In Amsterdam war ich schon oft. Diesmal wohne ich erstmals in Bos en Lommer, einem Viertel im Westen der Stadt. Meine Freundin Renske und ich sitzen im Café Zurich am Mercatorplein. Mir fallen die Häuser auf, die den Platz säumen. Backstein mag ich sehr. Besonders ins Auge fallen die verspielten und gleichzeitig zurückgenommenen Details, durchdacht und lässig. Das sind nicht einfach Wohnhäuser. Das sind Statements. Aber wofür? „Na, das ist die Amsterdamer Schule“, erwidert sie leichthin. „Was für eine Schule?“ Meine Begeisterung ist mir deutlich anzumerken. Nachdem die fünfte Detailfrage aus mir herausgesprudelt ist, empfiehlt Renske mir lachend einen Besuch im Museum „Het Schip“. Da, so ihre Vermutung, wissen sie alles über die Geschichte der Amsterdamse School. Super Tipp, da muss ich hin.
Het Schip – Auf den Spuren der Amsterdamer Schule
Am nächsten Tag radele ich durch den Amsterdamer Westen. Fahre durch den Westerpark mit dem Cultuurpark Westergasfabriek. Unterquere die Bahnschienen zur Centraal Station. Schon bin ich in Spaarndammerbuurt. Hier soll es irgendwo sein. Eine öffentliche Badeanstalt, verziert mit expressionistischen Schriftzügen, fällt mir auf. Ich komme an weiteren Häuser mit auffälligen Details vorbei. An der Ecke Zaanstraat, Spaarndammerplantsoen ragt es dann plötzlich vor mir auf. Das Schiff.
Das Eckhaus des 1917-1921 erbauten Gebäudekomplexes, das wie ein Tortenstück geformt ist, beherbergte bis in die 1990er Jahre hinein ein Postamt. Erbaut wurde es von Michel de Klerk, einem der wichtigsten Vertreter der Amsterdamer Schule, im Auftrag von Eigen Haard. „Eigen Haard“ bedeutet „eigener Herd“ und ist der Name einer großen Wohnbaugesellschaft in den Niederlanden. Noch immer gehört ihnen das Objekt. Noch immer gibt es hier Sozialwohnungen, die man nur unter bestimmten Voraussetzungen bekommt. Dass diese Wiege des expressionistischen Baustils Amsterdamse School ein museales Zuhause gefunden hat, ist Alice Roegholt zu verdanken. 1999 entdeckte sie das verwahrloste Schätzchen, als sie im Vorfeld der geplanten Feierlichkeiten zu „100 Jahre Housing Act“ auf Recherchetour war. Wie es dann zur Einrichtung des Museums kam, hat Alice mir erzählt. Doch dazu später mehr.
Die Wiege des sozialen Wohnungsbaus in den Niederlanden
Ende des 19. Jahrhunderts wuchs Amsterdam vor allem in westlicher und südlicher Richtung. Der Housing Act von 1901 markierte einen Wendepunkt in der niederländischen städtebaulichen Entwicklung, mit der die Regierung die Schaffung und Verteilung von Wohnräumen anders regulieren konnte. Wohnbaugesellschaften wie Eigen Haard, traten auf den Plan. Vorher herrschte, vereinfachend gesagt, Wildwuchs, und nur wer über das nötige Geld verfügte, konnte komfortabel wohnen. Die neu entstehenden Wohnungen in den 1910er und 1920er sollten „Paläste für die Arbeiter“ werden. Bebaute Menschlichkeit in Zeiten der Industrialisierung und des starken Bevölkerungswachstums. Für diejenigen, die die moderne Stadt mit ihren Händen erbauten.
Als 25. (!) Kind eines Diamantenschleifers wuchs Michel de Klerk im armen Judenviertel Amsterdams auf. Und hatte am eigenen Leib erfahren, wie Arbeiterfamilien künftig nicht mehr hausen sollten. Im Studio von Eduard Cuypers bekam de Klerk eine Chance. Schnell wurde er zur treibenden Kraft dieses neuen, expressionistischen Baustils, der 1915 seinen Namen erhielt: Amsterdamse School. Nach seinem frühen Tod 1923 entwickelten junge Kollegen wie Piet Kramer und Johan Melchior van der Mey (und viele mehr), die Amsterdamer Schule weiter. Inspiriert von den Bildern van Goghs und der britischen Arts and Crafts Bewegung sowie deutschen und skandinavischen Einflüssen schufen sie eine Bewegung ohne Manifest, einen grenzenlosen Stil. Haus? Baukunst? Skulptur? Wo hört das eine auf, wo fängt das andere an? Ihr umfassender Ansatz bezog auch Stadtmöbel mit ein. Auf Brücken, Laternen und Pollern erzählten sie kleine Szenen aus der Welt der Arbeiter, bedienten sich einer leicht zugänglichen Symbolik.
Das ehemalige Postamt und die Museumswohnung
Meine Begleitung auf der Tour heißt Anna. Wir beginnen im Eingangsbereich des Museums, mitten im ehemaligen Postamt. Ich stelle mir vor, wie sich die Arbeiter hier damals ihren Wochenlohn auszahlen ließen. Wie das Fräulein vom Amt, das in einer Kabine schräg gegenüber der Sprecherkabine saß und natürlich immer alle Gespräche mithören konnte, Telefonverbindungen freischaltete. Es gibt mindestens genauso viel klare Botschaften wie dezent verspielte Symbole. Anna sorgt mit ihrer herzlichen, kompetenten Art für ein perfektes Erleben. Längst sind wir in einen begeisterten Dialog übergegangen und ich darf ihr Löcher in den Bauch fragen. Die Museumswohnung, die wir als nächstes besuchen, ist, salopp gesagt, der Knaller. Schöne Formen flirten mit platzsparender Funktionalität, Licht mit Luft, Dynamik mit Ruhe. Ein Gedanke blitzt auf. Wie wäre es, wenn ich mich einfach für eine Weile in jeden einzelnen dieser Räume setze, die Atmosphäre ganz in Ruhe auf mich wirken lasse. Alleine. Anna merkt, dass ich auf ihren Schlüsselbund schiele und winkt mich grinsend weiter. Wir verstehen uns.
Zur Entstehungsgeschichte des Museums
In den 1970ern sollte das Gebäude abgerissen werden. Dieses Schicksal konnte zum Glück abgewendet werden, weniger glücklich verliefen die Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen 1975. In der Euphorie über den Fortschritt, auf der Suche nach maximal modernem Wohnkomfort, wurde alles rausgerissen, natürlich ohne vorher eine fotografische Dokumentation anzufertigen. Auch das Postamt war, als Alice Roegholt es 1999 betrat, in einem bedauernswerten Zustand. Auf die Frage, was denn mit diesem verwahrlosten Schätzchen geschähe, entgegnete die Dame hinterm Schalter: „Wir machen bald zu. Für immer.“ Alice hatte eine Vorstellung davon, was die Schließung für das einzige, noch intakte Werk von Michel de Klerk bedeuten würde. Ab diesem Moment verbindet sich ihre Lebensgeschichte untrennbar mit dem Ziel, das Verbliebene zu retten und wieder öffentlich zugänglich zu machen.
On the Waves of the City – An Amsterdam School Tour
Das Buch habe ich bei meinem Besuch im Museum entdeckt und mir sofort gekauft. Prozente bekomme ich keine, falls sich jemand wundern sollte, dass ich hier so schwärme. Aber das einzig Negative, was ich über dieses Tour-Buch sagen kann ist, dass es „nur“ in englischer Sprache und natürlich auf niederländisch vorliegt. Den Machern ist es tatsächlich gelungen, eine vielseitige, gut gegliederte Zusammenstellung zu liefern. In 6 Routen zerlegt, lassen sich einzelne Stadtteile auf den Spuren der Amsterdamer Schule in bekömmlichen Portionen erkunden: Stadtzentrum, Plan Süd, Skulptur, Plan West, Housing Act Architektur, Het Schip. Sie alle funktionieren sowohl mit dem Fahrrad als auch zu Fuß. Wer sich richtig intensiv mit Architektur und Stadtgeschichte befassen möchte, sollte ruhig einen ganzen Tag einplanen.
Hier findest Du mehr interessante Reisegeschichten:
- Amsterdam-Noord, ganz schön im Wandel
- Kehren und Wiederkehren
- 2016 | Ein Jahr in Bildern
- Das Wasser von Lissabon
- Deutschland Reiseberichte
- Reisen zur Architektur
- Münster Skulptur Projekte 2017
- Antwerpen: Innovative Architektur an den Ufern der Schelde
- Lyon Confluence – Der Traum von der nachhaltigen Stadt
Service
Die Amsterdamer Schule wird erlebbar im Museum Het Schip. Auf der Website erfahrt ihr mehr und könnt euch auch für Gruppenführungen anmelden.
Übrigens: Ein weiteres Besucherzentrum gibt es im Süden Amsterdams.
Das Scheepvaarthuis (Schifffahrtshaus), 1912-16 vom Architekten Van der Mey erbaut, ist ein weiteres bedeutendes Bauwerk im Stil der Amsterdamer Schule. Heute ein 5-Sterne-Hotel. Gruppenführungen werden jeden Sonntag angeboten.
Das Buch könnt ihr bestellen unter info@hetschip.nl. Es kostet 15 Euro zzgl. 10,35 Euro Versandkosten.
Die Geschichte der Amsterdamer Schule wird weitergeschrieben. Auch in Rotterdam, Hilversum und anderen Orten in den Niederlanden hat die Amsterdamer Schule ihre Spuren hinterlassen. Auf Wendingen, einer Plattform für die Amsterdamer Schule. Infos gibt’s teilweise sogar in deutscher Sprache.