Metz die Hauptstadt Lothringens
Pont-à-Mousson kennt niemand. Das ist nicht gerecht. Denn ohne Pont-à-Mousson fehlten in aller Welt die Kanaldeckel. Die werden hier produziert. Vittel dagegen kennt jeder, des Mineralwassers wegen. Domremy-la-Pucelle kennt jeder Franzose. Dort steht das Geburtshaus der Jeanne d’Arc. Die drei Orte haben eines gemeinsam: Sie liegen in Lothringen. Darum geht es. Genauer gesagt: Es geht um Metz, das ist die Hauptstadt Lothringens.
Doch lohnt es sich, zuvor einen Umweg über das Land machen, sozusagen einen Ausflug in die lothringische Wesensart, die Metz so sehr prägt. Also fahre ich in das Dorf Burlioncourt, in die Rue Principale. In der Gegend wurde früher Salz gewonnen, aber das soll hier nicht weiter interessieren.
Burlioncourt ist die Heimat von Jean Girardin. Das Rendezvous beginnt vor seinem Haus. Dort steht er, mitten in der Mittagshitze: kurze Hosen, kariertes Hemd, die Schlagkappe im Nacken. Die Lachfalten um seine Augen strahlen wie kleine Sonnen. Wenn er spricht, sind seine Hände in ständiger Bewegung. Und er hat viel zu erzählen.
Der Knoblauchbrenner
Ohne Umschweife führt er mich zu seinen Öfen, in die „Teufelsstube“, wie er sie nennt. Er ist „bouilleur“. Korrekt übersetzt heißt das Branntweinbrenner, aber das Wort hört sich so unmöglich an, dass du es am besten gleich wieder vergisst. „Eau-de-vie“ sagen die Franzosen zum Branntwein, Lebenswasser. Wer Jean Girardin reden hört, könnte sich keinen treffenderen Ausdruck vorstellen: Er lebt für seine Arbeit.
Dabei geht es sehr rustikal zu. Das fängt schon mit den Öfen an. Einer davon ist gut zweihundert Jahre alt – ein Zeitgenosse Napoleons. Gefeuert wird nur mit Holz. Und die Kessel sind natürlich aus Kupfer. Mit den neuen aus Aluminium oder Titan ginge es zwar schneller, aber Jean Girardin hat Zeit. Winter für Winter sitzt er wie ein Alchemist in seiner rußgeschwärzten Destillierküche und passt auf seine Öfen auf. „Die sind wie Lokomotiven“, sagt er fast liebevoll, „man muss immer da sein, Holz nachlegen und gucken, dass alles läuft.“
Manchmal kommt er auf lustige Ideen. Dann brennt er Knoblauch – „schmeckt nicht“ – oder Efeu – „macht verrückt“. Also doch lieber Obstler. Die Probe aufs Exempel gibt es oben in der guten Stube. Was folgt, ist ein detaillierter Leitfaden des abgestimmten Geschmacks.
Oh lala, la Mirabelle!
„Jeder Schnaps geht mit einem Fleisch“, verkündet Jean Girardin in dem unbekümmerten Deutsch, zu dem er sich immer wieder tapfer durchringt. Weißdorn passt zu Wachteln, Williamsbirne zu Rind, Mirabelle zu Schwein. Zu Eau-de-vie aus Bitterfrüchten gehört Fisch, zur salzigen Schlehe Hase. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Doch das ist beileibe nicht alles. Richtig kompliziert wird es erst, wenn die Haarfarbe als Kriterium hinzukommt. Blonde, so erzählt er mit bewundernswerter Überzeugung, trinken am besten Schnaps aus Äpfeln, Erdbeeren oder Trauben, Brünette halten sich an Birne und Pflaume, Rothaarigen steht Hochprozentiges aus exotischem Obst besonders gut an.
Du musst Menschen wie Jean Girardin erlebt haben, um Lothringen und seine Hauptstadt ganz wahrzunehmen. Du musst dabei gewesen sein, wie er „oh lala, la Mirabelle“ sagt, als spräche er von einer schönen Frau. Erst dann kannst du verstehen, warum die Metzer die Mirabelle alljährlich im Spätsommer so groß und ausgelassen feiern. Erst dann erkennst du hinter den Fassaden und in den Gesichtern diese eigentümliche Mischung aus Bodenständigkeit, Provinzialität und geradlinigem Selbstbewusstsein.
Von wegen Kohle und Stahl! Metz ist wunderschön!
Metz. Die Straßen und Cafés sind voller junger Leute. Das macht die Universität. Und das hat sicherlich auch mit „Technopôle“ zu tun, dem ersten europäischen Technologiepark, wie die Metzer stolz betonen. Gläsern und chromblitzend liegt er vor den Toren der Stadt. Computersoftware und Telekommunikation weisen den Weg in ein neues Zeitalter. Dabei galt Lothringen vor gar nicht langer Zeit noch als das Ruhrgebiet Frankreichs. Aber die Tage von Kohle und Stahl sind auch hier längst gezählt. In Metz und Umgebung scheint es gar, als hätte es die Schwerindustrie nie gegeben. Das ist die eine große Überraschung. Die andere: Metz ist wunderschön!
Bei einem Spaziergang durch das historische Zentrum setzt sich die bewegte Biographie des Ortes wie ein Puzzle zusammen. 3.000 Jahre reichen die Wurzeln der Stadt in die Vergangenheit zurück. Zuerst kamen die keltischen Mediomatriker, dann kam Caesar und brachte die Wirtschaft in Schwung. Später fiel Metz an Frankreich, und zweimal – insgesamt mehr als ein halbes Jahrhundert lang – besetzten die Deutschen Lothringen.
Surfen mit Blick auf die „Laterne Gottes“
Heute ist Metz Provinzhauptstadt. Nach modernen Maßstäben gilt sie als klein – 120.000 Einwohner sind nicht die Welt. Dafür zählt der örtliche Dom zu den höchsten gotischen Kathedralen überhaupt. Und sicherlich auch zu den buntesten: Er hat so viele und vor allem so riesige Fenster, dass du dir fast schon Sorgen um seine Statik machen musst. Aber die „Laterne Gottes“, wie ihn die Metzer nennen, steht felsenfest und beherrscht die Altstadt seit dem 14. Jahrhundert.
Deren Gassen und Plätze wirken trotz ihrer imposanten Geschichte alles andere als museal. Das liegt vor allem an dem einmaligen Standort. Wie ein Schiffsbug schiebt sich das historische Zentrum in den Zwickel zweier Gewässer: Im Westen bummelt die Mosel durch ihr vielfach zerteiltes Bett, von Südosten nähert sich einer ihrer Zuflüsse, die seichte Seille. An einer Stelle entsteht daraus ein veritabler See. Dort tummeln sich im Sommer die Wassersportler – mit Blick auf die Dächer der Kathedrale.
Häuser mit Heiligenschein
Nicht weit davon stehe ich plötzlich vor dem Speyrer Kaiserdom. Natürlich ist es ein Nachbau. Den haben die Deutschen hier hingesetzt, unter Wilhelm II. Das Ganze wirkt ein bisschen skurril, aber auch das gehört zu Metz. Immerhin waren die Deutschen lange genug hier, um ein ganzes Viertel zu hinterlassen, entlang der Seille im Westen der Stadt. Dort liegt auch der Bahnhof, ein Paradebeispiel wilhelminischer Ästhetik. Den neuangelegten Vorplatz beleuchten allabendlich Straßenlaternen des Stardesigners Philippe Starck.
Überhaupt lassen sich die Metzer einiges einfallen, um ihre Stadt ins rechte Licht zu rücken. Die beste Idee hatten sie im Falle der Kathedrale: Deren Fenster werden nachts von innen angestrahlt. Die farbigen Geschichten, die sie zeigen und in denen sich auch Marc Chagall verewigt hat, lesen sich wie ein frommes Bilderbuch.
Auch andernorts setzen Scheinwerfer gezielte Akzente. Häuser und Paläste, Brunnen und Brücken, Kirchen und Zitadellen tragen ihre Lichtkränze wie Heiligenscheine. Dann bieten die zahlreichen Cafés auf der gemütlichen Place St. Jacques die besten Logenplätze, um den Menschen beim Flanieren zuzusehen.
Das ist genau der richtige Zeitpunkt für ein Gläschen „Eau-de-vie à la Mirabelle de Lorraine“. Die Mirabelle gilt immerhin als eines der Sinnbilder Lothringens. Zu Metz passt sie besonders gut: Die meisten Gebäude der Altstadt sind aus dem einheimischen goldgelben Kalkstein errichtet und leuchten selbst wie Mirabellen.
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Auf einen Blick
Metz leuchtet wie eine Mirabelle. Das passt gut, denn die Mirabelle ist Lothringens Wahrzeichen und Metz seine Hauptstadt. Der Reisebericht lernt bei einem philosophischen Schnapsbrenner die lothringische Lebensart kennen, spaziert durch das historische Zentrum, wirft einen Blick in die „Laterne Gottes“ und kommt aus dem Staunen nicht heraus: Metz, einst industrielles Zentrum im Ruhrpott Frankreichs, hat sich mächtig herausgeputzt und strotzt vor Selbstbewusstsein!