30 Seemeilen nach Nantucket
Nur eine Stunde braucht der Katamaran-Jet für die 30 Seemeilen. 30 Seemeilen, das ist immerhin so weit, dass ich zwischendurch kein Land mehr sehe. Die Schiffsschrauben hinterlassen eine Spur wie ein Kondensstreifen, der Fahrtwind bläst mich fast um. Beim Ausstieg im Hafen wirken die Häuser winzig neben dem massigen Schnellboot. Nantucket!
„Und so haben die armseligen Leute von Nantucket, diese Meeres-Eremiten, von ihrem Ameisenhügel aus die Wasserwelt überrannt und erobert, jeder ein Großer Alexander.“ Natürlich kommt hier nur dieses eine Buch als Reiselektüre in Frage, literarisches Denkmal des Walfangs, Sinnbild menschlicher Hybris: Herman Melvilles Moby Dick. Kann es überhaupt einen anderen Grund geben, hierher zu kommen?
Es kann, wie sich schnell herausstellt. Zum Beispiel: einige der besten Strände weltweit, wie die Insulaner unbescheiden sagen. Zum Beispiel: luxuriöse Abgeschiedenheit – Nantuckets Immobilien gehören zu den teuersten des Landes. Zum Beispiel: der vielleicht meistfotografierte Leuchturm der Vereinigten Staaten.
Nantucket – „weit entferntes Land“
So heißt die Insel in der Sprache der Wampanoog-Indianer. Der Name ist das einzige, was von den Ureinwohnern übrig geblieben ist. Immerhin wissen wir, dass sie gestrandete Wale ausweideten. Die Gelegenheit dazu ergab sich, weil die Gewässer um Nantucket und Cape Cod bei Walen sehr beliebt waren. Das hörte irgendwann auf. Den Grund besichtige ich im Walfängermuseum der Insel. Dort treffe ich den hünenhaften Tony Dumitru. Er spricht ein altertümliches, aber ausgezeichnetes Deutsch.
„Amerika ist ein Prozess. Europa ist ein Produkt.“ Solche Sachen sagt Tony Dumitru, der lange Zeit in Deutschland gelebt hat und aus Rumänien stammt. Kein Zweifel: Er ist Amerikaner. Einer, den es zufällig nach Nantucket verschlagen hat. Einer auch, der sich für die besondere Geschichte dieses „Ameisenhügels“ besonders interessiert.
Leuchtenden Auges erklärt er Harpunenwurftechniken und Knochenschnitzereien. Er erzählt vom berüchtigten „Nantucket slay ride“, jener mörderischen Fahrt, mit der die Besatzungen der Beiboote den harpunierten Wal buchstäblich zu Tode ritten. Er zeigt die geziegelten Feuerstellen, über denen das Walfett in großen Kupferkesseln an Deck ausgekocht wurde.
Die ersten „Ölmillionäre“ Amerikas
Plötzlich horche ich auf. Es waren, sagt Tony Dumitru, die Nantucketer Schiffe Dartmouth und Beaver, die im Dezember 1773 zum Schauplatz der berühmtem Boston Tea Party wurden – Symbol für das Aufbegehren der amerikanischen Kolonien gegen das englische Mutterland. Tatsächlich war an der Herkunft der Schiffe nichts Ungewöhnliches. „Zwei Drittel des Erdballs aus Land und Wasser“, wird später Herman Melville schreiben, „gehören dem Manne von Nantucket. Er allein, um in biblischer Sprache zu reden, ‚gehet mit Schiffen auf den Wassern‘ und durchpflügt sie auf und nieder als seinen erb- und eigentümlichen Acker.“
Das lukrative Geschäft mit dem Walfett, das vorrangig als Brennstoff und Schmieröl Verwendung fand, machte aus armen Insulanern die ersten „Ölmillionäre“ Amerikas. Zum Glück für die Wale kam ihr Tran seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Mode – Kerosin war billiger. Da verließen die reichen Seekapitäne das sinkende Schiff Nantucket. Zurück blieben ihre hübschen Domizile mit meist großen Dachterrassen. Darauf wurden vordem schmerzliche Abschiede gewunken und glückliche Heimkehrer ersehnt. Heute steigen dort Cocktail-Parties in Abendgarderobe.
Vom Walfang zum Hotspot der Reichen und Schönen
„Über Preise brauchen wir gar nicht zu reden.“ Tony Dumitru spricht von Nantuckets Häusern. Stabiles Holz, von Schiffszimmerleuten für die Ewigkeit gebaut. 800 Gebäude aus der Zeit vor 1850, brüsten sich die Broschüren – US-Urgeschichte also und schon deshalb ein kleines Vermögen wert. Das alles auf einer abgelegenen Insel, über deren Kargheit man sich einst den Mund zerriss.
„Ein Witzbold kann euch erzählen, dass die Leute von Nantucket Fliegenpilze vor ihre Häuser pflanzen, um während des Sommers im Schatten zu sitzen; dass sie einen einzigen Grashalm für eine Oase halten, drei Halme innerhalb einer Tagesreise für eine Prärie.“ Hinterwäldler ohne Wald: Nicht ohne Lust gibt Herman Melville die derben Späße seiner Zeitgenossen wieder.
Umso mehr überrascht das heutige Erscheinungsbild: Nantucket ist ganz und gar grün. Und höchst exklusiv dazu. Es gibt rund zwei Dutzend private Golfplätze, Touristen zeigt man die Ex-Sommerfrische von Tommy Hilfiger, und zur jährlichen Segelregatta fliegen die Millionäre nur so ein und aus, wie die Fremdenführerin begeistert versichert. Womit sie unmissverständlich klarstellt: Die Insulaner der Gegenwart sind mindestens so vermögend wie ihre seefahrenden Vorgänger.
150 Jahre Tourismus
„Little Grey Lady of the Sea“ heißt eines der stimmungsvollen Labels der bankrott gegangenen Welthauptstadt des Walfangs: kleine graue Dame am Meer. Hellgrau, das ist die Farbe der Pinienschindeln, die die alten Seemannshäuser vor Wind und Wetter schützen. Und weil das höchst malerisch aussieht, hat die Insel den Sprung in eine neue Daseinsform geschafft – als touristische Top-Destination.
Bereits 1870 priesen lange Artikel in namhaften Ostküsten-Magazinen die touristischen Vorzüge des Eilands. Unternehmende Hausfrauen öffneten ihre schmucken Heime naturhungrigen Feriengästen aus der Großstadt. Erfolgreiche Schauspieler warfen ihre Angel in der Brandung von Siasconsett aus und etablierten dessen hartnäckigen Ruf als Künstlerdorf. Und wer es sich leisten konnte, kaufte eines der gemütlich-komfortablen Schindelhäuser als Sommerresidenz.
Der letzte Wal landet im Museum
Am Ende ist Nantucket zumindest in einer Hinsicht geblieben, was es war: steinreich und kein bisschen protzig. Darin verrät sich das Erbe der frommen Seekapitäne. Die hießen Ahab, Hezekiah oder Elijah und waren größtenteils Quäker. Deshalb wohnten sie in maßvoll-gottesfürchtigen Häusern, und ihre gutnachbarlichen Grundstücke trennten ehrliche weiße Lattenzäune.
Auf dem Meer übten sie weniger Zurückhaltung. „Die Pequod“, berichtet Herman Melville wortgewaltig, „war geschmückt wie ein äthiopischer Barbarenkaiser, dessen Nacken schwer an den Gehängen aus poliertem Elfenbein trägt.“ So führt er das Schiff ein, das der besessene Ahab zum Gefäß seines Hasses auf Moby Dick macht. Die epische Darstellung seines Scheiterns beschwört eine Welt, die bereits dem Untergang geweiht ist. 1869, nur 18 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, verlässt das letzte Walfangschiff den Hafen von Nantucket.
Entsprechend groß war die Aufregung, als im Dezember 1997 ein kranker Pottwal an den Strand von Siasconsett geschwemmt wurde und verendete. Da holte man mit den alten Schneidegeräten aus dem Museum kurzerhand ein Stück Vergangenheit hervor und zerlegte das Tier wie die Walfänger von einst – des Skelettes wegen, versteht sich. Tony Dumitru erinnert sich noch gut an den bestialischen Gestank des Kadavers. Der war so penetrant, dass anschließend alle Helfer ihre Arbeitskleidung verbrannten.
Das klingt fast nach symbolischer Selbstreinigung. Heute nimmt das Skelett im Museum einen Ehrenplatz ein. Hier – und nur hier – lebt die sperrige, ungeliebte Walfanggeschichte Nantuckets fort. Mehr Aufmerksamkeit darf nicht sein – es klebt einfach zu viel Blut an der Sache.
Freizeitidylle statt Captain Ahab
Der Tourismus hat unbelastetere Themen gefunden: Brandungsangeln, Oldtimer-Paraden, Osterglockenfestivals, hochkarätige Segelregatten. Und natürlich Whale Watching. Damit ist die Metamorphose vom Saulus zum Paulus perfekt. Ohnehin gibt es kaum noch alteingesessene Insulaner und zu viel Erinnerung verdirbt nur die Partylaune. Da ist kein Platz mehr für den düsteren Captain Ahab und seine Pequod, diesen „Kannibalen unter den Schiffen, aufgeputzt mit den erjagten Gebeinen seiner Gegner“.
Dass es so gekommen ist – den Walen sei es von Herzen gegönnt. Etwas sentimental macht es mich trotzdem. Ach, Nantucket!