In Wien ist es ein bisschen wie in Lissabon: Wenn du einen ersten Eindruck der Stadt erhalten willst, steig in die Straßenbahn. Anders als in Lissabon sind die einschlägigen Bahnlinien zum Glück noch nicht mit Touristen überfüllt, deshalb ist es nach wie vor ein guter Tipp, zum Beispiel die Linie 1 zu nehmen und auf der Ringstraße einmal rund um die Innenstadt zu fahren. Die Dichte an Prachtbauten ist rasant, und weil die alle so gewaltig groß und hoch sind, führt das ständige Halsrecken und Hochgucken leicht zu Genickstarre.
Pläne schmieden in der Straßenbahn
Das ist übrigens auch eine gute Methode, um einen Plan zu machen. Ohne den geht’s in Wien nicht, allein die Museen sind so zahlreich, dass wir uns entscheiden müssen, was wir weglassen und was nicht. Im Nachtzug – noch ein Grund, mit der Bahn anzureisen – haben wir uns schon ein bisschen orientiert, jetzt kommt die Feinabstimmung. Ein Highlight nach dem anderen rauscht am Fenster vorbei: die Wiener Staatsoper, Paläste und Kirchen in allen Stilrichtungen, dazwischen das Parlament als klassizistisches Zitat eines griechisch-römischen Tempels und gleich daneben das neogotische Rathaus in sommerlicher Volksfeststimmung. Im Volksgarten schräg gegenüber entdecken wir später sogar noch den Nachbau eines dorischen Tempels, als wäre das das Natürlichste der Welt.
Im Inneren dieser Prachtbauten geht es mit der Genickstarre gleich weiter. Das stellen wir spätestens fest, als wir den Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in der Hofburg betreten. 80 Meter lang, 20 Meter hoch, in den Regalen mehr als 200.000 Bände und drum herum kein Quadratzentimeter, der nicht opulent verziert wäre: In der größten Barock-Bibliothek Europas, so viel ist klar, wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Entsprechend ehrfürchtig bewegen sich die Besucher durch die Hallen, sprechen mit gedämpften Stimmen, als wären sie in einer Kirche.
Das Rote Wien
Nach dieser Luftschlacht der Architektur wird es wieder ganz irdisch. Eine Freundin gab uns den Tipp, den Karl-Marx-Hof im 19. Wiener Bezirk Döbling zu besuchen. Uns erwartet ein gewaltiger Baukomplex, gut gepflegt und immer noch bewohnt. Der Karl-Marx-Hof ist der bekannteste und zugleich am besten erreichbare Gemeindebau der Stadt. Seine Fertigstellung 1930 fiel noch in die Zeit, als in Wien die Sozialdemokratische Arbeiterpartei regierte. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen,“ soll der damalige Wiener Bürgermeister Karl Seitz bei der Eröffnung der Wohnanlage gesagt haben.
Mit seinen zuletzt fast 400 Gemeindebauten betrieb das sozialdemokratische „rote“ Wien eine für damalige Verhältnisse fortschrittliche Wohnungsbaupolitik mit dem Ziel, die Lebensumstände der unteren Einkommensklassen zu verbessern. Die 1.382 Wohnungen im Karl-Marx-Hof boten ihren Bewohnern ein eigenes WC und eine Waschmöglichkeit, manche verfügten sogar über Balkone und um die Gebäuderiegel herum gab es große Spiel- und Gartenflächen. Österreichs Diktator Dollfuß schlug hier im Februar 1934 einen Arbeiteraufstand gegen seinen „Ständestaat“ nieder. Heute gilt der sorgfältig sanierte Komplex als der längste zusammenhängende Wohnbau der Welt.
Kunst als Aushängeschild
Wien wäre nicht Wien ohne seine hochkarätigen Museen. Wir würden auch ins Burgtheater oder in die Staatsoper gehen, aber gerade sind Theaterferien. Ersatzweise frequentieren wir zwei Mal das Votivkino anno 1912 – es liegt gleich um die Ecke der Votivkirche – und entdecken damit en passant eines der ältesten noch bestehenden Wiener Kinos.
Unter den Museen haben wir uns für zwei entschieden. Der erste Gang führt in das Ausstellungshaus der Wiener Secession und damit ins Herz des Wiener Jugendstils. Die Besichtigung ist ein bisschen anstrengend, weil es sehr voll ist, aber es gelingt uns, einen Fuß in das Allerheiligste des außergewöhnlichen Gebäudes zu setzen: Gustav Klimts Beethovenfries tief unten in einem klimatisierten Kellerraum. Wir halten uns an das Fotografierverbot, aber 90 Prozent der übrigen Besucher tun das nicht. Entsprechend knipst und klickt es alle Nase lang, ohne dass die Museumswärter einschreiten – seltsam und auch ziemlich störend. Ein Besuch lohnt sich trotzdem. Allerdings droht auch hier wieder Genickstarre, weil der Fries hoch oben unter der Decke angebracht ist in Nachahmung der ursprünglichen Ausstellungssituation.
Eine Art Fortsetzung – jedenfalls in kunstgeschichtlicher Hinsicht – ist das Leopoldmuseum. Hier gibt’s noch mehr Klimt zu sehen, außerdem zahlreiche weitere namhafte Wiener und/oder österreichische Künstler sowie Kunsthandwerk und originales Mobiliar des Jugendstils und der Wiener Werkstätte. Vor allem aber ist hier die weltweit größte Sammlung von Werken Egon Schieles zu Hause. Das Museum geriet 1998 in die Schlagzeilen, als eines seiner Gemälde nach einer Ausstellung in New York als Beutekunst beschlagnahmt wurde. Heute hängt es wieder in Wien – gegen eine hohe Entschädigungszahlung an die Erben der ehemaligen Eigentümerin.
Kein Wien ohne Schnitzel
Schön an diesem Museumsbesuch sind nicht nur die Kunstwerke selbst, sondern auch die Blicke aus den großen Panoramafenstern. Geboten wird neben den üblichen Prunkbauten und Palästen auch viel Himmel mit dramatischem Wolkengetümmel und bühnenreifen Lichtspielen. Das sorgt für eine willkommene Abwechslung, außerdem können sich die Augen ausruhen und zugleich sattsehen an der sich ständig ändernden Wolken-Choreografie.
Apropos satt: Nach diesen Großereignissen am Wiener Kunsthimmel steht noch ein letzter Programmpunkt auf der Agenda. Wir haben immer noch kein Wiener Schnitzel gegessen. Das erledigen wir umgehend in einem Gartenlokal in Bahnhofsnähe. Das Abschiedsessen legt die nötige Basis für die Rückfahrt im Nachtzug, den wir gleich anschließend besteigen.
Hier geht’s zu Teil 1 der Wiengeschichte