Tarent – Eine komplizierte Stadt
“Das ist eine zerstörte Stadt“, schimpft Massimo. Vor uns ragen rot-weiß geringelte Schornsteine in die Höhe. Schmutzige, graue Abgaswolken steigen träge in den blauen Himmel Apuliens. Chemie liegt in der Luft. Roter Staub klebt wie Mehltau auf Leitplanken und Laternenmasten. Im Hintergrund glitzert das Ionische Meer. “Die haben Tarent kaputt gemacht mit ihrer Industrie, mit ihren modernen hässlichen Gebäude und all dem Schmutz.“ Mein alter Kumpel Massimo ist kaum zu bremsen.
“Die“, damit meint Massimo die Regierung in Rom, die Verwaltung der Region Apulien in Bari, die Politiker, die Wirtschaftsbosse, eben “Die“ da oben. Über die sich in Italien alle ärgern. Aber die seit Jahrzehnten fast immer die gleichen sind. Auch wenn sich die Gesichter und Namen ändern. Die bleiben immer gleich. Egoistisch denken sie nur an sich und stopfen sich die Taschen voll. Politiker! In Italien ein Synonym für Ladro, Dieb. Nur noch weniger ehrenhaft.
Ohnmacht, Stagnation, Schlamassel
Ich kann dieses gewaltige Genörgel von Massimo eigentlich nicht mehr ertragen. Geht mir gehörig auf die Nerven. Immer ist irgendjemand da oben Schuld. Nie lässt sich irgendetwas ändern oder verbessern. Ohnmacht. Stagnation pur. Perverse Lust am Schlamassel. Wenn es so einfach wäre. Ist es aber nicht. Was Tarent angeht, da muss ich Massimo tatsächlich zustimmen.
In Tarent haben “Die da oben“ wirklich gewaltig daneben gegriffen. Und über Jahrzehnte katastrophale Verhältnisse etabliert und toleriert. Hier verätzt das größte Stahlwerk Europas als miese Dreckschleuder die Menschen, die Stadt und die Natur. Dazu kommen noch die Abfälle einer Werft, einer Betonfabrik und einer Raffinerie. Schlimm! Ganz schlimm! Die dramatische Situation in Tarent beschreibt Paul Kreiner in seiner Reportage Wir sterben an Hunger oder an Krebs. Unbedingt lesenswert.
Ein Drama im Süden
Tarent schüchtert mich ein. Da ist diese komplizierte, trostlose Gegenwart. Knallhart. Wie die Faust aufs Auge. Geschäfte sind verbarrikadiert. Selbsternannte Parkplatzwächter kassieren Autofahrer, die ihre Wagen sicher parken wollen, auf illegale Weise ab. Die malerische Altstadt rund um den außergewöhnlich schönen byzantinisch-romanischen Dom sinkt leise staubend und modrig möffelnd in sich zusammen. Hier braucht es keinen Islamischen Staat oder die Taliban. Das westliche Kulturerbe zerfällt von ganz allein. Ok, großzügig unterstützt von europäischer Ignoranz und Gleichgültigkeit. Einfach nur lang genug weggesehen. Widerlich, was sich eine der reichsten Regionen der Welt an ihrer südlichen Peripherie so alles leistet.
Zusätzlich schleppe ich einen heavy bildungsbürgerlichen Rucksack nach Apulien. Das süditalienische Tarent, das hat doch diese grandiose und fantastische Vergangenheit. Griechische Auswanderer aus dem kämpferischen Sparta haben diese Stadt gegründet. Irgendwann Ende des 8. Jahrhunderts vor unserer Zeit. Tarent das ist der fatale Pyrrhos Sieg, den der gleichnamige König über ein römisches Heer errang. Noch heute Sinnbild eines Sieges, der so kostspielig errungen wird, dass ein Vorteil daraus nicht zu gewinnen ist. Da ist das Ende der berühmten Via Appia, dieses antiken Highways, der Rom mit Griechenland verband.
Die Griechen haben ihren einstigen Reichtum aus dem Meer geschöpft. Im Mare Piccolo, dem Kleinen Meer, gleich hinter ihrer Stadt züchteten sie die Purpurschnecke Murex. Aus deren Farbdrüse kochten sie ein Sekret, das als kostspieliger Farbstoff luxuriöse Textilien in violettes Purpur färbte. Tarent und seine Schneckenköche, ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Allerdings muss die Stadt auch in lang vergangenen Zeiten höllisch gestunken haben.
Touch Down in Tarent – MARTA das archäologische Nationalmuseum
Ich kenne das antike Tarent schon aus Berlin. In den Hochsicherheitsvitrinen der Berliner Antikensammlung glitzert prächtiger Goldschmuck aus der alten griechischen Stadt. Hier thront die betörend schöne Göttin von Tarent. Eines der wenigen erhalten, wenn auch ziemlich ramponierten Götterbilder aus dem heidnischen Griechenland. Geborgen in der kuscheligen Ferne lässt sich das herrliche Wunderbild einer prächtigen Metropole zusammen zimmern.
Beim Reality Check vor Ort in Süditalien zersplittert dieses Bild in unzählige, scharfe Einzelteile. Seit 1000den von Jahren wird in Tarent gesiedelt und gebaut. Von der antiken Stadt ist bis auf ein paar graue Säulen umgeben von einem schäbigen Loch nichts übrig geblieben. Den Rest hat die gewalttätige Indstrialisierung besorgt.
Die Vergangenheit hat sich in Tarent in den Schutzraum Museum zurück gezogen. Ins MARTA, das Museo Nazionale Archeologico di Taranto. Auch ich flüchte dorthin. Massimo kommt nicht mit ins Museum. Er war schon mal da. Wann, weiß er nicht mehr so genau. Für mich ist der Besuch im MARTA eine Flucht zurück ins Paradies. Die aber ist erst seit kurzem wieder möglich.
MARTA – Das Schatzhaus von Tarent
Vor gut 18 Jahren nämlich wurde das alte MARTA in Tarent einfach mal zu gesperrt. Dringende Restaurierung. Traurige Sache das. In dieser an Schönheit so armen Stadt war deren größter Schatz, der kostbare antike Goldschmuck, die fantastischen griechischen Vasen, das berühmte Grab eines Athleten, Sieger bei irgendwelchen Olympischen Spielen im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit, wie vom Erdboden verschluckt. Ärgerlich.
Dann hieß es erstmal abwarten. Ein winziges Provisorium wurde gefunden. Nochmal warten. Das MARTA wurde in kleinen Portionen kleckerweise wieder aufgemacht. Erstmal nur der erste Stock. Das war schon ganz schön als kleiner Vorgeschmack. Bald sollte wieder alles zu sehen sein. Doch die Puste ging aus. Erst seit Juli 2016 ist eines der aufregendsten Museen Italiens wieder ziemlich komplett.
Schärfer lässt sich der Kontrast zwischen Gegenwart und Geschichte nicht denken. Vor dem Museumstor eine sklerotische Stadt. Hinter dem Museumstor der unvorstellbare Reichtum. Krass. Das Irre, dieses MARTA Schatzhaus ist angefüllt mit Reichtümern, die fast ausschließlich im Stadtgebiet Tarents entdeckt und ausgebuddelt wurden. Während die moderne, heutige Stadt sich entwickelt hat.
Party-Metropole am Ionischen Meer
Im Gegensatz zur traurigen heutigen Realität muss das Tarent der längst verblassten Vergangenheit eine ziemlich ausgelassene Party-Metropole am blauen Ionischen Meer gewesen sein. Die Damen bleichten sich die Haare blond, bemalten sich die Lippen in kräftigsten Farben und bekränzten das Haupt mit goldenen Girlanden. Um den Hals und an den Ohren ließen sie schwere Goldklunker baumeln.
Die Männer vergnügten sich beim Wagenrennen, veredelten ihre Körper beim Boxkampf oder der Leichtathletik und soffen wie die Löcher. So viele Weinschalen. So viele Weinkrüge. So viele Darstellungen von Dionysos, dem Gott des Weines und der Trunksucht und des Theaters. Deswegen gibt es auch Theatermasken, Akrobaten, Musikinstrumente. Beim ausgelassenen Tanz schwingen die Männer ihre kräftigen Beine. Die Damen lassen die Rocksäume wie Tornados um die schmalen Fesseln kreisen. Sie tragen Hüte so groß wie Wagenräder.
Wunder auf Vasen
Vorgeführt wird diese untergegangene Welt auf zierlich bemalten Vasen. Kleine Akrobaten aus Terrakotta machen Faxen und turnen durch die Vitrinen. Junge Mädchen drehen sich im Tanz. Theatermasken schneiden groteske Grimassen. Boxer hauen sich ihre schweren Fäuste um die Ohren. Diskuswerfer drehen sich in für einen Weltmeisterwurf in Position. Was für eine ausgelassene Heiterkeit und frivole Genusssucht.
Sexy nackte Männer und lose bekleidete Frauen bevölkern diese Welt. Die muskulösen Körper sind mit zarten, sanft geschwungenen Linien auf den Vasenkörpern befestigt. Gerade bei den besonders kräftigen Männerleibern immer wieder tuntige Anmut der Gesten und schwüle Eleganz der Körperhaltung. Was für ein erschütternd großartiger Widerspruch. Die Darstellung der Frauen oszilliert zwischen explosiver Beweglichkeit und in sich versunkener Traurigkeit. Toll!
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Ferne, untergegangene Welten
Dabei kommt die Lebenswirklichkeit der Griechen nicht nur edel und heroisch rüber. Häufig ist sie ironisch kommentiert oder grotesk gebrochen. Allerdings wird da auch eine Seite der griechischen Kultur sichtbar, die gerne ausgeblendet wird. Für das heutige Europa sind die alten Griechen die hoch verehrten Schöpfer der Demokratie und der individuellen Freiheit. Dass diese Demokratie nur wenigen zugute kam und dass sich die griechische Kultur vor allem negativ über Ausgrenzung, Diskrimierung und Rassismus definierte, wird dabei gerne übersehen.
Aber! Haben die zugewanderten Griechen hier in Süditalien tatsächlich im Paradies auf Erden gelebt? Haben sie wirklich so unbeschwert in Tarent genossen und gefeiert, wie es die lustigen Szenen auf der Vasen und der reiche Schmuck nahe legen? Die meisten Fundstücke wurden als Grabbeilagen auf antiken Friedhöfen ausgehoben. Vielleicht repräsentieren diese ausgelassenen Bilder gar nicht die damalige Gegenwart. Vielleicht bebildern sie vielmehr die Hoffnung auf ein paradiesisches Weiterleben nach dem Tod, bis oben hin abgefüllt mit Wein und anderen herrlichen Drogen. Das Leben in einer großen, reichen Stadt vor über 2500 Jahren war vielleicht einfach so unbeständig und auch gefährlich, dass es nur zu ertragen war, weil es den Ausweg Vollrausch gab. Wer weiß das schon genau?
Der Herkules von Tarent
Ich rätsele im MARTA ganz besonders vor einem Mamor-Kopf aus römischer Zeit. Es ist eine römische Kopie nach dem in der Antike hochverehrten Koloss von Tarent. Der griechische Bildhauer Lysipp hat für die Stadt Tarent einen gigantischen Herkules aus Bronze produziert. In Tarent bewachte dieser listige Held die Einfahrt vom Großen Meer ins Kleine. Während des 2. römisch-karthagischen Krieges wird dieser Koloss im Auftrag des Konsuls Fabius Maximus nach Rom verschleppt und auf dem Kapitol-Hügel aufgestellt. Dort bleibt er bis ihn Kaiser Konstantin in seine neue Hauptstadt Konstantinopel bringen lässt, wo er erst im Jahr 1204 während des 4. Kreuzzugs untergeht. Verworrene Geschichte …
Um die Ecke vom Archäologischen Museum gibt es ein kleines Panificio. Dort wird wird super leckere Foccacia gebacken und verkauft. Hier treffe ich Massimo wieder. Wir kaufen würzige Foccacia mit Tomaten und eine Foccacia gefüllt mit Zwiebel, schwarzen Oliven und Sardinen. Dazu zwei Dosen Coca Cola Zero. Damit setzen wir uns unter die Bäume auf der Piazza Garibaldi. Neben uns auf der Bank sitzt ein Einwanderer aus Afrika. Auch für die Immigranten von heute hat sich Tarent verändert. Vor über 2700 Jahren mag Süditalien für die Einwanderer aus Griechenland das Paradies auf Erden gewesen sein. Heute lässt sich das über Tarent nicht mehr uneingeschränkt sagen.
Wenn Tarent so kompliziert, so schwierig und so traurig ist, warum dann die lange Reise bis an das Ionische Meer, bis nach Tarent wagen? Vielleicht weil der Spagat zwischen krasser Gegenwart und bombastischer Vergangenheit so nachdenklich, ja sogar melancholisch macht. Weil dieses Tarent eine dichte und berührende Geschichte über das Mittelmeer und die Kultur in Europa, den Lauf der Zeit erzählt. Weil dort, wo viel Schatten fällt, auch viel Licht sein muss.