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Längst ein gewohntes Bild: Touristen am Mosteiro dos Jerónimos, Lissabon
Längst ein gewohntes Bild: Touristen am Mosteiro dos Jerónimos, Lissabon

Touristen am Pranger: Was läuft da schief?

Venedig, Barcelona, Mallorca, Dubrovnik: Überall sorgen Protestaktionen gegen Touristen für Schlagzeilen. Schuld sind die Pauschaltouristen? Pustekuchen! Probleme machen die Individualreisenden: Sie erscheinen in Massen und sind überall. Warum ist die Aufregung gerade jetzt so groß? Und was muss sich ändern?
Inhalt

Venedig, Barcelona, Mallorca, Dubrovnik: Überall sorgen Protestaktionen gegen Touristen für Schlagzeilen. Schuld sind die Pauschaltouristen? Pustekuchen! Probleme machen die Individualreisenden: Sie erscheinen in Massen und sind überall. Warum ist die Aufregung gerade jetzt so groß? Und was muss sich ändern?

Trendziele ächzen unter immer mehr Touristen

Im September muss ich beruflich nach Kopenhagen. Als ich wie gewohnt nach der passenden Zugverbindung suche, entgleisen mir fast die Gesichtszüge: Zehn Stunden braucht die Bahn für die Strecke – gegenüber eineinhalb Stunden im Flugzeug! Klare Sache. Nur: Eigentlich will ich gar nicht fliegen, weil das Dreck macht und doof ist! Ich überlege: Was würde ich mit der Zeit anstellen, die ich durch den Flug gewinne? Lesen, schlafen, arbeiten, vielleicht einen Film gucken? Kann ich auch im Zug. Also ist die Entscheidung klar: Ich fahre Bahn.

Warum erzähle ich das? Weil ein bisschen Nachdenken oft zu der schlichten Erkenntnis führt, dass nicht alles, was der Reisemarkt hergibt, auch gut ist. Das riecht nach Verzicht und ist tendenziell uncool. Ich sehe es positiv: Für meine Entscheidung habe ich gute Gründe und ich stehe dazu.

Momentan sieht es so aus, als könnte Verzicht eine reale Option für viele werden – allerdings nicht freiwillig. Die Reisewelt steht Kopf. Jahrzehntelang waren Touristen eine umworbene Spezies. Jetzt stehen sich Gastgeber und Gäste als Feinde gegenüber. Betroffen sind besonders Trendziele wie Venedig, Barcelona, Mallorca, Dubrovnik oder Island – um nur einige zu nennen. Sie alle ächzen unter dem Ansturm der Massen.

Zu Lande, zu Wasser und in der Luft: Wenn Touristen in Scharen auftreten und alle städtischen Räume beanspruchen, werden sie zur Belastung.
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft: Wenn Touristen in Scharen auftreten und alle städtischen Räume beanspruchen, werden sie zur Belastung.

Tatsächlich malen die Zahlen ein dramatisches Bild. Venedig, in dessen Stadtzentrum knapp 60.000 Menschen wohnen, verdaut jedes Jahr 30 Millionen Touristen. Dieselbe Zahl an Reisenden verstopfte 2016 Barcelona, Tendenz rapide steigend. Der Flughafen von Palma de Mallorca fertigt täglich bis zu 180.000 Passagiere ab, und in Dubrovnik spuckten im vergangenen Jahr 639 Kreuzfahrtschiffe ihre Passagierladungen aus.

Die Einheimischen reagieren zunehmend sauer. Demonstranten stellen die Touristen als Buhmänner hin, die für alles verantwortlich sind: steigende Lebenshaltungskosten, unbezahlbare Mieten, Rückgang der Lebensqualität, und der Ausverkauf der Altstädte an Spekulanten ist auch ihre Schuld. Mit aggressiven Graffiti-Parolen wehren sich die Menschen dagegen, dass überall teure Touristen-Restaurants und nutzlose Souvenir-Shops aus dem Boden schießen und betrunkene Besucher pöbelnd und pinkelnd durch die Straßen ziehen. In Barcelona hat der Protest jetzt eine neue Stufe erreicht: Aktivisten schlitzten die Reifen eines Touristenbusses auf und versetzten damit die Passagiere – darunter auch Kinder – in Angst und Schrecken.

Sommer, Sonne, Stadtrundfahrt: Der Klassiker unter den Besichtigungstouren – hier ein Sightseeing-Bus in Lissabon – bereitet vergleichsweise wenig Probleme, weil sich bei diesem Angebot Touristen und Locals nicht in die Quere kommen.
Sommer, Sonne, Stadtrundfahrt: Der Klassiker unter den Besichtigungstouren – hier ein Sightseeing-Bus in Lissabon – bereitet vergleichsweise wenig Probleme, weil sich bei diesem Angebot Touristen und Locals nicht in die Quere kommen.

Städte ziehen die Notbremse

Die „Touristifizierung“ provoziert drastische Gegenmaßnahmen. Die linksalternative Regierung Barcelonas hat Hotelneubauten in der Innenstadt komplett gestoppt. Außerdem dürfen Privatwohnungen nur noch mit städtischer Lizenz vermietet werden. Online-Vermittlern wie Airbnb oder Homeaway, die sich nicht daran halten, verpasst die Stadt Konventionalstrafen von bis zu 600.000 Euro.

Venedig diskutiert seit längerem eine Art Eintrittsgebühr, die aber bislang im Stadtrat keine Mehrheit findet. In Florenz rücken um die Mittagszeit Stadtreinigungstrupps aus und vertreiben mit ihren Wasserschläuchen essende Touristen von Kirchentreppen und Plätzen – um der Vermüllung Herr zu werden, heißt es offiziell. Dubrovnik hat angekündigt, die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere auf täglich 4.000 zu halbieren.

Touristen am Pranger:
Tourismus ist immer auch eine Frage der Logistik. Hier am Mont St. Michel ist der Andrang zu Stoßzeiten so groß, dass es „Fahrspuren“ für Fußgänger gibt.

Die Wellen schlagen hoch – warum gerade jetzt?

Fast täglich erscheint in den Medien ein neuer Bericht über die Auswüchse des Massentourismus. Dabei ist das Phänomen nicht neu. Als ich in den 1990er Jahren zum ersten Mal Cancún besuchte, wurde mir schlagartig klar, was der Begriff Tourismusindustrie bedeutet. Die Retortenstadt liegt auf einer Insel und besteht ausschließlich aus Hotels, Einkaufszentren und Freizeitparks. Die Angestellten, die den Betrieb für die knapp vier Millionen Touristen im Jahr am Laufen halten, leben in einer Satellitensiedlung auf dem Festland. Der Startschuss für dieses städtebauliche Monstrum fiel 1969 – Mexiko schuf sich damit erfolgreich ein zweites Acapulco. Die Fischer, die Cancún vorher bewohnt hatten, mussten weichen. Sie hatten nichts von der Metamorphose ihrer sandigen Insel zum umsatzstärksten Touristenzentrum des Landes, und niemand nahm von ihrem Schicksal Notiz.

Touristen am Pranger: Traum für die einen, Alptraum für die anderen: Für Mexiko ist Cancún ein wichtiger Devisenbringer. Mit der Kultur des Landes hat die Touristenstadt nichts zu tun.
Traum für die einen, Alptraum für die anderen: Für Mexiko ist Cancún ein wichtiger Devisenbringer. Mit der Kultur des Landes hat die Touristenstadt nichts zu tun.

Ähnlich rücksichtslos frisst sich der Massentourismus auch andernorts durch Städte und Naturlandschaften wie die Raupe durchs Blatt. Natürlich wird das in den Medien immer wieder thematisiert, aber die Dichte der aktuellen Berichterstattung fällt auf. Dafür gibt es zwei Gründe: Es geht um Europa, also um die Zustände vor der eigenen Haustür, und es geht um uns selbst. Denn erstmals stehen nicht die Pauschalreiseherden am Pranger, sondern die Masse der Individualtouristen. Also du und ich und all jene von uns, die immer von sich dachten, sie seien weltoffen, rücksichtsvoll, kulturell interessiert und stets ganz nah an den Locals. In deren Wohnungen mieten wir uns begeistert ein und passen uns der örtlichen Lebenskultur so perfekt an, dass wir eigentlich gar keine Touristen mehr sind. Und das soll jetzt plötzlich falsch sein – und sogar schädlicher als der Pauschalurlaub in Unorten wie Lloret des Mar? Das nagt am Selbstbewusstsein und erzeugt eine tiefe Unsicherheit. Was sollen wir denn jetzt machen?

Wir sind zu viele

Das Lamento ist allseits groß, dabei haben viele vom Tourismus profitiert – auch jene, die jetzt protestieren. Als Gastgeber, Shop-Besitzer, Bootsverleiher, Bergführer und in tausend anderen Funktionen lebten und leben sie direkt oder indirekt vom Geschäft mit den Touristen. Das Problem ist die schiere Zahl der Besucher und die zunehmende Uniformität der Wünsche: Wir wollen alle dieselben coolen Reiseziele besuchen und dasselbe erleben, wann immer es uns passt – ganz individuell natürlich. Doch Individualität als massenhaftes Werbeversprechen à la Airbnb funktioniert auf Dauer nicht, das Angebot ist nun mal begrenzt. Das Gedränge am Urlaubsort halten wir nur aus, indem wir die anderen dafür verantwortlich machen. So kommt es, dass auch Tourismusgegner schwarz-weiß malen, wo Differenzierung angebracht wäre.

Touristen am Pranger: Das Touristendasein kann ganz schön anstrengend sein: Schlange stehen in praller Sonne am Mosteiro dos Jerónimos in Lissabon.
Das Touristendasein kann ganz schön anstrengend sein: Schlange stehen in praller Sonne am Mosteiro dos Jerónimos in Lissabon.

Aber der Feind ist nicht der Tourist, sondern die unselige Praxis der Stadt- und Gemeinderäte, Tourismus als reinen Wirtschaftsfaktor zu sehen und dem Stadt-Marketing zu überlassen. Steigende Besucherzahlen und Jobs sind aber nur eine Seite der Medaille. Wenn der Motor zu sehr brummt, geht das auf Kosten der Menschen vor Ort. Die brauchen bezahlbaren Wohnraum, eine intakte Alltagskultur und gesunde Umweltverhältnisse, sonst gehen sie auf die Straße und schlitzen Reifen auf.

Was sich ändern muss? Eigentlich alles!

Etwas ist aus dem Lot geraten. Sonst würde wohl kaum jemand – schon gar nicht Ryanair – auf die Idee kommen, ein Alkoholverbot auf Flughäfen zu fordern. Alkoholismus im Ferienflieger ist tatsächlich ein Problem, gerade für Urlaubsziele wie Mallorca. Vielleicht soll der Vorstoß der irischen Billig-Airline aber auch nur von der eigentlichen Schweinerei im Flugverkehr ablenken: dass Flugkraftstoff in der EU und anderswo immer noch von der Steuer befreit ist. Das fördert Billigflüge, verleitet zu massenhafter Umweltverpestung und lenkt die Touristenströme zu den immer gleichen Zielen. Eine angemessene Besteuerung wäre ein wichtiges Signal, nur will sich kein Politiker an so einer unpopulären Maßnahme die Finger verbrennen. Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel die von NGOs schon lange erhobene Forderung, den Tourismus und seine Folgen als Unterrichtsstoff in die Lehrpläne der Schulen zu hieven. Je früher das Thema in die Köpfe kommt, desto besser.

Auch die betroffenen Reiseziele können aktiv werden. Ganz oben auf die Liste gehört die Verpflichtung, die lokale Bevölkerung grundsätzlich an der Planung von touristischen Projekten zu beteiligen. An guten Ideen mangelt es nicht. In Berlin-Kreuzberg etwa ist das Stadtteilprojekt Regenbogenfabrik selbst in das Geschäft mit den Touristen eingestiegen und betreibt ein Hostel, um mit den Einnahmen Nachbarschaftsprojekte zu finanzieren. Eine erweiterte Strategie verfolgt derzeit Barcelona. Dort will man die Besuchermassen zukünftig gleichmäßiger über die Stadt verteilen, indem dezentrale Sehenswürdigkeiten offensiver vermarktet werden.

Die motorisierten Tuktuks in Lissabon sind Segen und Fluch zugleich: Sie entzerren die Besuchermassen, indem sie sie an weniger besuchte Orte der Stadt bringen. Gleichzeitig ist nun auch an diesen Orten niemand mehr vor Touristen sicher.
Die motorisierten Tuktuks in Lissabon sind Segen und Fluch zugleich: Sie entzerren die Besuchermassen, indem sie sie an weniger besuchte Orte der Stadt bringen. Gleichzeitig ist nun auch an diesen Orten niemand mehr vor Touristen sicher.

Und was kann ich tun? Informierte Entscheidungen treffen, könnte eine Antwort lauten. Dazu gehört, dass ich mir klar mache, dass ich einer von 1,2 Milliarden Reisenden bin – und damit Teil einer Massenbewegung, ob ich will oder nicht. Das hilft, eine etwas objektivere Kosten-Nutzen-Rechnung der eigenen Reise aufzustellen. Wertvolle Unterstützung bieten diverse Nachhaltigkeitszertifikate von Hotels, Reiseveranstaltern und sonstigen Anbietern. Allerdings gibt es mittlerweile so viele dieser touristischen Siegel, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten. Was fehlt, ist ein Zertifikat, das Unterkünften klare Vorgaben für umweltverträgliche Strom-, Wasser- und Müllmengen pro Gast macht und je nach Land verbindliche Mindestlöhne und Sozialstandards für Beschäftigte festlegt.

Am Ende stelle ich fest, dass meine Möglichkeiten eingeschränkt sind: Wenn ich darauf achte, dass mein Fußabdruck möglichst klein bleibt, kann ich nicht mehr Urlaub machen, wann, wo und wie ich will. Aber will ich das überhaupt: reisen ohne Limit? Auf die Gefahr hin, dass dann immer mehr Reiseziele an zu vielen Besuchern kollabieren? Damit bin ich wieder beim Verzicht. Das Schöne daran ist: Mein Verzicht fällt für mich kaum ins Gewicht. Ich hab sogar ein gutes Gefühl dabei – weil er freiwillig ist.

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