Ein Ausflug nach Kadriorg in Tallinn
Tallinn ist eine sehr schöne Stadt, ich habe schon häufiger ihr Loblied gesungen. Allerdings muss ich leider eine klitzekleine Einschränkung machen: Das Wetter, besonders dessen Unbeständigkeit. Auch im August – der perfekten Reisezeit für das Baltikum – wechseln heftiges Schwitzen, Aufspannen des Regenschirm, Frösteln im kühlen Wind in atemberaubender Geschwindigkeit. Was also tun, wenn sich das Wetter nicht entscheiden kann?
Mein Tipp für diese schwierige Situation: ein Ausflug nach Kadriorg, Katharinenthal. Denn hier lassen sich Outdoor und Indoor perfekt kombinieren. Kadriorg ist ein Stadtteil Tallinns – vom Zentrum einfach mit der Straßenbahn der Linie 3 zu erreichen – direkt am weißen und windigen Ostsee Strand.
Der Park von Kadriorg
Ein großer Park läd zum flanieren ein. Romantische Holzhäuser säumen die Straßen. Mitten im Park steht ein barockes Schloß umgeben von ornamentalen Blumenschmuck. Ok, das muss man nicht mögen. Fünf Minuten spazieren und schon ist das KUMU – das Eesti KUnstiMUuseumi erreicht. Es gibt also richtig viel zu tun in Kadriorg. Ich war einen Sonntag Vormittag da. Irgendwo habe ich gelesen, Tallinn sei eine Stadt, die Sonntags richtig lange schläft. Für Kadriorg stimmt das nicht.
Am späteren Sonntag Vormittag ist im Park echt was los. Familienzeit eben. Eltern, Kinder, Kinderwagen, Fahrräder. Blumen im Park fotografieren. Durchstarten bei einem absurden Stationen-Wettlauf. Läufer sprinten querfeldein durch die Blumenrabatten. Sie halten verknitterte Karten in der Hand, die ihnen den Weg zur nächsten Station weisen. Dann legen sie den Kopf schief und starren auf die Karten. Schließlich werden sie langsamer, halten an, klatschen so komische Knöpfe in der Landschaft ab und starten durch. Kann so ein Geruckel gesund sein?
Das estnische KUnstiMUseumi – KUMU in Tallinn
Ich bin unterwegs zum KUMU. Es ist so drückend im Park, dass ich mir ausmale, klimatisierte Säle eines Kunstmuseums seien eine gute Alternative zur sommerlichen Schwüle. Als ich dann vor dem KUMU stehe, reißt eine junge Frau im orangen T-Shirt die Eingangstür auf. Das ist Service, schießt mir durch den Kopf. Doch schon werde ich von einer Horde keuchender Jogger, die in sehr knappen Höschen durch die Tür nach draußen stürmen, an die Betonmauer gedrängt.
Uff, denke ich, so sieht also ein modernes Museum aus, das sich als lebendiger Ort intellektueller Aktivität, versteht. Auf der geschwungenen Rampe, die sich erhaben nach oben in die Kassenhallen biegt, haben die Läufer Stöckchen, modrige Blätter und dunkle Bröckchen Blumenerde hinterlassen. Solche drittklassigen Details fallen mir auf und sofort ärgere ich mich über meinen typisch deutschen Putzfrauen-Blick.
Kunst und Nation
Das KUMU ist ein außergewöhnlich interessantes Gebäude, denn es ist in einer Art Halbkreis in den felsigen Untergrund hinein gefräst. Viel Glas, edelste Materialien, besonders vornehme Farben. Eröffnung war 2006, dieses Jahr, 2016, feiert das KUMU also seinen 10 Geburtstag. Das KUMU verspricht einen Überblick über die estnische Kunst vom frühen 18. Jahrhundert bis heute.
In den ausgestellten Bildern und Skulpturen spiegelt sich die Entwicklung der estnischen nationalen Identität während der letzen 200 Jahre. Schon interessant was für eine Rolle die Kunst so spielen kann. Es gibt Landschaften, ländliche Szenen, mythologische Erzählungen, unglaublich viele Porträts und das alles mit einem national romantischen Hintergrund. Mir bleibt die Idee einer National-Kunst allerdings recht fremd. Denn im Jahr 2016 kommt mir dieses Konzept völlig aus der Welt gefallen vor. Besonders deswegen, weil in fast allen Kunstwerken starke Einflüsse aus aller Welt zu finden sind wie Expressionismus, neue Sachlichkeit, Kubismus, Abstraktion, Surrealismus, Pop Art, Realismus in unterschiedlichsten Facetten.
Das KUMU in Tallinn: Kunst von 1800 bis in die Gegenwart
Das KUMU gliedert sich in 3 Abteilungen, davon sind zwei Dauerausstellungen. Die erste zeigt die estnische Kunst vom 18. Jahrhundert bis 1940. Die zweite stellt unter dem Titel Conflicts and Adaptions die estnische Kunst der Sowjet Zeit von 1940 bis 1991 vor. Gegenwartskunst wird in Wechselausstellungen präsentiert. Ich habe mir vor allem die beiden Dauerausstellungen angeschaut.
Ganz ehrlich, durch die Säle mit den alten Sachen bin ich ziemlich schnell durchgerauscht, einige Male habe ich noch “Huch!“ oder “Oh je!“ gekreischt. denn manches Kunstwerk schwitzt mindestens so schwül und schwiemelig wie der drückende Augusttag draußen vor der Tür. Skulpturen und Bilder sind dabei so geschmackvoll arrangiert, dass sich immer wieder bestürzend komische Durchblicke öffnen. Das estnische Bürgertum des 19. Jahrhundert muss eine ziemlich verfriemelte Gesellschaft gewesen sein, das lässt mich außerordentlich kalt.
National-Romantik im KUMU
Dann wird es merklich wärmer. Um 1900 beginnen die estnischen Maler national-romantisch zu pinseln. Faszinierend ist der junge Oskar Kallis. Er wird 26 Jahre alt, dann vergeht er an der Tuberkulose, sein großes Thema ist der estnische Nationalepos Kavelipoeg. Immer wieder malt er Szenen aus dieser Erzählung.
Der Held Kavelipoeg beim Holzschleppen. Der Held Kavelipoeg in der Hölle. Linda, die Mutter des Kavelipoeg, wuchtet Steine auf das Grab ihres Mannes. Glühende Farben und Landschaften aus geschwungenen Ornamenten ganz offensichtlich ist Oskar Kallis vom Jugendstil inspiriert.
Die estnische Landschaft
Kiefern, Fichten, Birken. Sanfte und flache Hügel. Seen, Teiche und Moore. Das sind die reizvollen Zutaten zur estnischen Landschaft. Die sensible Ausdeutung dieser etwas eintönigen nordischen Landschaft zu poetischen Bildwerken ist eine besondes vornehme Aufgabe der estnischen Kunst um 1900. Konrad Mägi bewältigt sie mit zarten Farben und weichen Linien, die wieder an den Jugendstil erinnern. Mägi ist der erste moderne Landschaftsmaler Estlands.
Der estnische Maler Karl Pärsimägi
Eine großartige Entdeckung sind für mich die Werke des Malers Karl Pärsimägi. Denn hinter diesen versteckt sich ein bewegtes Leben und ein grausamer Tod. Als junger Mann kämpft Pärismägi in den Befreiungskriegen gegen die russischen Revolutionstruppen. Er studiert an der neugegründeten Pallas Kunstschule in Tartu und geht dann in den späten 20er Jahren nach Paris. Seine Landsleute nennen ihn nun den estnischen Matisse, wahrscheinlich wegen seiner klaren, lichten Farben.
1940 nach der Besetzung Paris durch die Wehrmacht wird Pärismägi von der Gestapo verhaftet. Warum? Vielleicht weil er die französischen Résistance unterstützte, oder weil er eine jüdischen Freundin vor der Verschleppung durch die deutschen Mörder bewahren wollte, oder weil er schwul war. Weiß niemand so genau. 1942 wird Pärismägi in Auschwitz ermordet. Wegen seiner Beteiligung an den Befreiungskriegen sind seine Bilder während der sowjetischen Besatzung tabu. Ausgestellt werden sie erst nach der Wende 1991.
Karl Pärsimägi unglaublich schönes und queeres Selbstporträt mit Perlen ist so präsent und so lebendig, dass mich die Frage: “Wer bin ich? Was bin ich?“ geradezu anspringt. Sind die Perlenkette, der kräftig bemalte Mund, die gebogene Augenbraue ein Spiel mit der sexuellen Identität, oder sind sie ein Verweis auf den Pärlijõgi, den Perlenfluss, in Võrumaa der Heimat des Malers?
Conflicts and Adaption – Kunst der Sowjet Zeit im KUMU
Heroische Posen, starke Männer, suggestive Kompositionen. Tatsächlich geht mir die staatlich verordnete Kunst der Stalin Zeit schon unter die Haut. Also stehe ich erst einmal davor und denke: tolle Malerei. Mir scheint es fast so zu sein, als sei der Formenschatz dieser totalitären Kunst schon lange in die heutige Alltagskultur eingesickert. Deswegen fühle ich mich auch gleich wohl. Aber wie lässt sich die ideologisch aufgeladene so verführerische Wohlfühl-Kunst, denn nun kritisch und erkenntnisträchtig präsentieren?
Im KUMU haben sich die Kuratoren dazu entschlossen verschiedene Perspektiven für die Interpretation dieser Kunst anzubieten. Einmal wird ihre offizielle Funktion als Vermittlerin der frohen sozialistischen Botschaft ausgeleuchtet, dann wird die Rolle des Künstlers als Befehlsempfänger dargestellt. Er hatte Bilder zu malen, deren Botschaft, Stimmung und Komposition politisch gewünscht waren. Außerdem wird Kunst im Untergrund oder in der Opposition, die sich an westlichen Kunstströmungen orientiert, ausgestellt. Dazu gibt es dann noch eine Portion Ironie. Zum Beispiel Witze:
Während des Sprachunterrichts:
“Gott schickt einer Krähe ein kleines Stück Käse.“ diktiert der Lehrer.
“Aber Lehrer, Du hast gesagt, dass Gott nicht existiert,“ sagt Volodya.
“Nun, es gibt auch keinen Käse, was sollen wir tun, den Unterricht beenden?“
Eine Art Witz macht der Sowjet Pop Künstler Tonis Vint mit seiner Arbeit Mich als Getränk und Zutat in verschiedenen Lebensmitteln von 1970. Er ironisiert den strikt regulierten und häufig leergefegten Lebensmittelhandel der Sovietunion mit schlichten Aufforderungen zum gesunden Konsum. Er öffnet eine negative Soll- und Haben-Rechnung. Auch Sowjet Pop kreist um das Thema Konsum, allerdings nicht in der Form der Überproduktion und des Consumismo, eher in der Form von Konsumbegehren und realem Mangel.
Stalinistischer Impressionismus
Etwas ganz anderes verspricht dagegen eine Ikone der stalinistischen Propaganda-Kunst in der Sammlung des KUMU. Getreide für den Staat von Viktor Karrus. Wie lässt sich profitable Landwirtschaft heroisieren? Karrus nutzt dazu die Ästhetik eines Filmstills. Aus einem sonnenbeschienen, goldgelben Getreidefeld lässt er einen Laster, beladen mit Getreidesäcken, aus uns zubrausen. Auf dem Laster schwingen glückliche Menschen eine rote Fahne. So suggestiv erfolgreich und glücklich kann also industrielle Landwirtschaft sein.
Inneres Exil
Besonders berühren mich die Gemälde von Kaja Kärner. Es sind kleinformatige Arbeiten, hergestellt mit einfachen Mitteln. Alltags Szenen oder Szenen des Privaten. Einfache, schlichte Themen, die in der offiziellen Sowjet Kunst keinen Platz fanden. Während der Soviet Zeit war Kaja Kärner kein Teil des öffentlichen Kunstbetriebs, deswegen arbeitete sie als Marketingspezialistin in einer Handelsgesellschaft.
Andere Möglichkeiten künstlerisch tätig zu sein und der politischen Kunstdoktrin zu entkommen, bot der Hyperrealismus. Schon erstaunlich welchen Aufwand Künstler betrieben haben, um Leuchtreklamen oder Sicherungskästen zum Anfassen echt nachzumalen.
Ich fand die Ausstellung Conflicts and Adaptions sehr unterhaltsam und informativ. Ich habe tolle Bilder gesehen und viel über die Künstler*innen und ihre Arbeitsbedingungen erfahren. Außerdem fand ich die Kontextualisierung der ausgestellten Werke durch Dokumente und Kommentare im kleinen Ausstellungskatalog sehr gelungen. Die Propaganda Kunst der Stalin Zeit hat so ihre wuchtige Bedrohlichkeit verloren. Sie ist auf Normalmaß zurecht gestutzt. Außerdem ist es gut zu wissen, dass es neben der offiziell verordneten Kunst so viele künstlerische Untergrundbewegungen gab, in denen Künstler unabhängig und frei arbeiten und produzieren.
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Roggen, Rothirsch & Meringue
Mensch, schon 12 Uhr 30, Mittagszeit, schon ist der Hunger da. Ich fahre mit der Straßenbahn zurück Richtung Zentrum. Seit Tagen schon möchte ich das Restaurant Farm ausprobieren, denn im Schaufenster dieses Restaurants sitzt eine lustige Versammlung wilder Tiere, Biber, Wolf, Fuchs … zu Tisch. Außerdem wird moderne estnische Küche versprochen, schaut sehr einladend aus, geh ich mal rein. Naja, eingerichtet ist das ganze in einem ziemlich uncoolen Landhaus-Stil mit so Rüschen und Kristall drum herum. In der Mitte die transparente Küche, da lassen sich die fleißigen Köche hinter Glas beim Messer schärfen und Kräuter hacken beobachten und belauschen. Leider riecht es aus der Küche ein bisschen zu stark.
Der Service ist unheimlich schnell, wie das in Estlands Restaurants so häufig ist. Kaum ist der Teller leer, da wird er vom aufmerksamen Kellner schon vom Tisch gezogen und durch den nächsten Gang ersetzt. Die Speisen sind verführerisch auf Holzbrettern angerichtet, schmecken tut es auch, deswegen lass ich mal die Bilder sprechen.