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Flüchtlinge in Lampedusa, 07.01.2006
Flüchtlinge in Lampedusa, 07.01.2006

Reisen in Zeiten der Flüchtlingsströme

Mittelmeer ist Urlaub. An dem Image kann so leicht niemand rütteln – dachten wir! Dieses Weltbild gerät jedoch immer mehr ins Wanken. Schuld sind Bilder von verzweifelten und ertrunkenen Bootsflüchtlingen. Moralappelle? Helfen kaum weiter. Ein Blick auf die mediale Berichterstattung.
Inhalt

Das Mittelmeer unter Druck

„Es gibt zu viele Flüchtlinge, sagen die Menschen. – Es gibt zu wenig Menschen, sagen die Flüchtlinge.“ (Ernst Ferstl)

Schön sind ja immer einfache Lösungen. So eine, wie sie die Twitterin Tomster am 4. Juni gepostet hat: „Oder wir machen es so: Die Länder, die die Waffen in Krisengebiete liefern, müssen die Flüchtlinge aufnehmen. Zack. Frieden.“

Im Augenblick ist Zack. Krieg. Syrien, Libyen, IS, Bootsflüchtlinge. Europa reagiert mit Kriegsschiffen: macht die Grenzen dicht, will Schlepper bekämpfen und Schiffe versenken, rettet auch Menschen. Wo ist unser schönes Mittelmeer? Was ist passiert?

Fakt ist: In Nordafrika gibt es keine zuverlässigen Diktatoren mehr, die uns den Rücken freihalten. Stattdessen gibt es neue Diktatoren (Ägypten), Bürgerkrieg (Libyen), demokratische Experimente (Tunesien) und Länder, deren Eliten den Arabischen Frühling irgendwie ausgesessen haben (Algerien, Marokko).

Und das Mittelmeer? Steht gehörig unter Druck: Von Süden kommen traumatisierte, entwurzelte, verzweifelte Flüchtlinge, von Norden alltagsgestresste Wohlstandsbürger auf der Suche nach dem verdienten Urlaub.

Urlaub schützt vor Flüchtlingen nicht

Das kann nur Ärger geben. Was da für Welten aufeinanderprallen, zeigt eindringlich ein Bild aus der spanischen Exklave Melilla: Zwei Golfer spielen auf englischem Rasen ihre Partie, auf einem hohen Grenzzaun gleich dahinter sitzen rittlings Flüchtlinge. Das Foto ist keine Montage.

Auch anderswo stören Flüchtlinge das Bild. Die türkische Touristenmetropole Antalya verweigert Flüchtlingen ohne gültige Papiere – also den allermeisten – das Bleiberecht: Spätestens nach zwei Wochen müssen sie das Stadtgebiet verlassen.

Die Urlaubsinsel Lampedusa ist durch ihre Nähe zur tunesischen Küste schon lange Anlaufstelle für Migranten. Auf ihren nur 20 Quadratkilometern liegen zwei Flüchtlingslager. Im März 2011, nach dem Sturz des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali, leben dort fast 6.000 Flüchtlinge – mehr, als die Insel Einwohner hat. Und ihre Zahl steigt weiter. Mehrere Schiffsunglücke mit Hunderten von Toten machen Lampedusa mittlerweile zum Symbol für Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer. Wer will da noch Urlaub machen?

Flüchtlinge in Lampedusa.
Flüchtlinge in Lampedusa (Foto: Jonskonline, CC BY-SA 3.0)

Eine Frage der Moral?

Unbehagen macht sich breit. „Dort Urlaub machen, wo Flüchtlinge ankommen: Ist das moralisch vertretbar?“, fragt das Online-Forum der Süddeutschen Zeitung. Und was bedeuten die wachsenden Flüchtlingszahlen umgekehrt für die betroffenen Urlaubsorte?

Darüber machten sich – bereits 2006 – die Autoren Tom Holert und Mark Terkessidis Gedanken. Sie fragten sich, „wie sich Migration und Tourismus materiell, im physischen Raum artikulieren. Wie sehen die Orte aus, an denen beides stattfindet?“ Eine der Antworten lautet: Hotels werden in Flüchtlingsunterkünfte umgewidmet. Für manchen Hotelier ist das eine willkommene Gelegenheit, unsichere Buchungszahlen auszugleichen.

Flüchtlinge im Urlaubsparadies

Auch wenn wir gern die Augen davor verschließen: An vielen touristischen Hotspots in Spanien, Italien und Griechenland sind Urlaubs- und Flüchtlingswelt längst miteinander verwoben. Egal, ob Tellerwäscher, fliegende Händler oder Prostituierte: Migranten gehören dort zum Alltag und werden ihrer prekären Situation wegen oft genug ausgebeutet. Wir profitieren davon in Form von touristischen Schnäppchenpreisen.

Manchmal allerdings wird es den zahlenden Feriengästen aus dem Norden dann doch zu bunt. So echauffierte sich die Daily Mail Ende Mai über die „ekelhaften“ Zustände auf der Ferieninsel Kos. „Wie viele mehr kann Kos verkraften?“, fragt das Boulevardblatt und meint die Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, die die Ruhe der unbescholtenen Urlauber störten. Die die Stirn besäßen, ihre Wäsche an der Strandpromenade aufzuhängen und den britischen Touristen im Restaurant auf den wohlgefüllten Teller zu starren. „Wir kommen nicht wieder, wenn das hier im nächsten Jahr immer noch zugeht wie in einem Flüchtlingscamp“, wird ein indigniertes Ehepaar aus Birmingham zitiert.

Offenbar war das selbst den Lesern der Regenbogenpresse zu viel. „Daily Mail, du bist unmenschlich“, schrieb ein Kommentator, andere Leser reagierten ähnlich. Daraufhin entfernte die Redaktion den ursprünglichen Titel, der Kos als „Höllenloch“ bezeichnete, und packte unter den Artikel Fotos, in denen es in erster Linie um die Migranten und ihre schwierige Situation geht.

Was tun?

Rüde Töne, falsche Moral. Auf der anderen Seite gibt es unzählige Initiativen, die sich der Flüchtlinge annehmen – bundes- und europaweit. Meistens geht es dabei um Hilfe bei der Integration in den Alltag.

Eine Art Sommerurlaub verbrachten Flüchtlingsfamilien aus Syrien, Serbien und Eritrea letztes Jahr im Oldenburgischen. Die Idee dazu hatte die Bremer Sozialbehörde: „Wir wollen den Menschen, die alle aus Krisenländern stammen und Dinge erlebt haben, die wir uns gar nicht vorstellen mögen, die Chance bieten, etwas zur Ruhe zu kommen“.

In Köln gibt es seit vielen Jahren den Kulturklüngel. Dieses „Fremdenverkehrsamt für lokale Reisen“ zieht mit Interessierten durch Kölns Kulturen. Das Repertoire reicht von „Afrika! Mitten in Köln“ bis zur „Kulinarischen Weltreise“ und ist eine Art Aktivprogramm gegen Vorurteile.

Das sind Beispiele für das Funktionieren der Zivilgesellschaft. Sie machen aus anonymen Flüchtlingen Menschen mit einer Geschichte und wirken Rassismus entgegen.

Ein Aphorismus der österreichischen Lehrers und Schriftstellers Ernst Ferstl bringt die Sache auf den Punkt: „Es gibt zu viele Flüchtlinge, sagen die Menschen. – Es gibt zu wenig Menschen, sagen die Flüchtlinge.“ Daran müssen wir arbeiten.

Hintergrund

Über 200.000 Flüchtlinge – davon 69.000 aus Syrien – machten sich 2014 auf den mörderischen Seeweg über das Mittelmeer Richtung Europa. Mindestens 4.000 Menschen kamen dabei zu Tode. In diesem Jahr zählt das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bereits mehr als 100.000 Bootsflüchtlinge. Die allermeisten von ihnen landen in Italien (54.000) und Griechenland (48.000).

Laut PRO ASYL investierte die EU im Zeitraum von 2007 bis 2013 in Griechenland 208 Millionen Euro in Grenzaufrüstung und Haft, dagegen nur knapp 22 Millionen in die Aufnahme von Flüchtlingen. Auch die bislang weit über 70 Millionen Euro teure Grenzanlage in Melilla wird mit EU-Mitteln weiter ausgebaut.

Am 28. November 2014 trafen sich die Außen- und Innenminister der EU in Rom mit Vertretern aus 58 Staaten Europas und Afrikas, um unter anderem über Flüchtlingszentren in Nordafrika zu sprechen. „Am Tisch der illustren Runde saßen auch Vertreter der brutalen Militärdiktatur Eritrea und des von Warlords beherrschten, zerfallenen Staats Somalia.“ (Broschüre „Refugees Welcome“, PRO ASYL, April 2015)

Borderline Europe informiert aktuell über die Situation an den EU-Außengrenzen. Fakten gegen Vorurteile bietet Argumente gegen fremdenfeindliche Stereotypen. Das Datenprojekt The Migrant Files versucht, auch den vielen Menschen gerecht zu werden, die die Flucht übers Mittelmeer nicht überlebt haben. Die hinterlegte Datenbank dokumentiert Tausende von Todesfällen und ordnet auf diese Weise abstrakten Opferzahlen Einzelschicksale zu.