40.000 Einwohner, die Küste knapp 80 Kilometer entfernt, ein Fußballclub in der Regionalliga – das hört sich ziemlich verschlafen an. Vielleicht ist es aber gerade dieses Image, das den Charme des Ortes im Herzen Portugals rettet: Auf der Landkarte der meisten Touristen – auch der portugiesischen – fehlt Tomar. Entsprechend ist der Busparkplatz oben am Kloster der Tempelritter gähnend leer.
Nur einmal alle vier Jahre, zur Festa dos Tabuleiros Anfang Juli, strömen die Besuchermassen. Dann tragen hunderte Frauen und Mädchen in weißen Gewändern mannshohe, mit Papierblumen verzierte Körbe auf ihren Köpfen durch die bunt geschmückte Stadt. Die Körbe, Tabuleiros genannt, enthalten gleich dutzendweise Brote und wiegen bis zu 22 Kilogramm. Da wird die Prozession, die ausnahmsweise mal keinen Stadtheiligen, sondern den Heiligen Geist ehrt, schnell zur Schwerstarbeit. Woher diese jahrhundertealte Sitte kommt, weiß keiner so recht. Für die Beteiligten macht das keinen Unterschied.
Wo die Tempelritter das Sagen hatten
Schwerstarbeit leisteten einst auch die Ritter des Templerordens: während der Kreuzzüge als militärische Eliteeinheit des Papstes, aber auch während der Reconquista, der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel. Die aktive Rolle der Tempelritter bei der Vertreibung der Mauren waren es dann auch, die ihnen in Portugal eine politische Heimat gaben, nachdem sie 1307 in Frankreich und kurz darauf im Vatikan in Ungnade fielen und verfolgt wurden.
Tomar, seit 1160 ein wichtiger Stützpunkt der Templer, wurde das neue Hauptquartier im Herzen Portugals. Das ging, weil der damalige portugiesische König Dom Dinis den Templerorden kurzerhand in Christusorden umbenannte und so aus Tempelrittern Christusritter machte. Auch das Ordenszeichen wurde angepasst: Mit wenigen Strichen verwandelte sich das rote Templerkreuz in das rot-weiße Christuskreuz. Der Papst hatte weder die Macht noch die Chuzpe, dagegen vorzugehen.
Für Tomar war dieser Mummenschanz ein Segen: Die Templer hatten die Stadt ursprünglich gegründet, nun würden sie ihren Fortbestand sichern. Damit auch jedem sofort klar war, wer hier das Sagen hatte, thronte ihr Convento de Cristo hoch oben auf einem Hügel über dem Ort. Das trutzige Bauwerk war, von außen gesehen, zuallererst eine Festung, errichtet nach den Regeln des orientalischen Burgenbaus, so wie ihn die Tempelritter im verblichenen christlichen Königreich Jerusalem kennengelernt hatten. Erst wer die starken Mauern durchschritt, begriff, dass diese Festung ein reich ausgestattetes Kloster sicherte.
Weltkulturerbe im Herzen Portugals
Auch wir erleben diese Metamorphose: Das Eingangstor ist ein stark gesicherter Festungstunnel, dahinter öffnet sich ein gepflegter Garten mit einem geometrischen Labyrinth aus sauber beschnittenen Hecken und einer weiten Aussicht über Tomar und die umgebende Hügellandschaft. Die Tempelritter, ursprünglich allesamt Adlige, waren eben nicht nur Strategen, sondern auch Ästheten.
Die Gartenanlage ist natürlich modern, ehemals gediehen hier wohl Gemüse, Kräuter und Wein. Blickfang im Hintergrund ist der hoch aufragende älteste Teil des Klosters: ein romanischer Zentralbau anno 1160, also stolze 859 Jahre alt. Den oberen Abschluss bilden Glockentürme und Zinnen, ein starkes Sinnbild für die Doppelfunktion der Tempelritter als Gotteskrieger.
Wir teilen uns den Anblick mit etwa fünfeinhalb anderen Touristen. Okay, der Convento de Cristo ist nicht der Taj Mahal, aber immerhin fast 500 Jahre älter und eben auch Weltkulturerbe. Das gibt es also noch: Welterbestätten, die nicht überlaufen sind, weil sie nicht auf den üblichen Rennstrecken liegen – in Portugal sind das Lissabon, Sintra, die Algarve, vielleicht noch Porto und ein paar Strände entlang der Westküste – und deshalb schlicht nicht wahrgenommen werden. Von uns aus kann das gern so bleiben.
In Jerusalem gescheitert, in Tomar erfolgreich
Innen im Kloster herrscht eine angenehme Kühle. Wir sind verwirrt von der Vielzahl der Kreuzgänge. Zwei von ihnen verraten den maurischen Stil mit Spitzbögen, die auf schlanken Säulen ruhen, in der Anlage ähnlich den üppigen Beispielen aus Granada, aber auch aus Amalfi in Süditalien, ein weiterer, doppelstöckiger ist ein prachtvoller, wenn auch in die Jahre gekommener Renaissancebau. Der arabische Einfluss äußert sich außerdem in den wunderbaren Zierkacheln oder Azulejos, die nahezu überall die Wände oder Wandsockel überziehen.
Die Araber beziehungsweise Mauren waren der entscheidende Grund für die Anwesenheit der Tempelritter im Herzen Portugals. Die Schlacht um Jerusalem hatten die Ritter verloren, aber in Portugal und Spanien waren die christlichen Heere auf dem Vormarsch. Um die Mauren endgültig von der iberischen Halbinsel zu vertreiben, was 1492 mit der Eroberung Granadas gelang, griffen Portugals und Spaniens Könige gerne auf das Know-how der kriegserfahrenen Tempelritter zurück. Die Rechnung ging auf, weshalb die Templer in Tomar und anderswo in Portugal großes Ansehen genossen.
Das Selbstbewusstsein, dass sie aus dieser Rolle zogen, verrät schon der Zentralbau im Convento do Cristo. Die früheste und bis heute erhaltene Klosterkirche der Tempelritter von Tomar, ist ein Glanzstück hochmittelalterlicher Baukunst. In ihren 16-eckigen Außenmauern erhebt sich ein reich verziertes Oktogon, das durch Bögen mit einer umlaufenden Empore verbunden ist. Einen ganz ähnlichen Grundriss verrät die Grabeskirche in Jerusalem – eine Reminiszenz der frommen Ritter an ihre Zeit im gelobten Land.
Geburt einer Seemacht im Herzen Portugals
Die Außenmauern ließen die Templer schlicht und unverziert. Das änderte sich unter König Manuel I., der Portugal in ein goldenes Zeitalter führte und in dessen Regierungszeit die Entdeckung des Seewegs nach Indien und Brasilien gelang. In der Architektur macht sich fortan ein maritimer Barock breit. Tomars Paradebeispiel dafür ist das Fenster des Kapitelhauses, das geradezu überwuchert wird von Muscheln, Korallen und sonstigen Meerespflanzen. Schiffstaue, Ankerketten und Globen spielen ebenfalls eine zentrale Rolle, und über allem thront das dem Templerkreuz nah verwandte Christuskreuz.
Manuel I. erntete die Früchte eines anderen großen Portugiesen: Infante Dom Henrique de Avis, genannt Heinrich der Seefahrer. Er gilt als Wegbereiter des portugiesischen Weltreichs, weil er – als Mitglied der königlichen Familie – schon früh Einfluss und Geld für die Förderung der Seefahrt nutzte. Dank ihm kartierten portugiesische Kapitäne 2000 Seemeilen westafrikanischer Küstengewässer und suchten nach einer Westpassage über den Atlantik.
1420, im selben Jahr, als portugiesische Karavellen erstmals auf Madeira landetenn, wurde er zum weltlichen Verwaltungschef des Christusordens ernannt und verbrachte fortan zehn Jahre seines Lebens in Tomar. Dort, im Herzen Portugals und im täglichen Umgang mit den Christusrittern – den vormaligen Tempelrittern – heckte er die Pläne aus, die Portugal zur ersten Kolonialmacht Eruopas machen sollten. Es ist daher kein Zufall, dass auf den Segeln der portugiesischen Schiffe das Christuskreuz prangte. Dasselbe Kreuz wurde gemeinsam mit dem königlichen Wappen auf die Steinsäulen gemeißelt, mit denen portugiesische Monarchen ihren Besitzanspruch an neu entdeckten Ländern und Orten geltend machten.
Tomar: kleine Stadt mit großem Charme
Tomar besteht nicht nur aus dem Kloster der Tempelritter. Die Stadt am Fuß des Klosterberges ist einfach reizend. Wer will, kann zu Fuß vom Convento de Cristo herabsteigen und wird unterwegs auf einen schön gestalteten und gut gepflegten Park stoßen – gewissermaßen der Ein- und Ausgang des Tempelberges.
Unten am zentralen Platz von Tomar, das in seinem Wappen übrigens sowohl das Templerkreuz als auch das Christuskreuz trägt, steht die sehenswerte Kirche S. João Baptista mit einem prächtigen manuelinischen Portal. Von den Cafés am Platz lässt sich die Fassade bei einem kühlen Drink bestens in Augenschein nehmen.
Die hier mündende Hauptstraße der Altstadt ist heute eine Fußgängerzone und führt zu der Flussinsel Parche do Mouchão, unter dessen alten Bäumen ein rekonstruiertes maurisches Wasserrad knarrt und ächzt. Der Rio Nabão war einmal ein betriebsames Gewässer, wie die Reste alter Manufakturen an seinem Ufer belegen. Zu den Kuriositäten der Stadt gehört ein Streichholzmuseum mit Exponaten aus 115 Ländern. Ein weiteres Museum beherbergt die noch erhaltene mittelalterliche Synagoge. Wir haben es noch nicht gesehen, aber wir kommen sicher wieder. Es lohnt sich!
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Service zum Besuch im Kloster Tomar
Tomar liegt rund 100 Kilometer nordwestlich von Lissabon und ist von der Hauptstadt gut per Bahn erreichbar. Täglich verkehren mehrere Züge, die Fahrkarten sind preiswert und der Bahnhof von Tomar liegt verkehrsgünstig in Zentrumsnähe (was in Portugal nicht die Regel ist). Wer wenig Zeit hat, kann Tomar von Lissabon aus als Tagesausflug planen.