Videothekenlegende aus Spandau
Ich treffe Graf Haufen und seine Partnerin Christine in seinem Kiez in Kreuzberg 61. Geboren wurde die Berliner Videotheken-Legende zwar in Spandau, genauer Hohengatow. Zum Aufwachsen war das auch noch ganz gut. Um ins Berliner Kunst- und Kulturleben einzutauchen, eher weniger. Also zieht der junge Graf, kaum ist der 18. Geburtstag verklungen, nach Neukölln und später nach Kreuzberg. Seine erste Liebe gilt der Musik. Vor den VHSen kommen die Tapes. Punkig, rotzig, im 1980er Jahre Fanzine-Look. Und bis ins letzte Detail durchdacht. Was ihn zu dem Namen inspiriert hat? Eine BASF-Werbung war’s, den genauen Wortlaut, „auch irgendwas Adeliges“ erinnert er nicht mehr.
Bis heute pflegt Graf Haufen, der nebenbei als Dozent an der Universität Hildesheim Filmgeschichte unterrichtet, die Musikkassetten-Liebhaberei und lässt aufwändigst gestaltete Neuauflagen alter Berliner (Punk)Legenden wieder aufleben. Mit Buttons, kopierten Collagen im Fanzine-Look, mit Brief und mit Siegel. Sein jüngster Coup, eine Sonderauflage im Gedenken an den in 2016 verstorbenen Musikredakteur Hagen Liebing und seine damalige Kombo „Popgruppe Freundschaft“. Als nächstes gibt’s „Deutsch-Polnische-Aggression“ auf die Ohren. Kurz: DPA. So hieß nämlich ein Musikprojekt von 1981, zu dem auch die Techno DJ-Legende Dr. Motte gehörte.
Cineasten lecken sich die Finger nach dem Videodrom. In der Programmvideothek, die nach Anfängen in der Zossener Str. und wilden Hochzeiten in der Mittenwalder Str. seit 2010 in der Friesenstraße beheimatet ist, gibt es wirklich alles. Trash und Splatter, Arthaus und Dokumentationen, Independent- und Stummfilme, Experimentalfilme und Videokunst, Zeichentrick und Anime, seltene Schnitt- und Originalversionen plus Director’s Cut und ja, auch Hollywood-Blockbuster.
Dickes Dos. Oder: If it ain’t broken, don’t fix it
Die Website des Videodrom ist topaktuell. Optisch stammt sie aus früheren Äonen. Ebenso wie die Datenbank, deren Basis ist bis heute ein – noch in der Mittenwalder programmiertes – Dos-System. Aber wie sagt man so schön? If it ain’t broken, don’t fix it. Die beiden lachen. „Klar ist das System unserer Datenbank mittlerweile komplett vom Leben überholt worden, aber unsere Treue hat auch Vorteile! Für ein so altes Programm schreibt wenigstens niemand mehr Virenprogramme.“
Neue Filme und neue Texte zu alten Filmen. Hat man sich einmal zurecht gefunden, gibt es nicht weniger als ein cineastisches Universum zu entdecken: Die Welt des Graf Haufen und seiner beiden Mitstreiter, Christine Pursch und Jens Hartmann. Sie gucken alle viel, doch nicht alle gucken alles. So findet der Videodrom-Besucher auf einigen Filmen Klebchen mit „Tipp von Graf Haufen“, auf anderen klebt jeder der Drei sein „Seal of Approval“. Wie man sich nun in dem charmant analog gehighlighteten Qualitätssiegelwald zurechtfindet? Graf Haufen schmunzelt: „Also alle Filme, die ich getippt habe, sind als Wegweiser für die Kunden gedacht. Das muss aber nicht heißen, dass die, auf denen dieser Hinweis fehlt, nichts taugen. Und ob es passt, stellt sich spätestens beim Gucken heraus.“
Guckst du noch oder streamst du schon?
Machen wir uns nichts vor. Sind die Kinder klein, leihen viele Eltern vorwiegend für den Nachwuchs aus. Mit dem ersten eigenen Smartphone verändert sich alles. Auch die Sehgewohnheiten. Die „allgemeine Verschnipselung“ und mit ihr unsere Unfähigkeit, länger als fünf Minuten ungeteilte Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken nimmt zu. Und die Fähigkeit, abendfüllende Spielfilme im Ganzen zu goutieren, nimmt mit jeder neuen Generation weiter ab. In einem Blogbeitrag der Zukunft würden wir vielleicht weniger eine Auflistung von Lieblingsfilmen machen, sondern eine Auflistung von Lieblingsszenen aus einzelnen Filmen. Schnippschnapp, wäre dann auch der restliche Zauber der nostalgischen Filmrolle ab.
Für Kinoliebhaber und Freunde skurriler, auch richtig abseitiger filmischer Unterhaltung ist das Videodrom nach wie vor ein Quell ewiger Freude. Und stellt sich wacker in den durch Multitasking diffus vernebelten Medienkonsum-Wind. Das Geschäft mit DVDs und Blu-Ray ist rückläufig. Das liegt nicht zuletzt an Netflix, Amazon und anderen Streamingdiensten. Graf Haufen sieht das nüchtern „Der Markt für physische Produkte schrumpft, der für virtuelle Produkte wächst. Ohne Buchpreisbindung ginge es dem Buchhandel doch mittlerweile genauso wie der Videobranche.“ Ernsthaft einschüchtern lassen will er sich von dem stetigen Abwärtstrend noch nicht. Weitermachen. Immer weiter. Und so quillt der Laden scheinbar unbeeindruckt über vor neuen cineastischen Leckerbissen.
Circa 20 neue Titel finden auch heute noch wöchentlich ihren Weg ins Videodrom. Wenn die Filme aus dem nicht englischsprachigen Ausland importiert wurden und entsprechend das Cover nur in Landessprache ist, oder auch wenn das Cover optisch wenig ansprechend ist, bekommen sie neues, ansprechendes Gewand.“ Darum kümmert sich Christine, die einstmals studierte Produktdesignerin, die aus dem Pott nach Berlin gespült wurde neben ihrer Arbeit am Filme-Tresen des Videodroms.
Titel-Tinnitus auf deutschen DVD-Covern
Wir sitzen immer noch in der Küche der Beiden und quatschen über Filme. Über absurde deutsche Verleihtitel gibt’s besonders viel zu kichern. Allein „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ (im Original – schön doppeldeutig – „Still Life“). Oder „No Panic – Gute Geiseln sind selten“, der im britischen Verleih „Hostile Hostages“ heißt und im Original „The Ref“. Oder „Stiefel, die den Tod bedeuten“. Ein anderer Ausdruck für Stinkende Botten? Nein, unter diesem Titel kam der britische Film„Blind Terror“ mit Mia Farrow in den deutschen Verleih, wieso auch immer. Dabei stimmt der Originaltitel, oder auch der US-Titel „See no Evil“ US-Originalversion doch wunderbar ein auf das, worum es im Film geht. Nämlich eine blinde Frau, die sich unwissentlich in einem Haus voller Toter wiederfindet und vielleicht auch deren Mörder…
Apropos dramatisches Ableben: Was sagt das Videodrom zu 2016 – Arschlochjahr oder nicht? (Wir verweisen an dieser Stelle gern auf unseren Jahresrückblick 2016) Die beiden überlegen kurz. „Wir haben in jedem Fall noch nie so viele Tote hingestellt wie dieses Jahr“, sind sich Christine und Graf Haufen einig. Tote hinstellen, so heißt es im Videodrom, wenn verstorbene Filmschaffende, Schauspieler, Regisseure, Kameraleute, mit einer Präsentation ihrer Titel geehrt werden. „Kaum hatten wir das Fenster fertig, hätten wir schon die nächste Auswahl zusammenstellen können.“
Für 2017 planen wir zu meiner großen Freude eine eigene Sirenen-und Heuler-Rubrik zum Thema Reisen im Film, resp. Reisefilme. Denn fängt man hier mal an zu schauen, tun sich neue Universen auf. Doch es riecht schon wieder nach Punsch und Lebkuchen und die Heizung bollert. Das erinnert mich wieder daran, dass wir euch heute erst einmal die Top Weihnachtsfilme und alternative Winterfilme von Graf Haufen präsentieren möchten. Perlen der Filmkunst, die vom Kenner als festlich krachend oder erträglich kontemplativ bezeichnet werden.
Graf Haufens wunderbare Weihnachtsliste
Kevin allein zu Haus, Regie: Chris Columbus (Home alone, USA 1990)
… wegen seines kruden Humors, aus heutiger Sicht eigentlich subversiven Humors. Die „Kinderstreiche“ sind so ernstlich brutal, dass es erstaunlich ist, dass der Film immer noch als Kinderfilm durchgeht.
Die Geister, die ich rief | Regie: Richard Donner (Scrooged, USA 1988)
… wegen seiner netten Garstigkeit, Bill Murray als karrieresüchtiger, skrupelloser „Held“ ist der Böse / Kaltherzige, der bekehrt werden muss. Und das geht sehr sarkastisch, medienkritisch und schwarzhumorig zu.
Nightmare before Christmas | Regie: Henry Selik (Nightmare Before Christmas, USA 1993)
… Stop Motion gewordenen Liebe zum Kino. Welch ein Handwerk. Und weil er als Mischfilm zwischen Helloween und Weihnachten so ein schöner Hybrid ist.
Das Leben des Brian | Regie: Terry Jones (Monty Python’s Life of Brian, GB 1979)
… ein Klassiker, hübsch subversiv, geht immer.
Tangerine L.A. | Regie: Sean S. Baker (Tangerine, USA 2015)
… schon wegen der ganzjährig sommerlichen Atmosphäre in Kalifornien ein alternativer Winterfilm, der – eher zufällig – in der Weihnachtswoche spielt. Auf em Straßenstrich in L.A. Im Zentrum der Geschichte mit viel Drama, Baby, steht eine Transsexuelle, die nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis ein paar schockierende Erkenntnisse über ihren Lover gewinnt.
Fröhliche Weihnachten | Regie: Bob Clark (Christmas Story, USA 1983)
…in den USA ein Klassiker, der als Kulturgut bereits in die Nationalbibliothek aufgenommen wurde, hierzuland gänzlich unbekannt. In den 1940er Jahren wünscht sich ein 9-jähriger ein „Red Rider“ Luftdruckgewehr und nichts anderes. Zeitlos, unkitschig, vielschichtig und erstaunlich authentisch.
Tödliche Weihnachten | Regie: Renny Harlin (The Long Kiss Goodnight, USA 1996)
… Action zu Weihnachten ist immer okay. Und es muss nicht nur DIE HARD – STIRB LANGSAM sein. Hier geht es um die Selbsterkenntnis einer braven Kleinstadtlehrerin, dass sie in Wirklichkeit jemand ganz anderes ist. Und das überleben etliche Häscher nicht… Gnadenlos nihilistisch und brillant von Geena Davis gespielt.
Santa and the Ice Cream Bunny | Regie: Barry Mahon (Santa and the Ice Cream Bunny, USA 1972)
… lupenreiner Trash aus der Mache eines kalifornischen Vergnügungsparks in der großenteils uneingeführt und unvermittelt skurrile Figuren wie eben jener Ice-Cream Bunny durchs Bild laufen und so gut wie gar nicht erleben. Wie kann ein völlig sinn- und plotfreier Film nur so einen Spaß machen?
Santa Claus conquers the Martians | Regie: (Santa Claus conquers the Martians, 1964)
… dass dieser Film nicht längst vergessen ist, dürften wir nur der Tatsache zu verdanken haben, dass die 1980er Jahre-Sängerin Pia Zadora (größter Hit: „When the Rain begins to fall“ mit Germaine Jackson) als Kind eine der Hauptrollen gespielt hat. Herrlicher Trash-Kitsch um Marsianer, die den Weihnachtsmann entführen, um auch mal das Fest feiern zu können. Bewußtseinserweiternd!
Sehr sympathisch: Christine, deren Herz ansonsten für japanische Filmkunst und alles Asiatische schlägt, bricht im Gespräch noch eine Lanze für Dauerbrenner wie „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ und Frank Capras Klassiker „Ist das Leben nicht schön“ mit Jimmy Stewart. Klar, Weihnachten ist eben eine Zeit, deren Konventionen uns stark geprägt haben und in der der Wunsch nach Wohligkeit und Bekanntem besonders stark ausgeprägt ist. Dem lässt sich schwer entgehen.
Auf dass es auch in diesem Jahr zum Fest der Liebe und des legitimierten Fresskomas wieder heißt: Video rein und Alltag raus!
Danke, lieber Graf Haufen und danke, liebe Christine, für eure Zeit. Wir hoffen, dass es das Videodrom noch gaaaaaanz lange geben wird!
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Service
Videodrom, Friesenstr. 11, 10965 Berlin, T. 030-692 88 04
Mo.-Fr. 14-23 Uhr, Sa. 12-24 Uhr, So. 16-22 Uhr, URL
The Room (USA 2003)
… Kein Weihnachtsfilm. aber Graf Haufens ganz persönliche Weihnachtstradition. Der laut seiner Aussage schlechteste Film aller Zeiten, der in den USA schon länger Kult-Status erlangt hat und hier nach wie vor weitgehend unbekannt ist.