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Gran Paradiso: Hotels am Hafen von Sorrent
Gran Paradiso: Hotels am Hafen von Sorrent

Sorrent – Gran Paradiso

Frühling in Sorrent: Wie oft war ich in Pompeii? Auf Capri? Auf dem Vesuv? Ich weiß es nicht. In den 1990ern als Reiseleiter am Golf von Neapel zu arbeiten war Himmel und Hölle zugleich. Mein Standorthotel hieß Gran Paradiso. Der Name war Programm.
Inhalt

Ein Reiseleiter in Sorrent

Ja, es gab schon Handys – in Italien! Ich selbst hatte noch keins. Wenn ich mit meiner Reisegruppe im Bus von einem Ausflug nach Sorrent zurückkehrte, ließ ich den Fahrer immer kurz vorher an einer Telefonzelle anhalten und rief im Hotel an, um den Kleinbus zu bestellen. Denn das Gran Paradiso lag hoch oben am Berghang und die Straße, die dort hinführte, war für ausgewachsene Reisebusse viel zu schmal und kurvig. Also warteten wir unten im Ort darauf, dass der altersschwache Hotelbus uns schnaufend einsammelte. An seinem Steuer saßen wahlweise Mario oder Raffaele – beide mit finsterem Gesichtsausdruck, wenn es darum ging, Hotelgäste zu fahren, aber ansonsten harmlose Zeitgenossen mit Herz und Schnauze.

Die Reisegruppe trug das umständliche Procedere mit Fassung, obwohl sie einen anstrengenden Tag hinter sich hatte – eine Studienreise ist kein Spaziergang. Wenn ich einen ganzen Tag lang wahlweise die Antike, die Kunstgeschichte oder die Landschaft erklärt hatte, waren die Akkus abends leer, bei allen Beteiligten. Aber hey, auf was für einer Bühne spielte sich das ab! Wir waren am Golf von Neapel, dem klassischsten aller Bildungsreiseziele, in dessen Panorama ich mich damals unsterblich verliebte. Es gibt bestimmt nicht viele Plätze auf der Welt, die so berückend schön sind – aus der Ferne jedenfalls. Ein Gran Paradiso eben! Aus der Nähe betrachtet bekommt das Paradies Macken, aber selbst die sind manchmal noch sehenswert. Oder unvergesslich. Oder beides. Wie das Hotel, von dem aus wir unsere Tagesausflüge starteten…

Die Steilküste von Sorrent.
Blick vom Hotel „Gran Paradiso“ auf die Sorrentiner Steilküste. Im Hintergrund – matt im Sommerdunst – erhebt sich der alles beherrschende Vesuv.

Großes Kino: Torta Vesuvio

Vollbesetzte Tische im Speisesaal. Besteck klappert, Wortfetzen – überwiegend deutsche – springen von Tisch zu Tisch, der Hauptgang ist verspeist und wird abgeräumt. Dann gehen plötzlich die Lichter aus, und aus den Lautsprechern ertönt „O sole mio“. Die Tür zur Küche schwingt auf, ein Wagen wird hereingeschoben, und darauf steht, blau flambiert, eine Torte. Während Caruso oder sonst ein Tenor die berühmte neapolitanische Hymne an die Sonne schmettert, nimmt der Nachtisch seinen Weg durch alle Tischreihen, und die Reisegäste, die das zum ersten Mal erleben, sind ergriffen.

Einmal in der Woche inszenierte unser Standorthotel, das sich Gran Paradiso nannte, diesen Triumphzug der sogenannten Torta Vesuvio. Eigentlich eine hübsche Idee, nur für das Küchenpersonal war es durch endlose Wiederholungen ein Graus. Aber so ist Tourismus. Die Torte schmeckte übrigens überschaubar, wie überhaupt das Essen für die zahlenden Gäste nicht das Beste war – es erinnerte oft, der Kundschaft angemessen, an deutsche Küche. Weshalb wir so oft wie möglich auswärts aßen.

Oberkellner des Hotel Gran Paradiso in Sorrent.
Das ist nicht die Torta Vesuvio, aber durch diese Tür hielt sie pompös Einzug. Hier sieht man den Küchenchef Raffaele – eine Seele von Mensch, der freundlich blieb, auch wenn es turbulent wurde.

Tafeln in Sorrent

Wir, das waren die Reiseleiter, deren Gruppen im Gran Paradiso untergebracht waren: Leute ab Mitte 20, mehrheitlich Frauen, allesamt während oder nach dem Studium in diesen Job gerutscht. Die, die darin hängengeblieben waren, gingen meistens nicht mit uns essen – sie hatten andere Rituale. Wie der Mittvierziger, der sich von Gästen gern mit Doktortitel anreden ließ und den ich nie anders erlebte als mit Anglerweste, in deren Taschen er alle möglichen Utensilien mit sich herumtrug. Abends nach dem Essen ging er grundsätzlich an die Bar, kippte einen Caffè Corretto, fand meistens niemanden, dem er mit rollendem „r“ und stechendem Blick seine Reiseleitergeschichten erzählen konnte, und ging deshalb früh auf sein Zimmer.

Wir anderen tafelten in Sorrent. Der Ort war schon damals nicht der billigste, aber meist bekamen wir Rabatt, weil wir häufige Gäste waren und Italienisch sprachen und weil fast immer mindestens eine blonde Kollegin dabei war, was bevorzugte Behandlung versprach. Das beste Restaurant war ein einfaches Gartenlokal mit umwerfenden selbstgemachten Nudeln und leicht säuerlichem Wein, aber es gab natürlich auch jede Menge Fischrestaurants. In einem Fall fuhr ich mit einem Kollegen sogar ins eine Stunde entfernte Neapel. Es aß für sein Leben gern, was man seinem Bauch durchaus ansah, und kannte sich mit Esslokalen besonders gut aus. Ich weiß nicht mehr, was es gab, aber wir saßen direkt am Wasser und blickten über den nächtlichen Golf und die von Lichtern übersäte Küste – Gran Paradiso!

Der Hafen Marina Grande in Sorrent.
Capri im Golf von Neapel: schon damals überfüllt, aber es gab noch Plätze, wo kaum Touristen waren. Und erst die Blicke!

„Vedi Napoli e poi muori!“

„Neapel sehen und sterben“, diese neapolitanische Redensart zitiert bekanntlich schon Goethe. Ich habe als Reiseleiter oft gestöhnt: über die Hitze, den Staub, den Lärm, die Menschenmassen. Aber die Golflandschaft ist Belohnung genug, und die Altstadt von Neapel bringt jeden auf Trab, ob er will oder nicht, auch wenn der Respekt vor Taschendieben meist größer ist als vor den umwerfenden Kirchen, Museen und Schaufenstern der Cafés mit ihren gebackenen Verführungen.

Dass die geballte Lebensenergie buchstäblich ein Tanz auf dem Vulkan ist, gerät schnell in Vergessenheit, obwohl der Vesuv kaum zu übersehen ist. Die andere Bedrohung, das organisierte Verbrechen, blüht besonders in den heruntergekommenen Vororten. Die sahen unsere Reisegäste nur aus dem Bus, was gut war, oder bei der Fahrt nach Pompeii mit der Regionalbahn Circumvesuviana.

Blick auf die Mega City Neapel.
Ein Neapelblick ohne Vesuv – das gibt’s auch. Die Kirche in der Bildmitte rechts mit dem großen Geviert des dahinter liegenden Kreuzgangs ist S. Chiara. Wer Majolika sehen will, sollte unbedingt dorthin gehen.

Der Duft von wilden Kräutern: Capri

Für den vielleicht schönsten Blick auf den Golf von Neapel muss man mit dem Schiff nach Capri fahren. Die Insel selbst ist ein Traum, trotz der Touristenmassen, die sich dank einem reibungslos funktionierenden privaten Busunternehmen auf wenige Stellen konzentrieren. Ich habe immer die Busfahrer bewundert, die im Abstand von Millimetern an den Bruchsteinmauern der schmalen Straßen vorbeirasen und dabei fast nie den Fuß vom Gaspedal nehmen.

Im Fall meiner ersten Reisegruppe wäre der Capri-Besuch fast ins Wasser gefallen. Morgens regnete es in Strömen, im Frühstücksraum des Gran Paradiso probte die Gruppe den Aufstand – „Nein, wir wollen heute nicht nach Capri!“ – und ich war, noch vollkommen ungeübt im Umgang mit solchen Situationen, völlig aufgelöst. Wir fuhren dann nach Pompeii, am nächsten Tag schien die Sonne und alle waren versöhnt.

Auf Capri stiegen wir wie gewohnt zur Villa Iovis hinauf, einer römischen Kaiservilla hoch über der Steilküste. Den Weg säumen zuerst Gärten, später riecht es nach wilden Kräutern, die Insekten summen, und oben wird sofort klar, warum Kaiser Tiberius sich diesen Platz für einen Palast ausgesucht hat: Östlich öffnet sich der Golf von Salerno mit der Amalfi-Küste, für die sich gar nicht genug Superlative finden lassen, gleich gegenüber liegt die Halbinsel von Sorrent, im Norden flankiert vom Vesuv und dem sich krakenartig ausbreitenden Neapel, und im Westen erhebt sich Ischia.

Der Dom von Amalfi.
Dass Amalfi einmal mehr war als ein Bilderbuch-Touristenort, zeigt sich an dem prächtigen Dom. Das Beste an ihm, den Kreuzgang im arabisch -normannischen Stil, sieht nur, wer sich die Mühe macht, die hohe Freitreppe zu erklimmen.

Kurze Nächte im Gran Paradiso

Auch das Gran Paradiso bot paradiesische Blicke, allerdings meistens nicht für uns Reiseleiter. Im „Todeszimmer“ unterm Dach, in das wegen der niedrigen Dachtraufe nie ein Sonnenstrahl fiel, war ich durch einen glücklichen Zufall nie untergebracht, dafür häufig in einem großen, aber ebenfalls dunklen Raum hinter der Rezeption.

Mir war es recht. An der Bar machte Guiseppe seine nicht immer ganz astreinen Späße, und manchmal verquatschten wir auf den reichlich verranzten Fauteuils des Foyers ganze Nächte mit den Nachtportiers Tonino und Antonio. Für unliebsame Besucher gab es einen Knüppel, den sie „l’alpenstock“ nannten und den ich nie im Einsatz sah, über den aber die wildesten Gerüchte im Umlauf waren.

Ein Barista aus Sorrent.
An der Bar des Gran Paradiso war er der Herrscher: Guiseppe mit den blauen Augen.

Mitunter sorgten auch die Gäste für „Programm“. Einmal kam eine alte Dame aus meiner Reisegruppe mitten in der Nacht und vollkommen verwirrt an die Rezeption. Sie war Diabetes-Patientin, hatte kein Insulin mehr und hielt eine abgebrochene Spritze in der zittrigen Hand. Wir packten sie in den klapprigen Cinquecento, den uns der ansonsten knickrige Padrone des Hotels gewöhnlich für unsere abendlichen Essensfahrten überließ, und erfuhren im Krankenhaus von Sorrent, dass man dort leider nichts für uns tun könnte. Wir sollten es stattdessen in Neapel versuchen. Eine Stunde später überließen wir die Dame der Obhut der dortigen Ärzte, mussten sie aber schon am nächsten Abend wieder abholen, weil sie partout weiter an der Reise teilnehmen wollte und alle verrückt gemacht hatte.

Ball der Kommödianten

Eigentlich war das Gran Paradiso eine Theaterbühne, auf der die zahlenden Gäste nur Statistenrollen ausfüllten. Die Hauptdarsteller waren die Hotelangestellten und ihre Chefs. Bruno, der Concierge, wenn man so will, spielte den Casanova, schnitt Grimassen, umgarnte jeden, wenn es zu seinem Vorteil war, musterte beim Telefonieren mit Vorliebe seine Fingernägel, konnte bei guter Stimmung bis zur Selbstaufgabe hilfsbereit sein und ließ dich an schlechten Tagen am ausgestreckten Arm verhungern.

Der Rezeptionist im Hotel Gran Paradiso.
Großes Schauspiel mit neapolitanischen Winkelzügen: Brunos Auftritte waren immer bühnenreif.

Die beiden Nachtportiers waren ein eingespieltes Team. Tonino war immer freundlich, hatte die Aura eines gutmütigen Bären, ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen – auch nicht durch Bruno – und schien nie wirklich müde zu sein. Antonio dagegen war ein aufgeregtes Hemd, hatte tiefe Ringe unter den Augen, litt an einer schwierigen Beziehung zu einer deutschen Frau, war unverheiratet, philosophierte gern und oszillierte ständig zwischen Höchst- und Tiefststimmungen.

Angestellter in einem Hotel in Sorrent.
Tonino, hier im Büro hinter der Rezeption, arbeitete nur nachts und fand doch (fast) immer einen Grund zum Lachen. In Sorrent kannte ihn jeder.

Guiseppe, der Barista, scheitelte sein rotblondes Haar in der Mitte, machte mit seinen blauen Augen gerne Frauen den Hof und legte viel Wert auf den akkuraten Sitz seiner Krawatte. Abends, wenn er viel zu tun hatte, traten manchmal Schweißperlen auf seine Stirn. Sein Zahnpastalächeln à la Burt Lancaster knipste er an wie eine Lampe, und es blitzte auch regelmäßig auf, wenn er sich über deutsche Kleidungsgewohnheiten lustig machte.

Die Ouvertüre der allabendlichen Auftritte bestritt der Padrone höchstpersönlich. Kleingewachsen und mit faltigem Gesicht führte er seine matronenhafte, braungebrannte, aufgetakelte Frau und ihre noch matronenhaftere, noch braungebranntere und noch aufgetakeltere Schwester samt schmierigem Ehegespons an den einzigen runden Tisch des Speisesaals. Erst dann konnte das Abendessen beginnen. Die Torta Vesuvio ließ sich das illustre Gespann selten entgehen.

Den Gästen entging das tägliche Schauspiel im Gran Paradiso, ich habe es immer genossen. Und ich mochte die Schauspieler, jede und jeden auf andere Weise. Doch irgendwann ging dem Stück die Luft aus. Da wusste ich, es ist Zeit zu gehen. Heute spielen die Komödianten nicht mehr. Aus dem Gran Paradiso ist ein „Art-Hotel“ geworden – eine ziemlich abenteuerliche Metamorphose. Ich muss mir andere Sehnsuchtsorte suchen. Doch diesen hier wird’s immer geben, wenn auch nur in meiner Erinnerung.

Steilküste an der Amalfitana.
Die Amalfitana nicht weit von Sorrent: Hier herrscht ein ziemlicher Überfluss an Gran Paradisos.