Die Kanaren – nur Urlaub, Sonne, Strand?
Teneriffa, Gran Canaria, Lanzarote, Fuerteventura, La Gomera – das sind Namen, die für Urlaub, Sonne und Strand stehen wie die Queen für das Vereinigte Königreich. Die Briten waren in der Vergangenheit auch die größten Fans dieser „Trauminseln“, zahlenmäßig jedenfalls. Der Brexit und das sinkende Pfund haben sie etwas aus dem Tritt gebracht, weshalb jetzt die Deutschen die Spitze der Gästeliste übernommen haben.
15 Millionen Touristen besuchten 2016 die Kanaren. Das entspricht der Gesamtbevölkerung von Ländern wie Guatemala oder Senegal. 2017 dürfte die Zahl noch höher gelegen haben, weil der Konkurrent Türkei aus innenpolitischen Gründen schwächelte.
Der Besucherandrang könnte eine gute Nachricht sein – immerhin leben 60 Prozent der Kanaren direkt oder indirekt vom Fremdenverkehr. Aber die meisten leben schlecht davon. Während der Massentourismus boomt und die Inselregierung immer neuen Rekordzahlen hinterherjagt, steigt die Armut. So liegt die Arbeitslosenquote bei satten 20 Prozent, und das ist nicht einmal der höchste Wert der vergangenen Jahre. Bei den Unter-25-Jährigen sieht die Lage noch dramatischer aus: Mehr als die Hälfte von ihnen ist ohne Job.
Der Massentourismus macht die Kanaren arm
Es ist verrückt: Die Touristen schwärmen von den schönen Landschaften, es gibt Restaurants und Shops in Hülle und Fülle, und immer mehr auswärtige Besucher verlieben sich so sehr in die Kanaren und ihren ewigen Sommer, dass sie sich eine Ferienwohnung oder ein Haus kaufen. Genau da beginnt aber das Problem.
Denn für die Einheimischen wird Wohnraum immer knapper und teurer. Immobilien- und Baubranche freuen sich über das florierende Geschäft – auf Kosten einer immer krasseren Armut. „Wohnung für Wohnung“, stellt der TV-Bericht nüchtern fest, „verdrängt der Massentourismus die Inselbevölkerung“. Wer für den aktuellen Mindestlohn von rund 600 Euro rackert, kann sich die vielen neugebauten Häuser, Wohnungen und Appartments nicht leisten.
Einer, der die Armut täglich hautnah erlebt, ist Pastor Benjamin Bamba. In seiner Kirche in Santa Cruz auf Teneriffa verteilt er Lebensmittel an die Verlierer des Massentourismus. Das sind keineswegs nur Obdachlose – hier stehen auch Menschen Schlange, die einmal gut und regelmäßig verdienten, vielleicht ein Haus besaßen und Urlaubsreisen unternahmen. Umso heftiger ist der soziale Abstieg durch Jobverlust und Verschuldung. Auf den Kanaren kann das schnell passieren und betrifft viele, die sich das vor wenigen Jahren nicht hätten träumen lassen.
„Die meisten, die kommen, sind Familien“, sagt Benjamin Bemba. Aber auch immer mehr mittellose Rentner finden den Weg hierher. Ein Karton mit Lebensmitteln pro Monat steht jedem zu. Ausreichend ist das nicht, aber eine dringend benötigte Hilfe, gerade am Ende des Monats, wenn nicht mehr genug Geld da ist für Licht, Wasser, Miete, Essen und Kleidung.
Die Touristenzahlen steigen, aber die Löhne nicht
Massentourismus ist kostenintensiv – Gewinne erwirtschaftet nur, wer viel investiert und knapp kalkuliert. Entsprechend kassieren internationale Ketten den Löwenanteil der Einnahmen. Der einheimischen Bevölkerung bieten sie vor allem Arbeit im Niedriglohnsektor. Das ist in Europa nicht anders als in den Ländern des globalen Südens.
„Viele Zimmermädchen bekommen nur 600 bis 800 Euro im Monat“, erzählt die Hotelgewerkschafterin Gladys Medina dem WDR-Team. Teilzeitverträge über sechs oder sogar nur vier Stunden verschärfen die Armut auf den Kanaren noch. Kündigungsschutz oder sonstige Arbeitnehmerrechte? Fehlanzeige. „Wird eine schwanger, wird sie entlassen“, sagt Wendy, eine junge Frau, die als Zimmermädchen arbeitet.
Tourismus sei eben ein globaler Markt, verteidigt sich ein Hotelbesitzer und klagt über Billiglöhne in konkurrierenden Destinationen wie der Karabik, Malaysia oder Indien. Touristen entschieden oft nach dem Preis und hätten am liebsten alles inklusive. Deshalb könne er keine höheren Löhne zahlen, schließt er, während die Kamera den Rohbau seines neuen Luxushotels filmt.
Wenn das stimmt, hieße das: Massentourismus ist ohne Armut nicht zu haben.
Selbsthilfe-Projekte gegen die Armut
Besonders deprimierend wird es beim Thema Kreuzfahrten. Ein Taxifahrer auf Teneriffa berichtet dem Kamerateam, dass er nicht mehr auf das Hafengelände von Santa Cruz fahren darf, wenn dort Kreuzfahrtschiffe liegen. Warum? Die Reedereien haben exklusive Verträge mit Busunternehmern abgeschlossen. Die machen jetzt das Geschäft mit den Tagesausflügen. Die örtlichen Taxifahrer werden per Verbot ausgeschlossen.
Dass Kreuzfahrten nicht nachhaltig sind, ist lange bekannt. Trotzdem wächst die Branche rasant. Für die Kanaren bedeutet das, dass sie immer weniger abbekommen vom Kuchen des Massentourismus, dass sie immer mehr an die Seite gedrängt werden. Also müssen die Menschen Wege finden, um sich zu wehren und der Armut zu entkommen.
Jorge zum Beispiel hat sich mit seiner Freundin auf La Gomera auf eine kleine Finca zurückgezogen und versorgt sich selbst. Er will nicht weggehen wie die meisten seiner Freunde, die die Insel verlassen haben, weil es keine Perspektive für junge Leute gibt. Die Stiftung Obra Social auf Gran Canaria wiederum betreibt eine Landwirtschaftsinitiative und verschafft damit Obdachlosen Arbeit und Unterkunft. Eine benachbarte Bürgerinitiative gegen Zwangsräumungen bietet Beratung zu Kreditverträgen und Anwälten und ist zugleich ein Forum für den gegenseitigen Austausch.
Qualitätstourismus ist das Schlagwort für den Lehrer Ruben Martínez Carmona. Er will nicht länger zuschauen, wie der Massentourismus die Kanaren zerstört, und wünscht sich Besucher, die länger als einen Tag bleiben und die wirtschaftliche Entwicklung der Inseln stärken, indem sie zum Beispiel lokal produzierte Lebensmittel konsumieren.
Es muss etwas geschehen, so viel ist klar. Und es muss rasch passieren. Denn als Armenhaus machen die Kanaren für niemanden Sinn – auch nicht für Touristen.