnisse der griechischen Tempel Architektur ist der Umgang mit Bauvolumen, Proportionen, rechten Winkeln und geraden Linien und Flächen. Denn bei intensiver Betrachtung der Tempel von Paestum fällt auf, dass es gerade Linien und rechte Winkel eigentlich gar nicht gibt. Den antiken Baumeistern gelingt es mit Kurvatur, Wölbung und Schwellung die gewaltigen Baukörper so zu beleben, dass der Eindruck von Monotonie vermieden wird. Diese perspektivischen Verfeinerungen lassen sich nicht planen, vielmehr müssen sie von erfahrenen Handwerkern ausgeführt werden. Vielleicht bedeutet das, griechische Tempel nicht nur als Architektur sonder als Skulptur zu verstehen.
Poseidon oder Neptun Tempel
Jüngste Grabungen konnten nachweisen, dass der gute Zustand des Neptun Tempels ganz besonders der sorgfältigen Planung und Ausführung dieses Baus zu verdanken sind. Denn das gewaltige Fundament des Tempels aus sieben Lagen sorgfältig gearbeiteter Steinquader schwimmt in einer Wanne voller feinstem Sand. Dieses dämpfende Kissen hat die seismischen Wellen zerstörerischer Erdbeben so gut gepuffert, dass der Neptun Tempel auch nach 2500 Jahren noch ziemlich fesch dasteht.
Vor allem dieser klassische Tempel, der wahrscheinlich um das Jahr 460 vor unserer Zeit vollendet wurde, hat die Architektur des 18. und des 19. Jahrhunderts stark beeinflusst. Denn damals war das griechische Mutterland als Teil des osmanischen Reichs für europäische Reisende schwer zu erreichen. Auch die Tempel in Sizilien waren weit entfernt. Die Tempel von Paestum dagegen wurden schnell zum beliebten Ziel jeder Bildungsreise nach Italien. So konnte sich das Bild des Poseidon Heiligtums schnell in Europa verbreiten und Einfluss auf die Ideen der klassischen Architektur gewinnen.
Es ist zweifelhaft, dass der große klassische Tempel von Paestum dem Meergott Poseidon oder Neptun geweiht war. Dieser Namen verdankt sich einem Gedankenspiel der ersten Besucher der Stadt. Vielleicht nahmen sie an, dass – wie zum Beispiel in Athen – der bedeutendste Sakralbau einer Stadt der namensgebenden Gottheit geweiht sein müsste. Bis heute ist das Geheimnis um den Bewohner dieses Gotteshauses nicht gelüftet. Vielleicht wurde im Neptun Tempel ja Apollon angebetet. Aber die meisten Indizien sprechen dafür, dass der Göttervater Zeus hier verehrt wurde. Denn gleich nebenan in der sogenannten Basilika war mit hoher Wahrscheinlichkeit Hera zuhause.
Die archaische Basilika
Tatsächlich verstanden die Griechen einen Tempel als Haus oder Wohnort der dort verehrten Gottheit. Zwar ist nur wenig über die antike Religiosität bekannt, aber es ist anzunehmen, dass die unzähligen Götter des griechischen und des römischen Olymps die Gläubigen während ihres Alltags begleiteten und dort ihre Schutzfunktionen ausübten. Doch die Gegenwart einer Gottheit im Tempel machte es den Gläubigen unmöglich einen Tempel zu betreten. Sie versammelten sich für das Opfer und für den Gottesdienst vor dem Tempel in einem heiligen Bezirk, dem Temenos. Die Türen des Tempels standen während des Opfers offen, so konnten die Gläubigen das Kultbild aus der Fernes sehen.
Die Säulen der Basilika sehen im Vergleich zu denen des Neptun Tempels ziemlich spargelig aus. Auch die weit auskragenden Kapitelle verleihen dem Bau etwas schwachbrüstig wackeliges. Diese Merkmale des Hera Tempels sind typisch für einen archaischen Tempel aus der Mitte des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeit.
Es ist außerordentlich faszinierend sich vorzustellen, wie die großen Quadersteine oder die tonnenschweren Säulentrommeln in von Ochsen gezogenen Wagen an die Baustelle geliefert worden sind. Mit mächtigen Kränen und Stemmeisen wurden sie an die richtige Position bugsiert und erst danach in die endgültige Form gebracht. Anschließend wurden die Säulen verputzt und von oben bis unten mit bunten Farben angemalt. Die Tempel von Paestum müssen ziemlich quietschig ausgesehen haben.
Der Ceres oder Athene Tempel
Auf der anderen Seite der Ausgrabung liegt das Heiligtum der Athene, der Schutzgöttin der Stadt. Lange wurde dieser Bau als Ceres oder Demeter Tempel bezeichnet. Da Poseidonia eine Stadt war, deren großer Wohlstand auf der Landwirtschaft fußte, wird die Göttin der Fruchtbarkeit schon ein prächtiges Heiligtum geweiht sein, nahm man an. Allerdings wurde bei diesem Gedanken zweierlei vernachlässigt. Zum einen liegen Heiligtümer von Ceres ganz genauso wie die des Dionysos meist auf dem Land oder wenigsten vor den Toren der Stadt. Außerdem wurden rund um den Tempel Pfeilspitzen, Schwerter und Bronzeschilde als Opfergaben ausgegraben. Die passen als Weihgeschenke besser zur kriegerischen Göttin Athene als zu der friedlichen Demeter.
Das Gotteshaus für Athene steht auf einem natürlichem Hügel, tatsächlich der höchsten Erhebung der Stadt. Der kleine Hügel war für die winzige Gemeinde, die im 8. und 9. Jahrhundert noch hier ausharrte, der letzte Rückzugsort, bevor in den Bergen eine neue Siedlung mit dem modernen Namen Capaccio entstand. Vielleicht wurde der Tempel der Athene – umgewandelt in eine christliche Kirche – in dieser Zeit weiterhin für Gottesdienste genutzt. Ungewöhnlich wäre so eine Umnutzung nicht.
Denn in jener Epoche, in der sich das Christentum nach und nach in Italien auszubreiten begann, gingen sogar Symbole der griechischen und römischen Götter auf die neuen Gottheiten über. In Paestum lässt sich das gut am Granatapfel nachvollziehen. Als Fruchtbarkeitssymbol spielte der Granatapfel im Hera-Kult eine bedeutende Rolle. Und noch heute wird in Capaccio die Madonna del Granato verehrt. Der Kult der Muttergottheit Hera fand in der Verehrung Mariens als Mutter Gottes seine Fortsetzung.
Die Agora und das Forum
Zwischen dem Tempel der Athene und den Tempeln der Hera und des Zeus erstreckt sich in Paestum die griechische Agora. Der riesige Platz im Zentrum wurde schon bei der Aufteilung des Siedlungsgebiet der neu entstehenden Polis freigelassen. Er war als Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Polis gedacht. Auf diesem öffentlichen Areal fand der Markt statt und wurden Volksversammlungen im Ekklesiasterion abgehalten. Eines der faszinierendsten Gebäude auf der Agora ist das Heroon für den Stadtgründer, den Oikistes.
Der Oikistes war eine bedeutende Figur für eine griechische Pflanzstadt. Denn er finanzierte und organisierte die Expedition, um eine neue Stadt zu gründen. Er wandte sich an das Orakel in Delphi, um dort von den Göttern zu erfahren, wo die neue Polis entstehen sollte. Bei der Gründung des Stadt legte er ähnlich wie Romulus bei der Gründung von Rom, den Umfang der Stadt und den Verlauf des Straßennetzes fest, danach verteilte er das neu eroberte Land an die griechischen Siedler.
So wurde die Person des Stadtgründers zu einem Bezugspunkt der eigenen Geschichte und Identität. Für einige Städte der Magna Grecia sind die Namen der Oikistes überliefert; Leukippos soll Metapont gegründet haben, Taras, ein Sohn des Poseidon, die Stadt Tarent. Für den Oikistes von Paestum ist allerdings kein Name überliefert. Dennoch wurde ein Gedenkort für den anonymen Stadtgründer eingerichtet.
Das Heroon für den Stadtgründer
Ein wenig Fantasie ist notwendig, um sich das ursprüngliche Aussehen dieses unterirdischen Heiligtums vorzustellen. Denn heute sehen wir von dem kleinen Gebäude nur das Dach aus großen Tonziegeln, welches aus der Erde herausragt. Immerhin mehr, als in der Antike sichtbar war. Damals war das ganze Haus unter einem großen Hügel begraben, der dem Heiligtum den Charakter eines Grabmals gab. Deswegen ist das kleine Häuschen auch als ein Kenotaph, ein leeres Grab für einen bedeutenden Toten, zu deuten.
In diesem symbolischen Grab fanden die Archäologen verschiedene Vasen, Spieße und Textilien, die es ermöglichen, die Bedeutung dieses Grabes näher zu bestimmen. Auf einer attischen Vase wird der Göttersohn Herkules gezeigt, als er nach seiner Himmelfahrt Einlass in den Olymp begehrt. Dieses Schicksal haben die Bürger Paestums bestimmt auch ihrem Stadtgründer gewünscht. Denn im Olymp war es diesem sicherlich möglich, ein gutes Wort für die schwierigen Angelegenheiten der Stadt Paestum einzulegen.
Die Spieße dagegen waren Utensilien, die während der Tieropfer für die olympischen Götter benutzt wurden. Auf ihnen wurde das Fleisch des Opfertieres geröstet, bevor es von den anwesenden Bürgern der Stadt verspeist wurde. Der Honig, der in acht bronzenen Gefäßen entdeckt wurde, ist eine typische Opfergabe für die Götter der Unterwelt. Solche chtonischen Gottheiten spielen in den griechischen Städten der Magna Grecia eine viel größere Rolle als im griechischen Mutterland. Vielleicht lässt sich daraus ableiten, dass die griechischen Siedler von der Kultur der italischen Völker viel mehr annahmen, als sie zugeben wollten.
Das römische Forum
Große Teile der Agora wurden ab 273 vor unserer Zeit mit dem Beginn der römischen Herrschaft in Paestum verändert und mit verschiedenen Gebäuden überbaut. Ein Beispiel ist das römische Forum, das neue politische und religiöse Zentrum der Stadt. Dort wurde neben Läden und Verwaltungsgebäuden auch ein bescheidener Tempel für die kapitolinische Trias aus Jupiter, Juno und Minerva errichtet. Ebenso entstand ein Amphitheater, das zu den ältesten in Italien gehört.
Besonders interessant aber ist ein riesiges Schwimmbecken, über dessen Funktion und Bedeutung immer noch gestritten wird. Denn dieser Komplex gehört zu den einzigartigsten Denkmälern in Paestum. Eine sehr aktuelle Deutung erklärt das Schwimmbad zu einem Heiligtum für die Göttin Venus.
Dort hätten die jungen Frauen der Stadt unter der Aufsicht der Venus Verticordia gebadet, um ihre Fruchtbarkeit und Sinnlichkeit sicherzustellen. Da an diesem Ritual, das jährlich im April stattfand, auch ältere Frauen teilgenommen hätten, wäre das gemeinsame Bad auch eine Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs und Lernens gewesen.
Tipps für den Besuch der Ausgrabungen
Besonders interessant ist ein Besuch der Ausgrabung von Paestum, weil während der Besichtigung erlebt werden kann, wie sich ein antike Stadt über viele Jahrhunderte hinweg verändert. Daneben lassen sich fantastische dorische Tempel erkunden und außerdem finden sich hier einzigartige Denkmäler, die es woanders nicht zu sehen gibt. Damit die Besichtigung ein entspanntes Vergnügen wird, solltest Du diese Tipps beachten:
- Für die Besichtigung der Ausgrabung solltest Du mindestens 2 Stunden einplanen. Denn es gibt ziemlich viel zu sehen und zu entdecken
- In der Ausgrabung gibt es nur wenig Schatten. Deswegen solltest Du eine Kopfbedeckung und eine gute Sonnencreme mitnehmen. Die Sonne Kampaniens kann ziemlich heftig brennen.
- Außerdem solltest Du wegen der Sonne und den Temperaturen ausreichend Wasser mitnehmen.
- Vergiss nicht das äußerst sehenswerte Nationalmuseum zu besuchen. Ob Du das Museum vor oder nach der Besichtigung der Ausgrabung von Paestum besuchst, ist Geschmacksache. Für beide Varianten gibt es gute Gründe
Das archäologische Nationalmuseum
Ein Besuch im Archäologischen Museum von Paestum vervollständigt nach der Besichtigung der Tempel das faszinierende Bild einer bedeutenden antiken Stadt in der Magna Grecia. Denn dort sind die bedeutendsten Funde aus den Ausgrabungen rund um Paestum ausgestellt. Dabei lassen sich vor allem drei Gruppen unterscheiden. Besonders eindrucksvoll sind die architektonischen Dekorationen der vielen Tempel von Poseidonia. Auf einigen Reliefs sind die Taten des Herkules zu erkennen. Auf anderen Metopen schreiten und tanzen junge Mädchen wie auf einer Prozession. Löwenköpfe haben ihr Maul weit aufgerissen. Einzigartig ist die Skulptur eines griechischen Gottes, wahrscheinlich ist es Zeus, aus Terrakotta. An der Ausführung – vor allem der prächtigen Perücke – lässt sich erkennen, dass die archaische Kunst der Griechen von babylonischen Vorbildern inspiriert ist.
Eine weitere bedeutende Gruppe stellen die Opfer- und Votivgaben dar. Außerordentlich wertvoll sind 8 bronzene Vasen, die als Weihgeschenke im Heroon auf der Agora für den Stadtgründer deponiert worden waren. In einem kleinen Kästchen ist die harzige Masse zu sehen, die sich in den Vasen befand. Honig, der über 2500 Jahre alt ist. Darüberhinaus sind viele kleine Statuetten, die Hera als Göttin der Fruchtbarkeit zeigen, Symbolische Früchte und Waffen zu sehen.
Die Gräber der lukanischen Oberschicht in Paestum
Der größte Teil der Ausstellungsstücke stammt aber aus Gräbern von antiken Friedhöfen. Neben den Grabbeilagen griechischen Vasen, Rüstungen oder Utensilien zur Körperpflege sind die Gräber selber außerordentlich sehenswert. Denn die Lukaner begannen damit ihre Kammergräber auszumalen. Die Malereien, die in Freskotechnik ausgeführt sind, zeigen eine Kultur, in der der Kampf und die körperliche Tüchtigkeit einen hohen Stellenwert genossen haben. Die Betonung der männlichen Physis haben die Lukaner wahrscheinlich mit den Griechen geteilt. Die große Bedeutung, die sie der Darstellung von Frauen beimessen, könnte dagegen ihren Ursprung in einer italische Kultur haben, welche die Rolle der Frau anders als bei den Griechen definiert.
Bei der Betrachtung von Malereien in Gräbern, wird häufig vergessen, dass diese ja gar nicht für eine Betrachtung angefertigt wurden. Sie waren dazu gedacht, sich neugierigen Blicken zu entziehen und mit dem Toten für immer und ewig im Boden zu versinken. Überraschend sind die flinken Pinselstriche, mit denen Gladiatorenkämpfe auf dem Forum, die Prozession zum Opferaltar oder die Begegnung mit dem finsteren Fährmann Charon am Ufer des Totenflusses Styx dargestellt werden. Anscheinend musste es schnell gehen, wenn ein Grab ausgemalt wurde. Die meisten lukanischen Gräber wurden nach 350 vor unserer Zeit ausgemalt, mehr als 100 Jahre früher entstand das berühmte Grab des Tauchers.
Grab des Tauchers
Als das Grab des Tauchers 1968 entdeckt wurde, war das eine ungeheuerliche Sensation. Denn die Malereien, die sich im Inneren des Grabes erhalten haben, stellen das einzige Zeugnis griechischer Freskomalerei in Paestum und in Italien dar. Ziemlich schnell war klar, dass in diesem Grab kein Grieche beigesetzt worden war. Es wird angenommen, dass das Grab des Tauchers für einen Etrusker hergestellt worden ist. Da im Gegensatz zu den Griechen die Etrusker ihre Grablegen ausmalen ließen.
Die Wände des Grabes zeigen ein typisches Symposion. Leicht bekleidete Männer im besten Alter liegen auf hölzernen Betten zusammen. Sie trinken, musizieren, spielen und fummeln ein bisschen aneinander rum. Auf einer Seite steht ein junger Mann neben dem riesigen Weinkrug. Auf der anderen Seite folgen ein alter Mann mit Stock und ein nackter Ephebe einem flötespielenden Knaben. Vielleicht schaut der Betrachter einer Trauerversammlung zu. Vielleicht aber betrinken sich die jungen Männer auch nur sinnlos, weil es eben Spaß bringt, mit seinen Kumpelns einen drauf zu machen. Damit niemand auf die Idee kommt, dieses Vergnügen zu kritisieren, findet es natürlich im Namen des Gottes Dionysos statt und wird zum Ritual umgedeutet.
Trauer oder Hedonismus?
Grab des Tauchers heißt diese Grabkammer, weil auf der Deckelplatte ein junger Mann von einem Sprungturm ins Wasser springt? Ist der Sprung ins Wasser einer Metapher für die Passage vom Leben Richtung Tod? Anstelle eines Badesees könnte das Wasser ja Lethe, der Fluss des Vergessens, sein. Oder wird mit dem Turmsprung dieses durchtrainierten jungen Mannes eine weitere Lieblingsbeschäftigung griechischer Jugend gezeigt; nämlich Sport machen, damit der muskulöse und gestählte Luxuskörper Eindruck bei den älteren Herren hinterlässt?
Wir wissen es ja nicht. Vielleicht war es auch so, dass die Künstler, die dieses Grab ausgemalt haben, einfach irgendwas gemalt haben, ohne einen philosophischen Gedanken daran verschwendet zu haben, was das mit dem Leben und dem Tod so auf sich haben könnte. Schließlich musste es ja schnell gehen. Neben den vielen Tempeln, Steinen, Vasen und Malereien gibt es in Paestum übrigens ein lebendiges Relikt der Vergangenheit. Den Wasserbüffel!
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Die Mozzarella di buffala aus Paestum
Wie die Wasserbüffel nach Paestum in Italien gekommen sind, ist ebenso wie die Bedeutung des Grab des Tauchers ein großes Geheimnis. Haben etwa die Hunnen während der Völkerwanderung die südasiatischen Büffel hier gelassen? Kann schon sein.
Zwischen den Tempeln von Paestum weiden die Wasserbüffel nicht mehr. Inzwischen sind die Tiere domestiziert. Um den “nilpferdischen Büffeln in die blutroten wilden Augen“ zu schauen, muss man heute einfach zu einem Bauernhof in der Sele-Ebene rund um Paestum fahren. Dort fristen die Wasserbüffel ein Dasein als Milchvieh. Denn aus der äußerst fetthaltigen Milch der Büffelkühe wird die echte Mozzarella di buffala produziert.
Über 400.000 Wasserbüffel werden in Italien gehalten, um Milch für die Mozzarella di buffala zu liefern. Jeder dieser Büffel in Italien hat seine Urahnen in Paestum. Im Jahr 2019 wurden in Italien sagenhafte 50.000 Tonnen Mozzarella di buffala hergestellt. Nicht immer geht bei der Produktion alles mit rechten Dingen zu. Dazu ist die Lebensmittelproduktion in Italien ein zu wichtiges Geschäft. 2007 wurde die Mozzarella Produktion von heftigen Skandalen durchgeschüttelt, wie zum Beispiel die TAZ berichtet.
Nichtsdestotrotz gehört die Verkostung einer echten Mozzarella di buffala zu einem Besuch in Paestum dazu. Direkt an der Ausgrabung gibt es dazu Gelegenheit zum Beispiel in der Bar Anna. Von deren Terrasse kannst du deinen Blick hinüber zum Athene Tempel schweifen lassen und entspannt darüber nachsinnen, was du alles gesehen hast.
- Archäologischer Park von Paestum: Via Magna Graecia, 917/919, 84047 Paestum SA, Italien
- Auf dieser Website kannst du dich über die Geschichte der antiken Stadt, die Öffnungszeiten und Eintrittspreise informieren
- Eine kostenlose App, die die bedeutendsten Denkmäler in den Ausgrabungen beschreibt, findest Du im Apple App Store oder bei Google Play
- Übrigens gibt es in Paestum auch einen tollen Strand. Wenn Du Zeit hast, kannst Du dort Deinen Besuch von Paestum ausklingen lassen.