Zum Frühstück in die Planwirtschaft
Bevor die Deutsche Bahn die Nachtzüge endgültig streicht – ein Riesenfehler! –, nutzen wir die Gelegenheit, noch mal nach Dresden zu fahren. Aktueller Anlass: Die bezaubernde Nichte tanzt ihre Abschlussarbeit für die Palucca-Ballettschule in Hellerau. Palucca und Hellerau, das sind gleich zwei Dresdner Aushängeschilder, die viel über die Stadt erzählen. Aber wir sind im Dresden-idyllisch-Modus und haben uns vorgenommen, die Zeit plätschern zu lassen und das Besichtigen anderen zu überlassen.
Als wir morgens aus dem Zug steigen, ist die Luft kühl, den Himmel verhängen Wolken. Kann man sich eben nicht aussuchen, denken wir und nehmen die Tram in die Neustadt. Dort deponieren wir das bisschen Gepäck im Hotel und steuern schnurstracks die Planwirtschaft an. Bislang haben wir es nie geschafft, in diesem gut gebuchten Hinterhof-Hostel ein Zimmer zu ergattern, aber für ein Frühstück ist dort immer Platz. Das Buffet ist nicht spektakulär, aber lecker, das Ambiente unaufgeregt alternativ, die Bedienung Zen.
Nach der Nacht im Zug ist der Hunger groß, entsprechend ausgiebig ist dieser erste Programmpunkt. Währenddessen werkelt draußen ein Gärtner mit den Blumenkästen herum, taucht mal an diesem Fenster auf, mal an jenem und erhöht damit auf angenehme Weise das Gefühl, im Urlaub zu sein, ohne sich über so etwas wie Zeit Gedanken machen zu müssen. Wie es mit uns heute weitergeht, hängt von der bezaubernden Nichte ab, die schon am Vorabend Tanzprogramm hatte und spät ins Bett gekommen ist. Als sie schließlich auftaucht, fragt sie: Wart ihr eigentlich schon mal an den Elbschlössern?
Elbschlösser: Dresden idyllisch
Mittlerweile scheint die Sonne. Was klingt wie ein Tagesausflug, liegt nur ein paar Tramstationen entfernt. An der Haltestelle „Elbschlösser“ – man kann eigentlich nichts falsch machen – steigen wir aus, spazieren über die Straße und sind im Wald. Rechterhand auf einer Lichtung sitzt ein älterer Herr mit nacktem Oberkörper und liest Zeitung. Uns sind schon heute morgen die vielen Leute aufgefallen, die bei gefühlten 12 Grad in kurzen Ärmeln und Sandalen herumlaufen. Jetzt ist es deutlich wärmer, da fällt dann gleich auch das T-Shirt.
Wenige Augenblicke später taucht das erste Schloss auf: Türme, Brunnen, malerische Lage – Dresden idyllisch eben. Von der Terrasse aus haben wir einen Blick auf die Stadt wie beim Landeanflug, am Hang unter uns wachsen schüttere Reben. Hier residierten Prinzen und Barone, aber auch erfolgreiche Unternehmer wie der Hygiene-Papst Karl August Lingner, der der Welt nicht nur das Mundwasser Odol bescherte, sondern Dresden auch das wunderbare Hygiene-Museum hinterließ – übrigens ein heißer Tipp für graue Regenstunden. Knapp drei Jahre lang war im Lingner-Schloss Dresdens Welterbezentrum untergebracht – bis es aus war mit der Welterbeherrlichkeit.
Gleich links liegt schon das nächste Schloss, im Stil schottischer Burgen für einen Großkaufmann erbaut. Mittlerweile beherbergt es ein feines Hotel und stellt neugierigen Blicken allerlei Barrieren in den Weg. Diese Exklusivität setzt fort, was Fürsten und wohlhabende Bürger hier einst mit ihrem elitären Palastviertel begannen – man bleibt gerne unter sich.
Sehenswert ist das natürlich trotzdem, allein der Blicke auf Dresden wegen. Wir wundern uns, dass an einem Freitagnachmittag so wenig los ist. Liegt’s am Fußball? Heute Abend beginnt die Europameisterschaft, vielleicht bleiben da die Pauschalreisenden eher zu Hause. Auf den Waldwegen sind wir fast allein, die Sonne sprenkelt Schatten auf den Boden, eine Karte des Schlösserwaldes steht unbeachtet herum.
Am dritten und letzten Schloss ist immerhin eine Künstlergruppe unterwegs und übt sich im Zeichnen. Verschlossene Türen auch hier, aber wir sind gar nicht traurig darüber, zum Herumschlendern reicht uns auch die Außenansicht. Und während wir durchs Fenster einen Blick in den eleganten Gartensaal riskieren, blicken oben von der Dachtraufe klassizistische Nacktgestalten wohlwollend auf uns herab. Auf dem Rückweg zur Tram passieren wir einen Teich mit Seerosen und einer Entenfamilie – Dresden idyllisch mit allen Registern.
Jugend tanzt in Hellerau
Im Stadtteil Hellerau, etwas höher gelegen als das Stadtzentrum am Fluss, ist es gegen Abend wieder etwas kühler. Auch hierhin fährt eine Tram, die historische Gartenstadt anno 1909 – die erste in Deutschland – liegt verlockend in der Sonne und lädt zum Flanieren ein. Aber für uns steht Tanz auf dem Programm. Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine Tanzaufführung der Palucca-Schule sehen. Die hat nach Nazis und Realsozialisten auch die Wende überstanden und ist ein lebendiger Teil des Kulturlebens der Stadt.
Die, die heute Abend hier auftreten, sind ausnahmslos jung, talentiert und hoch motiviert. Was die insgesamt 15 Abschlussschüler der Tanzschule hier aufs Parkett legen, ist auch deshalb so berührend, weil sie ihre eigenen Choreografien vorführen. Die bezaubernde Nichte tanzt wie fast alle ein modernes Stück, ausdrucksstark und selbstbewusst, und als wir am Ende ganz beseelt aus dem Festspielhaus treten, flutet warmes Abendlicht über die Fassade. Dresden idyllisch – auch hier.
Wir stehen noch ein bisschen herum, Tänzer und Zuschauer, viele Angehörige sind da, eine Art Familientreffen mit lauter stolzen, gelösten Gesichtern. Für Hellerau bleibt keine Zeit mehr, aber das ist nicht schlimm, wir kommen bestimmt einmal wieder – selbst, wenn die bezaubernde Nichte schon längst weitergezogen ist.
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Ausklang in der Neustadt
Auf der Suche nach einem Restaurant bahnen wir uns den Weg durch ein sommerliches Freitagabend-Publikum. Überall auf den Bürgersteigen stehen Leute, sitzen auf dem Pflaster, trinken Bier oder Ähnliches, alle sehr jung, sehr alternativ, sehr entspannt und so ganz und gar anders als die verbohrte Montagsdemo-Klientel. Überhaupt widerspricht die Atmosphäre in der Neustadt dem Rassismus-Label, das Dresden heute oft anhängt. Hier geht es urban und offen zu, ein bisschen anarchisch, ziemlich bio-vegan, und die Graffiti lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auch das ist ein Spielart von Dresden idyllisch – und ein weiterer Grund, wiederzukommen.