Melfi an der Via Appia Antica
An einem regnerischen Tag mache ich mich von Matera auf nach Melfi. Dunkele Gewitterwolken hängen über der hügeligen Landschaft der Basilikata. Die regennaßen Wiesen und Felder leuchten in kräftigem, magischen Grün und Gelb. Manchmal ist ein Regenbogen zu sehen. Ich erinnere mich, dass Carlo Levi in seinem Buch Christus kam nur bis Eboli davon erzählt, dass die Gelbsucht in der Basilikata Regenbogenkrankheit heißt, weil der sie bekommt, der an den Fuß eines Regenbogens pinkelt. Wie sieht bloß der Fuß eines Regenbogens aus?
Melfi liegt ziemlich abgelegen irgendwo im Norden der Basilikata. Das kleine Bergstädtchen ist schwierig zu erreichen, deswegen verirren sich nur wenige Reisenden hierher. Von Overtourismus hat man in Melfi höchstens mal in der Zeitung gelesen. Eigentlich ganz schön, denke ich. Aber das nächste Mal, wenn ich die bröselige Altstadt hoch oben auf diesem steilen Inselfelsen besuche, packe ich ein leckeres Picnic ein. Denn was Ordentliches zu Futtern habe ich in der Altstadt nicht gefunden. Schade.
Natürlich war das mal anders. Allerdings ist das ziemlich lange her. In der Zeit der alten Römer führte tatsächlich die Via Appia Antica, die Königin aller Straßen, ganz nah an Melfi vorbei. In den Zeiten der Ritter und Kreuzfahrer machten sogar Päpste, Könige und Kaiser in dem runzeligen Bergstädtchen Station. So wurde das trutzige und düstere Kastell der Stadt Schauplatz weltbewegender Geschichten.
Eine ziemlich abenteuerliche Geschichte – Melfi und die Normannen
Als im August des Jahres 1059 Papst Nikolaus den Normannen Richard von Aversa mit dem Fürstentum Capua und Robert Guiscard mit Apulien, Kalabrien und Sizilien belehnt, endet im Kastell von Melfi eine außerordentlich abenteuerliche Geschichte.
Die Normannen, Nachfahren jener räuberischen Wikinger, die Karl der Große gut 200 Jahre zuvor in der Normandie heimisch gemacht hatte, eroberten innerhalb weniger Jahre Süditalien und formten angeführt von 12 Brüdern aus der Familie Hauteville, zu der auch Robert und Richard gehörten, einen der bedeutendsten Staaten der mittelalterlichen Welt. In Melfi wurde die normannische Staatsgründung von Nikolaus höchst offiziell – wenn auch widerwillig – abgesegnet.
Sizilien musste zwar noch den arabischen Einwanderern, die es damals beherrschten, weggeraubt werden, damit die Normannen die Insel ihr Eigen nennen konnten. Aber auch dieses Abenteuer wurde von einem optimistischen und unternehmungslustigen Hauteville, nämlich Roger dem jüngsten der 12 Brüder, in kurzer Zeit erfolgreich absolviert.
Geniale Gesetze – Friedrich der II und die Konstitutionen von Melfi
Sein Sohn Roger II konnte sich bald König von Sizilien nennen. Dessen Enkel, eine der faszinierendsten und kontroversesten Gestalten des europäischen Mittelalters, der deutsche Kaiser Friedrich der II verkündet vor Ort die berühmten Konstitutionen von Melfi. Diese Konstitutionen entpuppten sich als ein so geniales und umfassendes Gesetzeswerk, dass sie im Königreich Sizilien bis weit bis in das 19. Jahrhundert gültiges Gesetz bleiben konnte.
Im Kastell von Melfi kreuzten sich – wie so häufig in Süditalien – der Okzident und der Orient äußerst produktiv, denn die Grundlage der Konstitutionen waren arabische, römische und normannische Rechtstraditionen, die zu über 200 Einzelgesetzen geformt alle Bereiche des öffentlichen Lebens betrafen. Dass diese Gesetze so lange gültig blieben, hat allerdings auch damit zu tun, dass das Königreich Sizilien mit ziemlich zähen und trägen Königen geschlagen war, denen prächtige Schlösser und schlüpfrige Vergnügungen in Neapel wichtiger als das gute Regieren war.
Mit den Konstitutionen von Melfi begründet Friedrich der II im Jahr 1231 auf jeden Fall das damals revolutionäre Modell eines zentral verwalteten Beamtenstaates, dem das alleinige Recht zur Strafverfolgung zusteht. Kennen wir heute noch als Gewaltmonopol des Staates. Aber ob Friedrich der II mit den Konstitutionen von Melfi einen Vorläufer des modernen Staats schuf, wie einige seiner Fans behaupten, sei dahingestellt. Immerhin drohte bei Ketzerei oder Majestätsbeleidigung die Todesstrafe. Und richtig sexy kling Beamtenstaat heute auch nicht mehr.
High Tech und Tristezza
Wie dem auch sei, das Städtchen Melfi war einst Brennpunkt der europäischer Geschichte. Tempi passati, denn die fast menschenleere und etwas traurige Altstadt voller geduckten Häuschen mit runzeligen und bemoosten Fassaden lässt dieses große Erbe vergessen. Ganz ehrlich, ich hatte mir Melfi ziemlich anders vorgestellt, aufgeputzter und wohlhabender voller modernem Glanz.
Denn in der Nähe findet sich eine der modernsten und effizientesten Autofabriken der Welt, die zu einem globalen Unternehmen gehört, dass heute FCA, früher mal Fiat und zukünftig Stellantis heißt. Ich habe deswegen zwar nicht gedacht, dass es im abgehängten Süden Italiens so aussieht wie in Zuffenhausen oder Wolfsburg, denn die Stadt liegt halt an der wirtschaftlich abgehängten Peripherie Europas.
Aber ich hatte mir vorgestellt, dass in Melfi wenigstens irgendetwas hängen bleibt wie Geld oder ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung. Pustekuchen! Der Ort in der Basilikata ist eine bedrücken arme Stadt. Wer übrigens den Unterschied zwischen Zuffenhausen und Melfi bestaunen will, der muss einfach nur die Wikipedia aufschlagen. Da ist im Artikel zu Zuffenhausen alleine der Absatz zur Geschichte der Römerzeit länger als der gesamte Artikel zu Melfi . Ich meine, Römer in Zuffenhausen? Gehts noch?
Fiat in Melfi – Investieren auf der grünen Wiese
Aber zurück nach Melfi und Fiat oder FCA. “Hier schlägt das italienische Herz der Marke” jubiliert der Autobranchen Dienst Vision Mobility und folgert “Melfi dürfte aktuell zu den stärksten FCA-Standorten weltweit zählen”. Über 500.000 Autos werden jährlich produziert. Arbeitskräfte werden eingestellt. Zur Zeit wird der Jeep Renegade hergestellt, demnächst auch ein Jeep als Plugin Hybrid, also als Auto mit Strom aus der Steckdose. Dazu wird das FAC Werk in Melfi neuausgerüstet und modernisiert.
Wie kann es sein, dass eine Autofabrik in der ärmliche Peripherie Europas zu den effizientesten in der Welt gehört? Und wie kann es sein, dass die Region nicht vom Erfolg profitiert?
Das ist alles ein bisschen kompliziert und ein Wirtschaftsexperte bin ich auch nicht. Aber in Kürze scheint es so gewesen zu sein, dass der Bau einer Fiat Fabrik in Melfi auf der grünen Wiese dem Konzept folgte “Produktionsstätten zu errichten in Gebieten ohne industrielle Tradition, mit einer neuen Arbeiterklasse, die … keine gewerkschaftliche Tradition hat und ausschließlich aus jungen Arbeitskräften besteht, die vollständig der betrieblichen Standortlogik unterworfen sind”.
In Melfi schlägt das italienische Herz des Autobauers FCA
Als die Produktion des Fiat Punto in Melfi 1993 anlief, konnte Fiat wegen der hohen Arbeitslosigkeit in der Basilikata aus 80.000 Bewerbern 7.000 Arbeiter auswählen. Jung, also unter 32 Jahren, und keine Arbeitserfahrung in der Industrie waren die wichtigste Einstellungskriterien. 1993 lag der Lohn 20% unterhalb der Durchschnittslöhne bei Fiat. Das hat sich allerdings Anfang dieses Jahrtausends geändert.
Geblieben ist hingegen, dass die Autofabrik in Melfi ein integriertes Unternehmen nach japanischem Vorbild ist. Dieses besteht neben dem Hauptwerk aus einem Netzwerk von Zulieferern und Systempartnern, die in der Nähe des Werks angesiedelt sind. Eine lokale wirtschaftliche Dynamik konnte in Melfi deswegen nicht entstehen, weil die meisten Systempartner Unternehmen aus Norditalien sind. Von dort kommen die Innovationen und Entwicklungen. Auch bleiben alle komplexen Elemente des Produktionsprozesses im Verantwortungsbereich der Unternehmen aus dem Norden.
Ortsansässige Firmen liefern dagegen an das Hauptwerk hauptsächlich Komponenten, an die geringere Qualitätsstandards angelegt werden. Darum erhalten die lokalen Unternehmen weder Impulse für die Entwicklung einer eigenständigen Produktion noch können sie sich neue Absatzmärkte erschließen. So wird trotz Innovation die gesamte Region wirtschaftlich an der kurzen Leine gehalten.
Vorwärts in die Vergangenheit – Besuch im Kastell von Melfi
Nicht allzu rosig was die Gegenwart zu bieten hat. Darum vorwärts in die Vergangenheit. Was ist von Normannen und deutschen Kaisern in Melfi übrig geblieben? Leider nicht viel. Der hungrige Zahn der Zeit hat Melfi ziemlich angenagt. Zusätzlich haben heftige Erdbeben für wüste Zerstörung gesorgt. Aber immerhin ein beachtlicher, romanischer Kirchturm aus der Zeit Robert Guiscards hat bis heute überdauert. Prächtige Löwen schmücken ihn. Toll anzuschauen. Und dann ist da natürlich das Kastell.
So wie das Kastell von Melfi stelle ich mir Rittterburgen vor. Abweisend, fruchteinflößend, bedrückend grau. Eben ein Gebäude aus einer Zeit, als die Menschen noch echte Abenteuer erlebten. Der Anblick dieser gewaltigen Festung verzaubert mich sofort in eine fantastische Fernseh-Welt von König Arthurs oder Games of Throne. Auch wenn in Melif die Helden nicht Jon Stark sondern Drogo Eisenarm, Robert Guisguard oder Friedrich II aka Stupor Mundi heißen.
Der Sarkophag von Rapolla
Die dicke Mauern und wuchtigen Türme des Kastells beschützen einen ganz besonderen Schatz. Den Sarkophag von Rapolla. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese große Mamorkiste samt Deckel in Rapolla nahe der Via Appia gefunden. Wahrscheinlich befand sich der Sarkophag auf dem Weg nach Rom, als er aus unbekanntem Grund am Straßenrand abgestellt wurde. Eine anonyme, junge Dame ruht anmutig, versunken in ewigem Schlaf auf einem Bett, das den Deckel des Sarges schmückt. Die Wände des Sargkastens sind mit Nischen und Giebeln einer Tempelarchitektur geschmückt, aus denen muskulöse Götter wie Mars und Zeus heraustreten.
Auf der Rückseite ist eine Frau mit Schild dargestellt. Begleitet wird sie von einer Amorette. Falls die Dame die Göttin Venus Genetrix, also die Schutzgöttin des römischen Kaiserhauses ist, wäre der Sarg für eine Dame aus höchstem, vielleicht kaiserlichem Hause bestimmt gewesen. Sicher lässt sich nur sagen, dass der Sarkophag von Rapolla aus dem zweiten Jahrhundert stammt, einer Zeit in der Kaiser Marc Aurel im fernen Rom regierte.
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Eine befestigte Schatzkammer – Das archäologische Museum von Melfi
Der Sarkophag von Rapolla wird im archäologischen Nationalmuseum von Melfi ausgestellt. Dort gibt es aber noch ganz andere Schätze zu entdecken. Bei meinen Erkundungen werde ich nur von Museumswächtern begleitet. Von anderen Besuchern keine Spur!
Äußerst bedauerlich! Denn die erhabenen Säle der mittelalterlichen Burg verwahren erstaunliche Kostbarkeiten, die aus einer noch weiter entfernten Epoche stammen als der römischen. Die sagenhafen Völker und Daunier und Lucanier haben sie hinterlassen. Es müssen kriegerische Völker gewesen sein. Denn überall in den Vitrinen rosten Helme, Schwerter, Speere vor sich hin, sogar die Reste eines Kampfwagens sind ausgestellt.
Neben den mörderischen Werten des Kampfes und des Krieges standen aber auch die schönen Dinge des Lebens bei den Dauniern hoch im Kurs. Von den Etruskern in Norditalien kamen zauberhafte Bronzefiguren zu ihnen. Griechische Händler aus Tarent verkauften ihnen prächtige, buntbemalte Vasen. Vom weit entfernten Ostseestrand im Baltikum gelangte sogar schon in aller frühester Zeit Bernstein auf verschlungenen Handelsrouten in die Basilikata und dort in die Gräber der lucanischen Damen.
Krieg und Luxus im Museum von Melfi
Ganz großartig sind die riesigen Vitrinen, in denen die Grabfunde aus einzelnen Gräbern im archäologischen Museum von Melfi ausgestellt werden. Häufig finden sich solche Grabbeilagen ja auseinander gerissen und zerstreut an verschiedensten Orten. Aber im Museum von Melfi lässt sich eindrucksvoll nachvollziehen wie aufwändig und prächtig Beisetzungen in längst vergangenen Zeiten waren.
Mich beeindrucken ganz besonders winzige und außerordentlich zarte Tongefäße, die mit geometrischen Mustern und einer Granatapfel-Knospe oder stilisierten Stierköpfen verziert sind. Der Kontrast zwischen bauchiger Form und verwinkeltem Dekor fasziniert mich sehr.
Eine klitzekleine etruskische Skulptur zeigt eine weibliche Gottheit, wie sie einen Knaben trägt, vielleicht ist sie dabei die Sonne und damit den Tag zur Ruhe zu betten oder der Morgen bringt die Nacht zu Bett. Wie auch immer, eine ganz zauberhafte Szene.
Aber weil nicht alle sich teuere Kunst fürs Grab anschaffen konnten, kamen auch weniger begabte Künstler zum Einsatz und bemalten Vasen mit naiven Motiven, die kultische Szenen darstellen, in denen ein Medusenhaupt eine zentrale Rolle spielt. Der Unterschied zwischen arm und reich war anscheinend auch in der Vergangenheit ziemlich krass. Ich schlendere zu lange zwischen den Vitrinen herum. Siedendheiß fällt mir ein, dass ich heute noch nach Venosa will. Also schnell weiter durch den Regen.
Was nehme ich nach meinem kurzen Aufenthalt mit aus Melfi? Einen klebrigen Schleier der Vergeblichkeit. Die düsteren Wolken über der Basilikata sie passen perfekt zu meinem Gemüt.