Ausflug zum Kaiserstuhl
Kaiserstuhl. Komischer Name für so ein kleines hübsches Mittelgebirge. Aber für einen Norddeutschen klingt ja alles Hügelige, das keinen Deich beschreibt, verheißungsvoll exotisch. Während ich mich gedanklich mit Sauerstoffmaske, Bergstiefeln und Karabinern ausstatte, haben die Freunde für den gemeinsamen Ausflug nur ein wenig Obst eingepackt. Der Mann die Kamera. Der Rest findet sich ganz leger. Feines und üppiges Essen, fantastische Weine, museale Köstlichkeiten und allemannische Dialekte zum mitraten.
Angeblich geht der Name auf Otto II. zurück, der hier – noch vor seiner Krönung zum Kaiser, 994 einen Gerichtstag abhielt. Aus Königsstuhl wurde Kaiserstuhl. Mehr als 377m erhebt sich das lössbedeckte Vulkanplateau mit Mulde und Sedimentsockel nicht über Normalhöhennull. Und Erhebungen wie Totenkopf und Eichelspitze mit über 500m erklimmen wir heute nicht. Bleibt die Sauerstoffmaske dann doch im Auto.
Ausgangspunkt dieser Genuss- und Erkundungstour durch deutsch- französische Lande ist Freiburg, keine 20km vom Kaiserstuhl entfernt. Am westlichen Rand des Gebirges bei Vogtsburg kommt man durch Burkheim. Ich könnte schwören, wir sind hier schon in Frankreich. Allein die Farben der Häuser, die mit Schriftzügen verzierten Fassaden mit ihren Fensterläden und Blumen schicken einen gefühlt sofort in den Urlaub. In jedem Fall sind wir hier mitten in der größten Weinanbaugemeinde in ganz Baden-Württemberg. Sogar ein Korkenziehermuseum gibt es.
Die geneigte Leserschaft soll hier gar nicht groß mit geschichtlichen Ausführungen über kriegerisch territoriales Gezerre aufgehalten werden. Für diese Geschichte wichtig: Ein erfrischender Mix sprachlicher, kulinarischer und kultureller Hinterlassenschaften hat die Absurditäten dieses jahrhundertelangen Hin und Hers überlebt. Heureusement.
Und weil sich Breisach nach der schweren Zerstörung 1945 am 9. Juli 1950 mit mehr als 95% aller Wählerstimmen für ein einiges und freies Europa aussprach und sich seither „Europastadt“ nennt, steigen wir auch genau hier ein:
Europäisches Kunst-Gut zwischen Breisgau und Elsass
Auf halbem Weg zwischen Freiburg und Colmar liegt Breisach, oder auf alemannisch: Brisach am Rhi. Im Westbau des romanischen St. Stephansmünster begegnet man dem berühmten Kupferstecher und Maler Martin Schongauer (geboren 1445/1450 in Colmar, Elsass, gestorben 1491 in Breisach am Rhein) in Form monumentaler Gemälde. Auf der Suche nach der schönsten Aussicht spazieren wir die Reste der mittelalterlichen Befestigung hoch zum Hagenburgturm und flanieren an vielen charmanten kleinen Weinstuben vorbei. Gut dass es noch so früh ist, sonst könnte man hier gut versacken.
In Colmar lockt die Madonna im Rosenhag von Martin Schongauer gleich in die Dominikanerkirche. Die kommt, was Prunk und Bekanntheit angeht, gleich nach dem Martinsmünster. In einem leuchtend roten Kleid, das dramatisch eckige Falten wirft, hockt die Mutter Gottes mit dem Christuskind in einer Laube. Obwohl sich zwei Engel anschicken, ihr Haupt golden zu bekrönen, wirkt die Szene erstaunlich intim, fast leger. Kein Dia, keine Postkarte und keine noch so gute Reproduktion dieses Bildes vermag einen so rein zu saugen. Wie dieser zarte Pinselstrich, der sich zu einem Rausch von Farben verdichtet, durch die das Holz noch atmet. Lang lebe das Original – auch und gerade im Zeitalter nach dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (Gruß an Walter Benjamin!).
Noch ganz benommen landen wir im Musée Unterlinden. Der Isenheimer Altar, das Hauptwerk von Matthias Grünewald, entstanden vermutlich 1506-1515, ist einfach unglaublich. Und in einem Raum mit hohem Gewölbe so feierlich lässig präsentiert, dass man die einzelnen Altarteile mit seinen Schauseiten, Rückseiten und Sockelgemälden in Ruhe betrachten kann. Die Museumsarchitektur von Jacques Herzog und Pierre de Meuron gefällt, ohne gefällig zu sein. Keckes Understatement kann man also bauen, neu und alt geschickt harmonisieren. Eine schöne Entdeckung. Und in jedem Fall ein Besuch, der nach Wiederholung ruft. Vielleicht schon zur Otto Dix-Ausstellung, die anlässlich seines 125. Geburtstags und zum 500-jährigen Jubiläum des Altars ab Herbst 2016 hier stattfindet.
In Straßburg erwartet uns mehr Kunst und Kultur. Klar, die Innenstadt ist nicht der Champs Elysée, aber irgendwie scheint mir dies gerade so viel mehr Frankreich zu sein als Paris. Auf einer Flussfahrt rund um die historische Altstadt in einem überdachten Batorama-Boot mit ausgeleierten Plastiksitzen passieren wir einmal alles. Besonders eindrücklich „Petite France“ mit dem „Maison des Tanneurs“ und das EU Parlament mit dem TV Sender Arte in unmittelbarer Nachbarschaft. Für alle, die erstmals in Strasbourg sind, bietet diese Bootsfahrt eine schöne Orientierung für alle weiteren Spaziergänge.
Die Innenstadt, eine kleine Insel, ist innerhalb von 20 Minuten durchquert. Flaneure bummeln entlang malerischer Fassaden, einladende Weinstuben und Geschäfte durch sanft geschwungene Gässchen. Wer eine Uhr trägt, vergisst das jetzt. Denn die teils jugendlich leuchtende, teils abgehangene Schönheit, das Nebeneinander architektonischer Epochen erzählt eine in ihrer Komplexität und Beispielhaftigkeit zeitlose Geschichte. Erst die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen, die seit den jüngsten Attentaten in Paris und Brüssel auch jenseits des Europäischen Viertels sehr präsent sind, erinnern uns an gruselige Geschichten über Macht, Angst und moderne Glaubenskriege, die im Europa der aktuellen Stunde auch geschrieben werden.
Gegenüber des Hauptbahnhofs spannt sich ein Halbkreis von Hotels auf. In einem davon stehen wir auf dem Balkon und schauen auf den beleuchteten Place Kléber, der im Dunkeln deutlich größer wirkt als er ist. Ich persönlich fand es angenehm im Grand Hotel. Abgesehen davon, dass die Unterkünfte zum Beispiel in Petite France mindestens doppelt so teuer sind. Geld, dass wir lieber für Kunst und Käse ausgeben. Und für Wein.
Kulinarische Freuden im Herzen Europas
Für alle, die gern essen, sind das Elsass und der Breisgau der Himmel auf Erden. Das deutsche Sauerkraut begegnet einem hier als deftiges Choucroute mit Fleisch oder als raffinierte Variante mit Fisch und einer Beurre Blanc. Flammkuchen wird hier rund um die Uhr gegessen und steht in jeder Lokalität auf jeder Karte. Da der Teig deutlich dünner ist als bei der deutschen Schwester, dem Zwiebelkuchen, und die Saure Sahne zudem ohne Ei auf den Teig kommt, ist für eine zarte Tarte flambé auch immer Platz im nach nur zwei Tagen schon auf größere Mengen trainierten Magen.
Auf der anderen Seite des Rheins begegnen wir dem entzückenden Käse und Weinfetisch der Franzosen wieder, der in einer extremen Ausprägung auch vor der umstrittenen Spezialität Foie Gras nicht Halt macht. Ich halte mich an den würzigen Münsterkäse, eine elsässische Spezialität aus dem Vallée de Munster (Hochvogesen), an der man im Umkreis von 100km ohnehin kaum vorbei kommt, und der von Freiburg bis Colmar gern mit viel Kümmel und Frommage blanc, einer Art Kräuterquark, zum hellen Krustenbrot serviert wird.
In dieser Gegend beginne ich sogar die kuriose Aufregung um Macarons oder eben Makrönchen zu verstehen, die mir sonst in ihrer bunten Fluffigkeit relativ gleichgültig sind. Ganz Verrückte begeben sich hier sogar auf eine Tour des macarons durch die zahllosen Patisserien. Soweit gehe ich dann doch nicht.
Alles alemannisch, oder was?
Viel lieber möchte ich den Turm des Straßburger Münsters besteigen, solange ich noch durch den schmalen Aufgang passe. Der Baumeister des Freiburger Münsters ist, wie wir erfahren der gleiche wie in Straßburg. Erzählt wird uns die Geschichte in einer westoberdeutschen Mundart, die ich unmöglich genauer bezeichnen kann. Alemannische Klänge finden sich angrenzend ans Fränkische und an Baierische, ans Bündnerdeutsche, Italienische und Französische. Wer sich in die Straßburger Variante des Elsässischen reinhören will, der schaltet den Audioguide auf der Batorama-Touristen-Bootstour einfach auf Kanal 17.
So lebt das eine im anderen, gehen die Sprachen ineinander über, mäandern Flüsse unbeeindruckt über Grenzen und verbindet diese Region Kleines mit Großem und zeitgenössische Leichtigkeit und historischem Schwergewicht. Hier möchte und werde ich, mit einer Faustvoll Deichsode im dann noch viel leichteren Gepäck, zu meiner großen Freude gleich diesen Sommer schon wieder sein. C’est formidable, n’est pas?
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Service
Wer ganz genau wissen will, wie das mit der EWG, der EG und der EU so war und ist, kann den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Netz einsehen.
Für alle Bürger, die sich mal ein bisschen informieren und mitglotzen wollen, gibt es Europarl TV, der Internetfernsehkanal des Europäischen Parlaments.
Zwei meiner Lieblingsautoren, Robert Menasse und Roger Willemsen, sind ihrer Faszination für Europa literarisch nachgegangen:
Robert Menasses inhaltliches dichtes und in der Form schlankes Essay „Der europäische Landbote“ spielt in Brüssel und lotet in hohem Erzähltempo „Die Wut der Bürger und der den Frieden Europas“ aus, jenseits von Klischees.
In „Das hohe Haus“ lässt der außergewöhnliche und viel zu früh verstorbene Roger Willemsen seine Leser daran teilhaben, wie er es erlebt hat, als normaler Zuhörer „Ein Jahr im Parlament“ zu sitzen und jede einzelne (!) Sitzungswoche zu verfolgen.
Zum „Isenheimer Altar“ und auch zur „Madonna im Rosenhag“ gibt es regalmeterweise Literatur. Wenn ihr kunsthistorisch interessiert seid, habt ihr die wichtigsten Publikationen sicher alle schon gelesen, ansonsten einfach selber gucken.
Fotos Breisach und Colmar sowie Strasbourg, Maison des Tanneurs: Prof. Frank Ringwald