In Stanley Kubricks Weltraumabenteuer „2001: A Space Odyssey“ taucht wiederholt ein geheimnisvoller schwarzer Monolith auf. Woher er kommt, bleibt im Dunkeln. Seine Wirkung auf die Menschen ist enorm: In der Urzeit lernen sie durch ihn den Gebrauch von Werkzeugen, später veranlasst er sie zu einer Expedition auf den Planeten Jupiter, und am Ende des Films verhilft er dem Hauptprotagonisten – als einer Art Auserwähltem – zu einer mystischen Wiedergeburt.
Der Begriff Weltkulturerbe kommt mir vor wie dieser Monolith: unverrückbar, nicht wirklich greifbar und dennoch ausgestattet mit einer geheimnisvollen Macht, die Menschen gleich welcher Couleur zu Empfängern einer universellen Botschaft macht und zum Guten führt. Das ist ein hübscher Gedanke, aber sehr missionarisch und wie alle Heilslehren diskussionswürdig. Kultur und was wir darunter verstehen ist nun mal kompliziert, genau wie der Religionsbegriff. Dahinter steckt immer ein Ordnungsversuch. Ob ich diese Ordnung teile, hat viel mit meinen ureigenen Lebensumständen zu tun: Was für dich einen hohen Stellenwert hat, bedeutet mir vielleicht wenig – es sei denn, jemand bietet mir einen Mehrwert, den ich leicht verstehe. Zum Beispiel Prestige.
Hauptsache Touristen
Das Prinzip Weltkulturerbe hat zweifellos Verdienste. Die UNESCO sieht die internationale Gemeinschaft in der Pflicht, „sich am Schutz des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlichem universellem Wert zu beteiligen“. Indem sie ihren 195 Mitgliedsstaaten dabei hilft, einzigartige Orte zu erhalten und zu verwalten, prägt sie maßgeblich den Kulturbegriff vieler Menschen. Für die ist – kulturell gesehen – die Khmer-Tempelanlage Angkor Vat gleichbedeutend mit Kambodscha und Chichén Itzà mit Mexiko. Das kann ich als grobe Vereinfachung kritisieren, aber immerhin vermittelt es selbst Touristen, die vor allem auf Strand und/oder Party aus sind, eine verschwommene Vorstellung von der Kultur des Landes, das sie gerade besuchen. Denn trotz des Stresses, den ein Besuch an einem überlaufenen Welterbe bedeutet, wird niemand darauf verzichten wollen. Wer will sich schon zuhause vorwerfen lassen, er hätte das wichtigste Highlight verpasst?
An bestimmten Orten kommt also kein Tourist vorbei – das Motiv „me too“ ist ein mächtiges Argument. Das gilt natürlich nicht für alle Welterbestätten gleichermaßen, aber allein das Label „Weltkulturerbe“ zeigt mir, dass es hier etwas ganz Besonderes zu sehen gibt. Je größer die Attraktivität, desto größer das Gedränge. Seltsamerweise scheint das die meisten gar nicht zu stören, im Gegenteil: Menschenschlangen bestätigen mich noch darin, dass ich hier richtig bin.
Geht es wirklich um Erhaltung?
Und es kommen ja nicht nur Touristen. In dem Moment, in dem ein Ort als Weltkulturerbe gelistet wird, zieht er wie ein Magnet Kunsthistoriker, Anthropologen, Ethnologen, Archäologen, Biologen, Geologen, aber auch Künstler und Politiker an. Gerade Letztere nutzen Welterbestätten gerne als statusträchtige Orte für ihre Zwecke und machen daraus manchmal sogar nationale Symbole. Das gilt besonders für Angkor Vat als staatstragendes Monument der kulturellen Heimat Kambodschas nach dem mörderischen Pol-Pot-Regime. Die Tempelanlagen Borobudur und Prambanan auf Java wiederum stehen für tief verwurzelte und immer noch gelebte vorislamische Traditionen in dem Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung.
Vor Ort habe ich davon wenig gemerkt. Andere Dinge bestimmen das Erscheinungsbild: Schilder werden aufgestellt, Zäune errichtet, Beleuchtungs- und Überwachungsanlagen installiert, Management-Pläne erstellt. Dass der Versuch, die Menschenströme zu lenken, nicht immer funktioniert, zeigt das Beispiel der Ausgrabungen von Pompeji. Jahrzehntelang litt die Ruinenstatt unter Vandalismus und Vernachlässigung – ein Zustand, der zum Glück heute überwunden scheint, weil mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden.
Zäune grenzen aber nicht nur Randalierer und sonstige Unbefugte aus, sondern oft auch die Einheimischen. Das Credo lautet immer: Der Status als Weltkulturerbe bringt Besucher und damit Einkommen, auch für die Anwohner. In der jordanischen Felsenstadt Petra habe ich erlebt, welche Probleme dabei auftreten können. Die Nomaden, die ursprünglich auf dem Gelände lebten, wurden zwangsweise in Wohnblöcke umgesiedelt und bekommen, wenn überhaupt, die schlecht bezahlten Jobs, die der Tourismus zu bieten hat. Das Geschäft machen Auswärtige: internationale Hotelketten, ausländische Reiseveranstalter, überregionale Tourismusagenturen. Die Folgen für die Betroffenen: Perspektivlosigkeit, kulturelle Heimatlosigkeit und soziale Verwahrlosung. Ähnliche Erfahrungen mussten die Anwohner anderer Welterbestätten machen.
Weltkulturerbe verändert sich
Andernorts tritt die UNESCO für Besucheraugen kaum in Erscheinung. Als Besucher der Altstadt von Fès entdecke ich kaum Anzeichen dafür, dass ich gerade durch ein Weltkulturerbe spaziere – ich weiß es aus dem Reiseführer oder Internet. Dass es hier weder nennenswerte Abgrenzungen noch Schilder gibt, hat einen einfachen Grund: In den Häusern leben Menschen, und das schon seit Jahrhunderten – warum sollten sie damit aufhören? Um das zu erleben, bin ich ja schließlich hier. Die UNESCO fördert dieses Besuchererlebnis nach Kräften. Trotzdem ist die UN-Organisation den meisten hier völlig unbekannt. Für die Locals ist ihr Haus schlicht ihr Haus und kein Weltkulturerbe – und wenn doch, dann spielt das im Alltag kaum keine Rolle.
Dennoch kommt es zu Interessenskonflikten – immer dann, wenn der Denkmalschutz versucht, Traditionen zu regulieren. Für die Fassi ist es seit Menschengedenken üblich, ihre Häuser je nach Anzahl der Familienmitglieder neu aufzuteilen – durch neu eingezogene Wände, das Wegreißen alter Mauern oder sonstige Veränderungen der Bausubstanz. Die UNESCO sagt, das gehe nicht an, weil jedes Haus ein Denkmal sei, das geschützt werden müsse. Die Leute sagen: Das ist unser Haus und dient unseren Bedürfnissen.
Da treffen Welten aufeinander. Die UNESCO will ein Kulturdenkmal retten, indem sie seinen Zustand konserviert und praktisch einfriert. Anders ausgedrückt: Ein Ort, der zum Weltkulturerbe erklärt wird, hat das Ende seiner Geschichte erreicht – er wird zum reinen Besuchsort, also museal. In einem Museum kann aber niemand leben. Die Fassi sind selbst Teil des Kulturerbes Fès und können deshalb ihre Interessen viel besser durchsetzen als die zahlenmäßig weniger ins Gewicht fallenden Nomaden von Petra oder die Bauern und Viehhirten rund um die unbewohnte Tempelruine Angkor Vat. Für diese Menschen ist im Denkmalschutzprojekt kein Platz. Eine Lösung ist nicht in Sicht, und die potentielle Verletzung von Menschenrechten bleibt ein Stachel im Fleisch der UNESCO.
Weltfremdes Weltkulturerbe?
Kontroversen gibt es aber nicht nur in den Ländern des globalen Südens. In Wien tobt derzeit eine Diskussion darüber, wer schuld daran ist, dass die österreichische Hauptstadt demnächst ihren Welterbestatus verlieren könnte. Das historische Stadtzentrum mit Stephansdom, Hofburg und zahlreichen Stadtpalais steht seit Juli auf der Roten Liste des gefährdeten Weltkulturerbes. Der Grund: Ein geplanter Wohnturm zerstöre den sogenannten Canaletto-Blick, eine Vedute der Stadt, die der italienische Meister Bernardo Belotto, genannt Canaletto, im 18. Jahrhundert vom Schloss Belvedere aus gemalt hat.
Ähnliche Diskussionen hat es schon in Köln und Dresden gegeben, und Dresden ist tatsächlich eine von bislang nur zwei Welterbestätten, der die UNESCO diesen Status aberkannte. In Wien gibt es viele, die diesen Ausgang des Konflikts um jeden Preis verhindern wollen. Dabei geht es aber gar nicht in erster Linie um Erhalt oder Zerstörung, sondern um handfeste Kommunalpolitik: Die rot-grüne Stadtregierung hält stur an dem Bauvorhaben fest, die Verteidiger des Weltkulturerbe-Status kommen überwiegend aus dem Lager des politischen Gegners.
Nüchtern betrachtet ist Wien ebenso wie Fès ein lebendiger Organismus, der nicht stillsteht und deshalb auch nicht konserviert werden kann. Hat die UNESCO wirklich das Recht, sich so massiv in den Stadtentwicklung einzumischen – und das, obwohl in Wiens City akuter Wohnungsmangel herrscht? Andererseits wird das geplante Hochhaus mit seinen Luxusappartments das lokale Wohnungsproblem kaum lösen.
Erfrischend unaufgeregt kommentiert eine Leserin der Online-Zeitung „Die Presse“ den Streit: „Ich habe mich sowieso schon längst gefragt, wann es zur Aberkennung kommt, wenn ich so über die Innenstadt blicke und jede Woche eine neue Baustelle sehe, wo wieder einmal bis zu dreistöckige Luxus-Dachwohnungen auf die historische Bausubstanz draufgepappt werden.“ Als ich kürzlich in Wien war, fiel mir das auch auf: an jeder Ecke Kräne und Dachausbauten. Das darf ein Weltkulturerbe offenbar.
Ausblick: Weniger ist mehr
Die UNESCO verfolgt ein ehrenwertes Ziel: Sie will das Einzigartige schützen. Mehr noch: Sie sieht sich als Bewahrerin universeller, von Zerstörung bedrohter Werte. Aber wenn es wirklich hart auf hart kommt wie in Palmyra oder Timbuktu, erweist sich ihr Schutzschild als unbrauchbar. Und wer definiert eigentlich die universellen Werte, die das Weltkulturerbe bewahren soll?
Bis 1990 lagen die meisten Welterbestätten in Indien, doch mittlerweile nutzt Europa seinen Einfluss und stellt fast die Hälfte der erfassten Orte. China holt zwar auf, aber das Ungleichgewicht besteht nach wie vor. Das ist Bevormundung, sagen die Länder des globalen Südens und treffen einen Nerv damit, auch wenn sich die UNESCO redlich bemüht, den Vorwurf zu entkräften, indem sie seit den 1990er Jahren einen anthropologischeren Ansatz verfolgt und neben den zuvor schon anerkannten Naturlandschaften auch gelebte Traditionen und „Kulturlandschaften“ in ihre Liste aufnimmt.
Allerdings stehen bei der Auswahl zunehmend geschäftliche oder nationale Interessen Pate – wer gut vernetzt ist, kann viel erreichen. Dazu kommt, dass allein die schiere Anzahl der Welterbestätten – über 1.000, verteilt auf 167 Länder – die Probleme potenziert und immer häufiger dazu führt, Polarisierungen auszublenden statt anzugehen. Die Formel „viele Welterbestätten = viel Schutz“ funktioniert weniger denn je. Klar: Je länger die Weltkulturerbe-Liste wird, desto mehr Länder profitieren von dem Kuchen – das ist auch ein Mittel der Demokratisierung. Aber grenzenloses Wachstum ist wie so oft der falsche Ansatz. Vielmehr wäre es an der Zeit, das Konzept Weltkulturerbe grundsätzlich zu überdenken, den Blick mehr auf die von Ort zu Ort unterschiedlichen, strukturell aber durchaus ähnlichen Risiken zu lenken – und sich gesundzuschrumpfen.