Was ist die wichtigste Sehenswürdigkeit von Kapstadt?
„Was sind die wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Kapstadt“, frage ich Stephen “Sugar” Segerman. Er lacht. „Der Tafelberg, Robben Island und Mabu Vinyl“, antwortet er und guckt mich aus seinen großen Brillenaugen an. „Kein Scheiß, wir haben hier richtig viele Besucher“, fügt er grinsend hinzu. „Besonders seit Sugar Man…“
Zurück in die Zukunft
Mabu Vinyl ist Sugars Plattenladen. Gemeinsam mit einem Kumpel hat er ihn aufgebaut. Ein paar Regale Bücher, ein paar CDs und DVDs, vor allem aber Vinyl. Überall Kartons mit Langspielplatten. Abertausende! Sein Freund Brian arbeitet auch hier. Sugar Man hat sie zusammengebracht. Und wenn sie von Sugar Man erzählen, dann ist das die Geschichte, die ihr Leben verändert hat.
Ich kenne diese Geschichte schon, als ich den Laden betrete. Ich kenne sie aus dem Film „Searching for Sugar Man“. Einer der besten Dokumentarfilme aller Zeiten, finde ich, und eine fantastische musikalische Entdeckung obendrein. Ohne den Film wäre ich niemals auf Sugar Man alias Sixto Rodriguez gestoßen, und das wäre jammerschade, denn dieser Sixto Rodriguez kreiert nicht nur geniale Songs, er hat auch wirklich was zu sagen. Trotzdem verschwindet er jahrzehntelang in der Versenkung – vielleicht, weil er einen spanischen Namen hat oder weil er aus den Slums von Detroit kommt. Doch dann macht das Schicksal einen dieser irrwitzigen Schlenker und katapultiert ihn aus dem Nichts wieder auf die Bühne, wie im Märchen.
Dieses Wunder verdankt er drei treuen südafrikanischen Fans: Sugar, Brian und Craig. Zwei von ihnen stehen jetzt vor mir und erinnern sich, wie das damals war. Auf einmal ist aus dem Film Wirklichkeit geworden.
Searching for Sugar Man
„Sugar man, won’t you hurry, Cos I’m tired of these scenes, For a blue coin won’t you bring back, All those colors to my dreams“
Sugar Man, der Koks-Dealer aus Rodriguez‘ gleichnamigem Song, wird zum Synonym für eine unglaubliche Gralssuche. Sie beginnt 1997. Rodriguez steckt zu dieser Zeit in einer Sozialwohnung in Detroit. Er entrümpelt Wohnungen, jobt auf dem Bau oder an der Tankstelle. Seine Gitarre hat er immer dabei, weil die sonst gestohlen wird. Ab und zu tritt er mit ihr in Kneipen auf.
Mit dem Musik-Business hat er nichts mehr zu tun, nachdem Anfang der 1970er Jahre zwei Alben gefloppt sind – in den USA! Was Rodriguez nicht weiß: Südafrika ist total verrückt nach ihm! Dort wird er zum Helden der Anti-Apartheid-Bewegung, seine Songs treffen das Mark einer ganzen Protestgeneration. Auch Sugar, Brian und Craig hängen am Radio, wenn Titel wie „Sugar Man“, „Cause“ oder „I wonder“ gespielt werden, tauschen Kassettenaufnahmen aus und glauben wie alle anderen, dass Rodriguez sich wahlweise auf der Bühne erschossen hat, verbrannt ist oder an einer Überdosis zugrunde ging.
Die Legende vom frühen Tod des Lieblingsstars hält sich im medial abgeschotteten Südafrika mehr als zwei Jahrzehnte lang. Dann fällt das Apartheid-Regime und das Internet boomt, beides etwa zeitgleich. Anfang 1997 setzen Sugar und Brian unabhängig voneinander eine Website auf. Der eine will wissen, wie Rodriguez nun wirklich gestorben ist, der andere will ihm ein Denkmal setzen und alles über ihn herausfinden. Sie tun sich zusammen. Der dritte im Bunde ist Craig: DJ, Journalist und natürlich auch ein glühender Fan.
Gemeinsam finden sie das Unglaubliche heraus: Rodriguez alias Sugar Man lebt! Was folgt, ist ein Jahr im Fieber. Schließlich machen sie sich auf die Reise und besuchen ihr Idol. Das Setting erinnert an die Weihnachtsgeschichte: Detroit ist Bethlehem, die schäbige Mietwohnung der Stall und die drei Südafrikaner sind die Könige aus dem Osten, die ihrem Heiland Ruhm, Glanz und Ehre darreichen.
Rodriguez nimmt die Gabe an. Gitarre spielen kann er noch und die harte Arbeit hat den 56-Jährigen in Form gehalten. Die Stimme ist auch noch da. So betritt er die Bühne.
Neustart in Kapstadt
„Kapstadt ist Athen, Joburg ist Rom“, sagt Sugar selbstbewusst. Wenn es um Kultur geht, sieht er seine Heimatstadt klar vor Johannesburg oder Joburg, wie hier alle sagen. Kein Wunder also, dass der totgeglaubte Sugar Man seine Wiederauferstehung zuerst in Kapstadt feiert.
Brian kann sich noch genau daran erinnern. Am 2. März 1998 betritt Rodriguez in Kapstadt erstmals südafrikanischen Boden. Nur einen Tag später beginnen die Proben, und am 6. März bringt er das Velodrome in Bellville ganz im Osten der Stadt zum Beben. Was das beim Publikum auslöst, fängt die TV-Dokumentation „Dead Men Don’t Tour“ ein – ansatzweise jedenfalls.
Kapstadt steht Kopf. Dasselbe passiert in Johannesburg, Pretoria und Durban. Ganz Südafrika liegt dem Sugar Man zu Füßen. Und Rodriguez kommt wieder, mittlerweile fast jedes Jahr. Ende Januar ist der nächste Termin, die Konzerte sind fast alle ausverkauft. Mit dem Comeback in Kapstadt hat sich das Leben des Songwriters komplett geändert. Er tourt durch die ganze Welt, hat jetzt auch in seiner Heimat Erfolg und füllt die Arenen von den USA bis Japan. Für Sugar ist klar: Rodriguez ist „der größte alte neue Künstler auf dem Planeten“.
Sugar Man ändert alles
Sugar und Brian erzählen, als könnten sie immer noch nicht glauben, was da passiert ist. „Du musst dir mal überlegen“, sagt Brian, „wir waren einfach nur Fans. Keiner von uns war im Musikgeschäft“. Doch die unverhoffte Begegnung mit Rodriguez macht aus ihnen neue Menschen.
Gemeinsam starten sie 1999 das E-Magazin „The South African Rock Music Digest„, vier Jahre später steigt Sugar mit der Gründung von Mabu Vinyl ins Plattengeschäft ein. Brian, immer schon ein wandelndes Musiklexikon, verdient da noch seine Brötchen als Sales Manager bei Panasonic. 2007 zieht er den Stecker und steigt aus. Heute steht er jeden Tag im Plattenladen, unterhält eigene Websites und Online Shops und bestreitet zwei Musiksendungen im Internetradio.
Dann taucht aus heiterem Himmel Malik Bendjelloul auf. Der schwedische Dokumentarfilmer hat von der wundersamen Suche nach Sugar Man gehört und will aus dem Plot einen Zehnminüter machen. Auf Zehnminüter ist er nämlich spezialisiert. Als er in Kapstadt ankommt, hat er nur eine Kamera samt Kamerafrau dabei, sonst nichts. Low Budget heißt die Devise.
Doch aus dem Zehnminüter werden rasch 15, 20, 25 Minuten, und immer noch ist der Film nicht fertig. Malik Bendjelloul ist fasziniert von dieser Musik, die mühelos Jahrzehnte und Weltmeere überbrückt. Er erliegt mehr und mehr dieser verrückten Geschichte mit ihrem theatralischen Knalleffekt.
Dazu kommt Sugar, der den Regisseur mit seiner Begeisterung ansteckt. In Südafrika ist Sugar Fahrer, Location Scout und Caterer gleichzeitig. Aus der Zusammenarbeit wird Freundschaft. Am Ende steckt so viel Herzblut in dem Film, dass die Preise nur so hageln. Sogar einen Oskar gibt es, 2013, in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“.
Film-Destination Kapstadt
Der Film „Searching for Sugar Man“ gibt dem Comeback von Rodriguez noch einmal einen enormen Schub. Und Kapstadt bekommt dadurch eine neue Attraktion: die Fahrt vom Stadtteil Clifton an der Küste entlang. „Die Route im Film nachfahren, das machen viele“, erzählt Sugar. Und viele kommen auch zu ihm und Brian in den Plattenladen – nicht zufällig wie ich, sondern weil sie als Sugar-Man-Fans auf der Suche nach Devotionalien sind.
Unter den vielen Postern und Karten, mit denen die Wände von Mabu Vinyl gepflastert sind, hängt auch ein unscheinbares, handgemaltes Blatt mit der Aufschrift „Malik was here“. Darauf ist ein Zettel gepinnt: R.I.P. 13 May 2014. Malik Bendjelloul ist tot? „Selbstmord“, murmelt Sugar, „keiner weiß, warum“. Seine Augen hinter den Brillengläsern glänzen feucht. Ich frage nicht weiter.
Wenn Du weiterlesen willst: hier geht es lang:
- Afrika Reiseberichte
- Kapstadt – Multikulti ohne Tamtam 2/3
- Kapstadt – Multikulti ohne Tamtam 1/3
- Kapstadt – Multikulti ohne Tamtam 3/3
- Südafrika Reiseberichte
Service
“Sugar Man – the life, death and resurrection of Sixto Rodriguez” heißt das erst letzten September erschienene Buch, in dem alles über die “ Great Rodriguez Hunt“, die Jagd nach Rodriguez, steht. Geschrieben haben es Stephen “Sugar” Segerman und Craig Bartholomew-Strydom. Und Brian Currin? Der winkt ab: „Ich stehe nicht gern im Rampenlicht“, sagt er.
Wer das Buch bestellen will, kann das hier tun. Und hier gibt es das Buch sogar schon auf Deutsch. Wer lieber online stöbert: www.sugarman.org ist die ultimative Website zum Thema. Dort gibt es auch jede Menge Infos zum Film „Searching for Sugar Man“.
Die nächste Kapstadt-Reise ist schon geplant? Dann unbedingt zu Mabu Vinyl in die Rheede Street gehen (kleine Querstraße zwischen Kloof Street und Orange Street im Bezirk Gardens). In dem Stadtteil ging’s mal sehr alternativ zu, mittlerweile hat die Hipster-Dichte zugenommen. Das Viertel ist reich an netten Restaurants und Cafés, außerdem ist das Programmkino Labia einen Besuch wert.