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Ab aufs Land: Dorfkultur made in Portugal – Foto eines Olivenbaus mit der Überschrift: „Ideen säen auf fruchtbarem Land“

Ab aufs Land: Dorfkultur made in Portugal

Lissabon und die Algarve – mehr sehen Touristen meist nicht. Ein Dorfverbund im Zentrum von Portugal will Besucher jetzt aufs Land locken – mit nachhaltigem Tourismus und neuen Ideen zur Rettung der Dorfkultur. Lissabons Museu de Arte Popular zeigt, wie das geht.
Inhalt

Landflucht und Dorfkultur in Portugal

Unüberschaubare Weizenfelder, Sonnenblumen, Geröllhänge, strubbeliges blondes Gras, ab und zu eine flache Erhebung, die sich unter einen niedrigen, blassblauen Himmel duckt: Wer wie wir durch die spanische Meseta nach Portugal fährt, gerät in ein eigenes, seltsam erstarrtes Universum. Die gleichbleibende Landschaft – im Sommer flirrend heiß, im Winter beißend kalt – drückt auf das Gemüt und bietet dem Auge kaum Anhaltspunkte. Selbst die vielen verlassenen Dörfer und Gehöfte in verschiedenen Stadien des Verfalls scheinen sich endlos aneinander zu reihen und unterstreichen noch den Eindruck der Agonie.

Die Landflucht in Spanien ist groß. Sie begann schon in den 1950er Jahren und hat sich seither verstärkt. In Portugal ist das ähnlich. Im ländlichen Alentejo oder in den strukturschwachen Bergregionen des Nordens bietet das herkömmliche Leben auf dem Land keine Perspektive, die die Jungen halten würde. Sie wandern ab in die Städte oder gleich ins Ausland, um der immer noch nicht ausgestandenen Wirtschaftskrise zu entgehen. Traditionelle Dorfkultur? Wenn die Kinder fortziehen, hat sie keine Zukunft.

Überraschende Entdeckung in einem vergessenen Museum

Gähnende Leere im Museu de Arte Popular in Lissabon. Dabei liegt der Bau, eine Art Heimatmuseum für die verschiedenen Regionen in Portugal, an prominenter Stelle. Gleich nebenan erhebt sich das unsägliche Denkmal der Entdeckungen (Padrão dos Descobrimentos), ein von nationalem Pathos triefendes Ungetüm, das Portugals ewiger Diktator António de Oliveira Salazar 1960 zu Ehren des 500. Todestags von Heinrich dem Seefahrer aufstellen ließ. Kaum 500 Meter den Tejo flussabwärts liegt mit dem Torre de Belém eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Lissabons. Das Hieronymuskloster und die zu fast jeder Tageszeit von Touristen belagerte Bäckerei Pastéis de Belém sind auch nicht weit. In dieser Gegend von Lissabon herrscht eigentlich immer Betrieb, aber im Museu de Arte Popular sind wir die einzigen Besucher.

Das Heimatmuseum in Lissabon sammelt Artefakte der Dorfkultur.
Touristen lassen das Museu de Arte Popular in Lissabon meist links liegen. Das liegt auch am schlechten Marketing.

Drinnen erwartet uns eine Überraschung: Die Dauerausstellung ist wegen Renovierungsarbeiten gar nicht zu sehen. Stattdessen bieten uns die freundlichen Damen am Ticketschalter den Besuch der aktuellen Sonderausstellung an: „Agricultura Lusitana 2015-18 – Craft + Design + Identidade“. Es geht um Dorfkultur made in Portugal irgendwo auf dem Land, genauer in den Aldeias do Xisto (Schieferdörfern) im Zentrum Portugals. Aber wer soll sich das angucken, wenn schon das Museum niemand zur Notiz nimmt?

Es tut sich was auf dem Land

Das Verrückte ist: Kaum sind wir in der Ausstellung, sind wir schon gefesselt. Was sie von der regionalen Dorfkultur und dem Leben auf dem Land zeigt, ist alles andere als behäbig. Das liegt ganz wesentlich an den Gesichtern, die gleich am Anfang des Rundgangs klar machen, worum es hier geht: um Menschen, die diesen Teil von Portugal verkörpern und die – manche von ihnen Alteingesessene, manche Zugezogene – nicht dort leben, weil sie müssen, sondern weil sie sich dort wohlfühlen und gemeinsam etwas aus ihrer natürlichen Umgebung machen. Für diese Botschaft genügt den Ausstellungsmachern eine Fotowand mit Portraits, ein paar biografischen Angaben und dem Platon-Zitat „Nicht Steine machen Mauern stark, sondern Menschen“.

Plakat in der Ausstellung Dorfkultur in Portugal.
Eine Fotowand porträtiert Menschen, die in den Aldeias do Xisto leben. Sie sind die Akteure der Projekte, die die Ausstellung vorstellt.

Nachhaltigkeit und sanfter Tourismus

Überall auf der Welt gibt es Versuche, abgelegene Regionen ohne nennenswerte Wirtschaftsressourcen für Besucher attraktiv zu machen und so Einkommen zu schaffen. Die Aldeias do Xisto sind also kein Einzelfall. Sie haben – auch das ein bewährtes Rezept – aus ihrem Regionalverband eine Marke gemacht und setzen ganz auf Nachhaltigkeit und sanften Tourismus. Dafür haben sie sich Hilfe von außen geholt: Studenten von neun Design-Schulen aus ganz Portugal sind zu ihnen aufs Land gereist. Sie haben sich einzelne Dörfer angeschaut und gemeinsam mit den Bewohnern überlegt, welche natürlichen, kulturellen oder touristischen Vorzüge jeder Ort bietet. Daraus ist eine Reihe von Projekten entstanden, die diese Vorzüge als Teil einer lebendigen Dorfkultur aufgreifen. Eine Auswahl davon stellt die Ausstellung vor.

Das erste Projekt ist ganz untouristisch, greift aber ein Problem auf, das das ganze Land massiv bedroht: die sommerlichen Waldbrände. Die Lösung ist die Einrichtung einer Schutzzone um jedes Dorf: Alle Bewohner mit Landbesitz einigen sich darauf, im Umkreis von 100 Metern nur noch heimische Bäume zu pflanzen, die nicht so leicht Feuer fangen. Das heißt vor allem: keine Eukalyptusbäume! Die stehen nämlich mittlerweile überall in Portugal, weil sie schnell wachsen. Mit ihrem Holz lässt sich gutes Geld machen. Der Nachteil: Sie saufen viel Grundwasser und geraten schnell in Brand. Weil es in Portugal kaum staatliche Forste gibt, fehlt jede Kontrolle über den Baumbestand – die Landbesitzer pflanzen, was sie wollen. Die selbstbestimmte dörfliche Schutzzone der Aldeias do Xisto hält dagegen. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Regulierung der Wälder und wird mittlerweile vielerorts kopiert.

Kinder als wichtige Protagonisten der Dorfkultur.
Prävention gegen die immer schlimmer wütenden Waldbrände: Alle machen mit, wenn es darum geht, das Dorf durch einen Gürtel aus feuerresistentem Baumbewuchs zu schützen.

Gute Ideen für ein anderes Portugal-Erlebnis

Andere Dörfer setzen auf internationale Partner wie die Starlight Foundation. Sie zertifiziert weltweit Orte, von denen aus sich der Sternenhimmel besonders gut beobachten lässt. Die von Mittelgebirgen umgebene Region der Aldeias do Xisto ist dafür besonders gut geeignet, weil so gut wie keine Lichtverschmutzung aufweist. Hier wird Abgelegenheit zur Stärke – genau darum geht es bei der Neuerfindung der Dorfkultur.

Auf Naturtouristen zielt die Entwicklung der Region zur Fahrraddestination. Dafür haben sich einige Dörfer die Universität von Aveiro und den portugiesischen Fahrradhersteller Órbita ins Boot geholt. Radrouten und die Einrichtung von Übernachtungsmöglichkeiten und Versorgungsstationen sind ein Schwerpunkt der Initiative. Der andere Schwerpunkt geht noch deutlich weiter: Im Auftrag der Aldeias do Xisto hat Órbita ein exklusives E-Bike entworfen, das Touristen sowohl für längere Touren als auch für Kurztrips und Geländefahrten einsetzen können. Daran zeigt sich die Tragweite der Projekte – keine Spur von provinzieller Verschlafenheit, die Gemeinden auf dem Land oft nachgesagt wird.

Plakat mit Fahrrädern made in Portugal.
Ein Rad für alle Fälle: das E-Bike aus portugiesischer Produktion, das für die Aldeias do Xisto maßgeschneidert wurde

Revival der Dorfkultur

Traditionelle Dorfkultur hat viel mit Handwerk zu tun, und die Wiederentdeckung alter Handwerkstechniken zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Die präsentiert gleich eine ganze Reihe von Beispielen, wie aus Handwerk Kunsthandwerk wird – von traditionell inspiriertem Keramikdesign bis zu handgewebten Decken und Teppichen. In diese Kategorie gehören auch die Bänke aus Kastanienholz, die auf dem Land gebräuchlichen Vorbildern entsprechen. Auf ihrer Sitzfläche tragen sie jedoch lasergravierte Baummuster, kombiniert mit einem Sinnspruch von Friedensreich Hundertwasser: „Du bist ein Gast der Natur – verhalte dich entsprechend!“

Kunsthandwerk made in Portugal.
Traditionelles Handwerk und moderne Technologie: herkömmliche Holzschemel und -bänke mit Lasergravur

Der Satz könnte als Überschrift über dem gesamten zweiten Teil der Ausstellung stehen, der die Vereinigung von Naturprodukten und modernem Design feiert. Nicht alle Designentwürfe treffen meinen Geschmack, aber das ist Ansichtssache. Besonders überzeugt haben mich die Schuhe der „Seed Edition“. Sie kombinieren die Erlenholzsohle traditioneller Cloggs mit der einst ebenfalls alteingesessenen Leinenweberei. In der Holzsohle steckt zudem ein Olivenkern: Wenn der Schuh aufgetragen ist, kehrt er durch den gepflanzten Kern wieder in den Kreislauf der Natur zurück. Zudem besitzen Olivenbäume in Portugal eine lange Tradition und prägen die Dorfkultur in vielen Teilen des Landes.

Holzschuhe aus Olivenholz gehören zur portugiesischen Dorfkultur.
Diese Cloggs haben eine lange Tradition. Heute werden sie wieder hergestellt. In ihrer Holzsohle tragen sie einen Olivenkern, damit sie neues Leben spenden können, wenn der Verschleiß sie unbrauchbar macht.

Viel Potential, wenig Marketing

Buchungsplattformen wie Airbnb werben heute mit individuellen Entdeckungen an authentischen Orten. Oft können sie nicht halten, was sie versprechen. Ihre Stärke liegt darin, dass sie scheinbar einzigartige Reiseerlebnisse digital zugänglich machen und dadurch ein Massenpublikum erreichen.

Ein solches Massenpublikum ist den Aldeias do Xisto nicht zu wünschen, eine bessere Sichtbarkeit schon. Auf den Internetseiten des offiziellen Tourismusportals visitportugal.com sind die Dörfer aus Schiefer zwar zu finden, doch man muss sie suchen. Da passt das lahme Marketing für die Ausstellung im Museo de Arte Popular gut ins Bild.

Dabei hätte auch das Museum selbst mehr Aufmerksamkeit verdient. Es ist eines der architektonischen Überbleibsel der großangelegten Ausstellung, mit der Diktator Salazar 1940 die Errungenschaften des portugiesischen Kolonialreiches feierte. Schon damals übernahm der Bau die Aufgabe, das „volkstümliche Leben“ abzubilden. Das zeigt sich bis heute in den Wandmalereien, die sehr plakativ die einzelnen Regionen Portugals porträtieren. Dabei legen sie besonderen Wert auf die bäuerlichen Traditionen auf dem Land – romantisierte Dorfkultur im Dienste des Regimes. Heute firmiert das Museum als Zweigstelle des Staatlichen Ethnologiemuseums und führt ein Schattendasein mit ungewisser Zukunft. Schade um den historischen Bau und um die Aldeias do Xisto. Und höchste Zeit für die staatliche Tourismusorganisation, viel stärker auf Initiativen zu setzen, die Portugal-Erlebnisse jenseits des Mainstreams entwickeln und anbieten.

Wandgemälde aus dem Heimatmuseum in Lissabon.
Die Wanddekoration des Museums mit ihren volkstümlichen Themen transportiert die nationale Ideologie des Salazar-Regimes.

Info zur Dorfkultur made in Portugal

Die Aldeias do Xisto werden u. a. von der EU gefördert. Eine Buchungsseite zur Planung und Reservierung von Unterkünften, Erlebnissen und Restaurants existiert mittlerweile auch auf Deutsch. Ausführliche Informationen bietet die portugiesische Website der Aldeias do Xisto, auf der auch die Ausstellung im Museu de Arte Popular verlinkt ist. Die Ausstellung ist noch bis zum 23. Dezember zu sehen.