Eine Ouvertüre für Wien
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich als Zwölfjähriger keine Ahnung von osteuropäischer Geografie hatte. Danach wollte ich erst recht nichts damit zu tun haben. Warum? Wegen eines Familienurlaubs, den ich als so traumatisch in Erinnerung habe, dass daraus in meinem Kopf lauter seltsame Mythen entstanden sind. Zum Beispiel behauptete ich jahrzehntelang steif und fest, nie in den Karpaten gewesen zu sein. Dass die Hohe Tatra, in der wir damals unter – wie ich fand – widrigsten Umständen herumkletterten, der höchste Teil der Karpaten ist, wurde mir erst viel später klar.
Ždiar, zu Deutsch Morgenröte – das Bergdorf, in dem wir damals abstiegen – fabulierte ich mir im Nachhinein zur schicksalhaften Ouvertüre unseres späteren Eingangs ins Paradies namens Wien. Der slowakische Ort hatte für meine Begriffe nichts Morgenrotes, schon gar nicht unsere Unterkunft. Wir hausten zu fünft in einem Raum direkt neben der knarzenden Holzstiege. Wahrscheinlich war dies das größte und komfortabelste Zimmer im ganzen Haus, doch in unserer westlichen Verweichlichung sahen wir – meine Geschwister, meine Mutter und ich, ganz im Gegensatz zu meinem Vater – nur die Zumutungen.
Derer gab es viele. Eine der gravierendsten: die fehlende Waschgelegenheit. Zum Waschen musste man vors Haus treten, die staubige Straße überqueren und Wasser aus einem arktisch sprudelnden Gebirgsbach schöpfen. So begann der Tag. Beziehungsweise eigentlich begann er damit, dass die übrigen Pensionsgäste – allesamt begeisterte Wandersleute aus der DDR – noch bei Dämmerung in schweren Stiefeln die Treppe herabpolterten und in die Berge strömten.
Wir strömten mit einiger Verspätung hinterher. Gemeinsam mit der befreundeten Familie aus Ostdeutschland, mit der wir diesen „Urlaub“ verbrachten, stürmten wir Pässe und Bergspitzen mit unaussprechlichen Namen, lehnten erschöpft an Gipfelkreuzen über wechselndem Karpatenpanorama und endeten abends in einfachen Speiselokalen, in denen wir zunächst grundsätzlich Schlange standen, irgendwann „platziert“ wurden und schließlich, so schien es mir, immer dasselbe Gericht bekamen: knedlíky, die böhmische Variante der Klöße, mit Bratenscheibe und brauner Soße. Und dann kam Wien…
Plötzlich K.-u.-k.-Herrlichkeit in Wien
Keine Wanderungen mehr! Schluss mit der sozialistischen Mimikry! Breites Wienerisch statt näselndem Sächsisch. Für den Zwölfjährigen, der ich war, betraten wir in Wien die Lichtseite der menschlichen Zivilisation. Der „Eiserne Vorhang“ lag wie durch ein Wunder hinter uns und verdeckte einen Teil der Welt, der mir dunkel und freudlos vorkam – das Naturspektakel der Karpaten erschien mir plötzlich so unwirklich wie eine Gaukelei.
Wir logierten im Hotel Prinz Eugen, das wie ein schillernder Tempel schieren Luxus‘ vor uns auftauchte. Verdreckt entstiegen wir dem Auto, eilfertige Pagen, die sich wahrscheinlich insgeheim die Nase zuhielten, ergriffen unser Gepäck, in der geräumigen Empfangshalle warfen Lüster ihr strahlendes Licht auf die edle Holzvertäfelung der Wände. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage wir dort verbrachten – nicht viele vermutlich – und warum mein Vater ausgerechnet dieses Hotel buchte – als vorsorgliche Kompensation für die Zumutungen der vorherigen Unterkunft? Entscheidend für mich war: Ich war in Wien, war gerettet!
Das Hotel gibt es immer noch. Natürlich waren wir da. Ich bin in der Zwischenzeit nicht jünger geworden und das Prinz Eugen definitiv auch nicht. Seine graue Fassade blickt auf eine verkehrsreiche Straße, gegenüber liegt der neue Wiener Hauptbahnhof, ragen Baukräne in die Luft. In der Lobby, die mir heute klein vorkommt, kramt eine Gruppe asiatischer Touristen in ihren Koffern, die Einrichtung sieht gediegen aus, im Fernsehen läuft ein Radrennen – von Luxus keine Spur. Trotzdem bin ich überwältigt, plötzlich wieder hier zu stehen.
Himmel und Hölle rund um den Stephansdom
Wir reisen im Nachtzug an und laufen frühmorgens in Wien ein. Es gibt keine bessere Art, sich einer Stadt zu nähern. Frühstück in einem kleinen Café in der Nähe unserer Unterkunft. Danach nehmen wir die Straßenbahn ins Zentrum und tun, was die meisten Touristen tun: Wir steigen auf den 136,7 Meter hohen Südturm des Stephansdoms, nach Ulmer Münster und Kölner Dom der dritthöchste Kirchturm Europas. Oben erwartet uns ein wolkenverhangener Himmel, aber der Blick über die Stadt ist eine gute Einstimmung.
Allerdings –welch Wunder – sind wir nicht die einzigen, die die Idee hatten, Wien zu besuchen. Vor der Hofburg, etwas mehr als einen Steinwurf vom Stephansdom entfernt, tritt mir eine asiatische Touristin auf die Füße, als sie im Rückwärtsgehen versucht, den gewaltigen Palast irgendwie auf dem Bildschirm ihres Smartphones unterzubringen. Sie entschuldigt sich nicht, sieht mich nur vorwurfsvoll an und eilt zu ihrer Gruppe. In der drückenden, schwülwarmen Luft gehen Touristen ihrer anstrengenden Besichtigungsarbeit nach, Fiaker stehen in Reih und Glied, die herausgeputzten Pferde lechzen nach Wasser.
Wir sind selbst reif fürs Café, aber nicht in diesem Rummel. Ein Tipp führt uns ins Bahnhofsviertel, vorbei am Schloss Belvedere – eine ziemliche Strecke. Der Weg wird zum Wettlauf mit dem aufziehenden Gewitter, den wir schließlich verlieren. Auf den letzten 100 Metern erwischt uns der Regen, kurz, aber heftig und mit fauchenden Böen. Zur Belohnung entpuppt sich das angepeilte Lokal als Lieblingsort, den wir immer wieder anlaufen: ein klassisches Wiener Kaffeehaus, originalgetreu saniert und ehemals ein Stammlokal von Eisenbahnern.
Wien mit Melange, Schlagobers und Eierschwammerln
Essen und Trinken in Wien ist ein zutiefst irdisches Vergnügen und eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt. Dabei gibt es einige Vokabeln zu lernen, allen voran das Wort Melange. Damit meinen die Wiener einen starken, mit geschäumter Milch versetzten Kaffee, der wahlweise mit einer Krone aus Schlagobers – Schlagsahne – daherkommt. Außerdem gibt es den Kleinen oder Großen Schwarzen – Mokka – und den Fiaker – einen Mokka im Glas statt in der Tasse –, der mit einem Schlag Sahne zum Einspänner wird.
Am Abend serviert uns ein gemütlicher Wirt in einem gemütlichen Lokal ein paar Straßen hinter der Votivkirche Eierschwammerl, vulgo Pfifferlinge. Die schmecken so gut, dass sie tags darauf in unserer leidlich ausgestatteten Ferienwohnung ebenfalls auf den Tisch kommen. Als wir sie auf dem Markt kaufen, versteht niemand Pfifferlinge – hier gibt’s nur Eierschwammerln. Tomaten heißen auch Paradeiser, Karfiol ist der Blumenkohl, Kren der Rettich, und was nicht mehr gut ist, kommt nicht in den Mülleimer, sondern in den Mistkübel.
Nächste Woche folgt der zweite Teil. Wir fahren Straßenbahn auf der Ringstraße, entdecken das „rote Wien“, besuchen Klimt und Schiele und kosten eine Wiener Spezialität – welche wohl?
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