Der Rhein und das Siebengebirge
Bequemer geht es nicht. Jede Stunde fährt die Mittelrheinbahn von Köln nach Rolandseck. Dort steht seit 1858 ein bildschöner Bahnhof und blickt über den Rhein auf das Siebengebirge. Jetzt hat dort die Kunst Platz genommen – in Form des spektakulären Arp-Museums.
Das sehen wir allerdings erst gar nicht. Wir sehen das Bahnhofsgebäude von hinten – da, wo die Gleise am Fuß eines üppig bewaldeten Hangs verlaufen. Als wir um den Bau herumgehen, finden wir uns auf einer Art Bühne wieder. Über uns ranken sich schmiedeeiserne Arkaden, dahinter öffnet sich das Rheintal bis zur blaugrünen Silhouette jener Berge, deren Anblick Alexander von Humboldt als eine der sieben schönsten Ansichten der Welt katalogisierte.
Dem sonnengebräunten Gesicht heutiger Fernreisender mit ihrem suchsensorgeschulten Blick entlockt das wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln, aber erstens haben die meisten von ihnen wahrscheinlich noch nie das Siebengebirge gesehen und zweitens sind touristische Superlative wie der Zuckerhut von Rio oder die Yangtse-Schlucht in China nicht in einer halben Stunde zu erreichen, schon gar nicht mit dem Zug. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass der alte Goethe mit seiner Weisheit – „sieh, das Gute liegt so nah“ – recht behält.
Wo ist bloß das Arp-Museum
Jetzt aber genug von den Klassikern und auf ins Arp-Museum. Vom Rheinufer aus zieht zuerst der prächtig restaurierte Bahnhof alle Blicke auf sich. Schon 1964 sollte er ausrangiert und abgerissen werden, doch machte ihn der umtriebige Bonner Galerist Johannes Wasmuth kurzerhand zum „Kulturbahnhof“ – mit Konzerten, Ausstellungen und Lesungen. Ihm ist auch die Idee zu verdanken, hier Werke von Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp auszustellen. Im September 2007, zehn Jahre nach Wasmuths Tod, feierte das Arp-Museum Bahnhof Rolandseck offiziell Eröffnung.
Aber wo ist es? Im Bahnhof, der vor allem als Entree funktioniert und nur begrenzt Platz für Ausstellungen bietet, irren wir zunächst etwas orientierungslos umher – die Beschilderung ist nicht besonders glücklich – und landen im wunderbar restaurierten Festsaal.
Erst im zweiten Anlauf trauen wir uns durch den langen Gang, der keine Ähnlichkeit mit einer Bahnunterführung hat, aber genau das ist. An der Wand steht, passend zum Dada-Jahr, ein Arp-Zitat: „Dada hat Schwingen, die gewaltiger als 100 Urwälder sind“. Doch erst mal gibt’s kein Dada, sondern „Menschenskinder“.
Anfassen erlaubt
Menschenskinder heißt die Sonderausstellung aus der Kunstsammlung Rau, die ebenso zum Arp-Museum gehört wie die Werke von Arp selbst. Die Sonderschau, die noch bis zum 16. Oktober zu sehen ist, dreht sich um Kinder und Kindheit vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Dabei kombiniert sie historische Gemälde mit zeitgenössischen Fotografien, zeigt herausgeputzte Kinder und verängstigte, den „Clown im grünen Kostüm“ von August Macke und das Mädchen im syrischen Bürgerkrieg.
Dazwischen gibt es immer wieder Stationen zum Anfassen und Ausprobieren: alte Schulbücher in einem Ledertornister, Schubladen voller Fundstücke, ein klassischer Schminktisch mit einer Barbie-Puppe, der Ärzte aufgrund ihrer absurd idealisierten Körperformen ein verheerendes Gesundheitszeugnis ausstellen – von Arthrose bis Unfruchtbarkeit.
An einer Gesundheitsstation drückt mir mein Sohn plötzlich das Bruststück eines Stethoskops auf die Herzgegend und hantiert mit Armprothesen herum. Ein digitales Blutdruckgerät drückt den Arm zusammen – „Papa, wie macht man das wieder aus?!“ – und ein Set von Brillen simuliert fiese Augenkrankheiten.
Fahrstuhl ins Licht
Der weitere Rundgang durchs Arp-Museum ist eine Art Metamorphose. Über eine große Glaswand springt wuchernde Natur ins Blickfeld, danach führt ein Tunnel samt Neonhelix in einen schwindelerregenden Schacht, den ein verglaster Fahrstuhl lautlos gleitend erklimmt – aus der Dunkelheit ans Licht.
Oben herrscht eine Leichtigkeit, die viel mit Blickachsen und der Farbe Weiß zu tun hat. Die Sammlung Arp steht in diesem Jahr ganz im Zeichen des 100-jährigen Dada-Jubiläums. Zitate, Tonaufnahmen und Filme dokumentieren unter anderem die Bedeutung der Sprache für diese erstaunliche Kunstbewegung. „Bevor Dada da war, war Dada da.“ Das macht Spaß.
Spaß macht auch, wie präsent die ausgestellten Objekte – neben Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp derzeit auch Skulpturen von Barbara Hepworth – in der Architektur wirken. Das schließt die reizvolle Wechselwirkung von Werken und Besuchern mit ein, die manchmal in- und übereinander geblendet werden und Arps organische Formensprache buchstäblich in ein neues Licht rücken.
Jede Menge Terrassen
Der Museumsneubau, in dem das passiert und den der amerikanische Architekt Richard Meier in die Hänge des Rheintals gesetzt hat, schwebt 40 Meter über dem Bahnhof Rolandseck. Weiß und kantig setzt er einen deutlichen Akzent zum umgebenden Grün, öffnet sich aber zugleich nach allen Seiten und ist daher alles andere als ein Fremdkörper.
Überall blickt die Außenwelt ins Arp-Museum hinein. Beim Verlassen des Aufzugs steht oben der Himmel in einem augenförmigen Fenster, Licht, Luft und Weite sind tragende Elemente der Architektur. Im Treppenhaus gehen Außen und Innen derart ineinander über, dass jeder Treppenabsatz zu einer Art Terrasse wird.
Echte Terrassen gibt es auch, und davon gleich mehrere. Während andere Museen nur einen Ein- und Ausgang besitzen und die Außenwelt weitgehend ausblenden, führen hier immer wieder Türen ins Freie. Das ist kein Selbstzweck: Es geht nicht in erster Linie darum, das Gebäude in Szene zu setzen, sondern die Umgebung. Das fühlt sich an wie das Panorama auf einem Berggipfel oder der Blick von einem Ozeanriesen beim Anlegen an einer waldgrünen Insel. Und wer nach dem Museumsrundgang hungrig ist, verlängert dieses Blickerlebnis einfach beim Essen auf der umwerfenden Veranda des Museumsbistros unten im Bahnhofsgebäude.