Auf den Spuren von Karl May
Ende März 2015 machen wir uns auf den Weg auf den Spuren von Karl May ins wilde Kurdistan. Unsere kleine Reisegruppe besteht aus meinen Eltern, meiner Schwester und ihrer Familie. Schon bei der Ankunft in Diyarbakir fühle ich mich in eine vergangene Zeit versetzt. Wir reisen zwar nicht zu Pferde sondern ganz zeitgemäß mit dem Flugzeug an und doch kann die moderne Technik nicht verheimlichen, dass dieser Ort – eigentlich die gesamte Gegend – kulturhistorisch etwas ganz Besonderes ist. Vieles von dem, was vor über 1.000 Jahren erbaut wurde, haben wir noch in seiner ganzen Pracht gesehen.
Würde man heute, im Mai 2016, eine ähnliche Route nehmen, sähe man eine Schneise der Verwüstung. Die gut erhaltenen Häuser der Altstadt von Diyarbakir mit ihren vielen kleinen Gassen wurden z.B. großflächig abgerissen und abgetragen, um Platz zu machen für das Militär und seine Panzerfahrzeuge.
Die Folgen des gekündigten Waffenstillstandes zwischen dem türkischen Militär und den kurdischen Freiheitskämpfern sind heute bereits so gravierend, dass es für mich nicht nachvollziehbar ist, dass das politische Europa sich dazu nicht weiter äußert. Aber genug davon. Springen wir zurück ins Frühjahr 2015.
Diyarbakir ist die Hauptstadt der Kurden
Diyarbakir ist mit seinen geschätzt etwa einer Million Einwohnern die zweitgrößte Stadt Südostanatoliens und gilt als Hauptstadt der Kurden. Die Stadt besitzt durch ihre reiche Geschichte eine Vielzahl an Gebäuden wie Kirchen, Moscheen, mittelalterliche Häuser und Befestigungsanlagen. Schon am Flughafengebäude wird man mit einem „Willkommen in Amed“, dem kurdischen Namen Diyarbakirs, begrüßt. Der antike Name der Stadt erscheint erstmals in assyrischen Geschichtsquellen aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. Noch vor Jahren war es strengstens verboten, kurdisch überhaupt zu sprechen, geschweige denn die alten Namen zu verwenden. Der Stolz der Kurden, ihre Kultur wieder offen und vor allem unbeschadet leben zu können, ist in meinen Augen daher nur nachvollziehbar.
Geografisch liegt Diyarbakir auf einem Basaltplateau am Tigrisufer. Eine der größten und besterhaltenen antiken Befestigungsanlagen der Welt umgibt die Altstadt von Diyarbakir fast vollständig und besteht zum größten Teil aus Basalt. Die Mauer ist insgesamt etwa fünf Kilometer lang, hat eine Höhe von zehn bis zwölf Metern und eine Dicke von drei bis fünf Metern. Sie hat 82 Türme und vier Tore. Die Tore zeigen in die vier Himmelsrichtungen. Seit 2015 wurden die Befestigungsanlagen von Diyarbakır zusammen mit den Hevsel-Gärten, die zwischen der Altstadt und dem Tigris liegen, von der UNESCO in die Liste der Kulturwelterbe aufgenommen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Bereich nicht zerstört werden.
Im Mittelpunkt der Altstadt steht die Große Moschee. Einst als christliche Kirche erbaut, wurde sie im Jahr 639 in eine Moschee umgewandelt. Damit ist sie eines der ältesten moslemischen Gebetshäuser der Türkei. Trotz eines Erdbebens mit darauf folgender Brandkatastrophe im Jahr 1115 und weiteren Umbauten sind noch viele historische Stücke zu entdecken. So zum Beispiel das Relief am Hauptportal, das einen Löwen zeigt, der ein Rind anfällt. Besonders ist auch das Minarett. Die typische Säulenform erhält es erst im oberen Bereich, da wo es aus dem ehemaligen Glockenturm herauswächst. Im Säulenhof stehen zwei spitz überdachte Waschbrunnen. Der Zugang zum Betsaal ist nur den Männern erlaubt. Mein Vater traute sich ein paar Meter hinein und fand vor allem die Decke sehr beeindruckend.
In und um das Basar-Gebäude herum befinden sich unzählige Geschäfte. Wie so häufig in südlichen Regionen fällt auch hier auf, dass die Läden eher klein sind und sich jeweils auf einen Produkt-Bereich spezialisiert haben. Dieses so typische Geschäftsprinzip verliert sich aber, sobald man sich aus der Innenstadt entfernt. Da Diyarbakir seit einigen Jahren immer stärkeren Zuzug erfährt, sind an den Rändern große Neubaugebiete entstanden, die sich mit ihren Einkaufstempeln nicht wesentlich von unseren Einkaufzentren unterscheiden. Schön ist das nicht unbedingt.
Ebenfalls sehenswert ist die Mutter-Gottes-Kirche in Diyarbakirs Altstadt, die im Kern aus dem späten 5. Jahrhundert stammt und von außen recht unscheinbar wirkt. Die Kirchen, die ich aus Europa kenne, stehen meist separat und erhaben, so dass man sie nicht übersehen kann. Dieser Bau hat keine hohe Gewölbedecke sondern eine einfache, niedrige Holzbalkendecke, die dem Raum eher etwas Höhlenartiges gibt. Von außen fällt nur spärlich Licht ein, so dass die Wirkung der Kerzen eine feierliche Stimmung verbreitet.
Sanliurfa, die Perle Südostanatoliens
Sanliurfa, oder einfach Urfa genannt, gilt als Geburtsort Abrahams und Hiobs und ist deshalb nach Mekka, Medina, Jerusalem und Alexandria das wichtigste Pilgerzentrum des Islam. Die Nähe zu Syrien hat Urfa zu einem Treffpunkt für IS-Anhänger aus Europa gemacht, die von dort in ihr neues Leben starten. Außerdem finden unmittelbar im Grenzgebiet zu Syrien immer wieder Kampfhandlungen zwischen der türkischen Armee und syrischen Kräften statt.
Mit diesem aus dem Fernsehen erworbenen Wissen im Hinterkopf erwartete ich bei der Ankunft in Urfa irgendetwas Besonderes. Aber bis auf den Benzinklau auf dem geschützten Parkplatz passierte nichts Außergewöhnliches. Wir wurden mit dem Ruf des Muezzin begrüßt und um uns herum strömten vor allem Männer in die Höfe der Moscheen, um nach dem rituellen Fußbad mit dem Gebet zu beginnen.
Urfa entstand vermutlich 2.000 v. Chr. und stellt einen Kreuzungspunkt alter Handelsstraßen dar. Die Ost-West-Verbindung verlief von Persien über die Euphratfurt bei Samsat bis zur Mittelmeerküste. Die Nord-Süd-Verbindung beginnt im anatolischen Hochland und führt nach Syrien. Um den großen Basar zu besuchen, muss man sich zunächst durch die vielen kleinen Gassen von Urfa schlagen, was schon ein kleines Abenteuer ist. Wie in Diyarbakir sind die Bewohner aber äußerst freundlich und so schaffen wir es mit deren Hilfe auch ans Ziel.
Der Basar von Urfa
Der Basar von Urfa ist in verschiedene Passagen unterteilt und gilt nach Aleppo als der zweitgrößte Basar des Vorderen Orients. Unter anderem befinden sich hier 30 Läden der verschiedenen Händlerzünfte, die ihre traditionellen Fähigkeiten wie z.B Tuchmachen, Kupferschmiede und Schreinerei zur Schau stellen.
Zur Stärkung in den Gümrük Hani
Nach dem Besuch des Basars mit seinen unzähligen Gängen, die thematisch sortiert ihre Waren anbieten, haben wir uns eine Pause verdient. Ähnlich wie in Diyarbakir befindet sich auch in Sanliurfa unmittelbar im Basar ein schöner Innenhof, in dem Tee und Kaffee angeboten wird. Wir probieren den Pistazienkaffee, der zwar recht süß aber auch sehr köstlich schmeckt. Zwei Kinder gehen von Platz zu Platz und bieten Sesamkringel zum Kauf an. Uns beeindruckt, wie sie die Kringel auf einem riesigen Tablett gestapelt haben und auf ihren Köpfen balancieren.
Unweit des Basars liegt die Festung von Urfa auf einem Hügel. Wir waren leider an einem Montag ist der Stadt und mussten daher beim Aufstieg auf den Hügel feststellen, dass die Festung an diesem Tag geschlossen ist. Außer den Befestigungsmauern sind jedoch nur noch zwei monumentale Säulen aus dem 3. Jahrhundert erhalten, so dass eine Besichtigung vielleicht gar nicht spannend geworden wäre. Wir nutzten die freie Zeit, um durch den Dank der vielen Bäume Schatten spendenden Gölbasi-Garten zu wandeln.
Unmittelbar an den Garten grenzt der Fischteich Balikligöl, einer der wichtigsten religiösen und heiligen Stätten Urfas. Der Legende nach soll hier der Prophet Abraham in einen Scheiterhaufen geworfen worden sein. Vor dem Feuertod gerettet wurde er von Gott, der das Feuer in einen Teich und die brennenden Holzscheite in Fische verwandelt hat. Die Fische im Teich gelten daher heute als heilig. Bei einem Spaziergang ist es üblich, die Fische zu füttern, sie zu fangen oder zu essen ist jedoch streng verboten.
Mardin. Eine Stadt wie ein Berg
Weiter geht es in Mardin. Die Stadt ist berühmt für seine traditionelle Architektur und hofft daher auf eine Anerkennung als Unesco-Weltkulturerbe. Die in den Berghang gehauenen Steinhäuser verfügen jeweils über eigene Brunnen und viele Treppen und Verbindungsgänge, so genannte Abbaras, die sich wohl nur für den Einheimischen wirklich erschließen. Wir bleiben bei unserem Rundgang also auf den offensichtlichen Wegen und entdecken auch dort viele mit Ornamenten geschmückte Torbögen. Auf das für die Türkei sonst so typische Bunte, Laute und Kitschige wird weitestgehend verzichtet.
Auf dem Berg, einem Ausläufer des Kalksteingebirges Tur Abdin, befindet sich in tausend Meter Höhe eine alte Burg mit Moschee, die jedoch nicht besichtigt werden kann, weil sie lange vom Militär genutzt wurde. Kürzlich soll aber mit der Restaurierung begonnen worden sein. Das lässt vermuten, dass die Burg zukünftig öffentlich zugänglich sein soll.
Mardin lag an der historischen Seidenstrasse. Hier kreuzten sich die Strassen vom Mittelmeer nach Mesopotamien und vom Schwarzen Meer nach Syrien. Das weite Umland versorgte die Stadt mit Früchten und Getreide.
Wie es der Zufall auf dieser Reise so will, spricht uns ein junger Mann an und fragt, ob wir eine Kirche besichtigen wollen. Haben wir in den ersten Tagen auf solche Angebote noch misstrauisch und abwehrend reagiert, freuen wir uns dieses Mal direkt über das Angebot und folgen ihm durch einen unauffälligen Türbogen in einen kleinen Hof. Von dort geht es weiter in das alte Kreuzgewölbe. Wieder einmal sieht man dem Gebäude das Alter nur an der massiven Bauweise an. Der Schmuck ist recht reduziert.
Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, dass hinter diesen alten Mauern so viel Unrecht und Leid stattgefunden hat. Genau an dieser Stelle wurden Menschen aufgrund ihres Glaubens ermordet.
Der junge Mann, der uns die alte armenische Kirche geöffnet und auf Details hingewiesen hat, gibt sich nach kurzer Zeit als syrischer Flüchtling zu erkennen. Wurde seine Familie 1915 noch aus Mardin vertrieben, so ist die Stadt zu seinem Zufluchtsort geworden. Zweimal hatte er sich bereits bis Istanbul durchgeschlagen, um ein Visum für Deutschland oder Österreich zu beantragen. Dort wohnen jeweils Verwandte, die für ihn bürgen würden. Und doch wurde er jedes Mal zurück nach Syrien abgeschoben. Also versucht er nun in Mardin Fuß zu fassen und sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. Es seien aber im Frühjahr 2015 bereits so viele Flüchtlinge in der Stadt, dass die Möglichkeiten immer geringer werden.
Wir waren nach der Begegnung tief betroffen und wandelten erst einmal schweigend durch die Gassen. Die Stadt, die über Jahrhunderte für ihre kulturelle und religiöse Vielfalt bekannt war, erholt sich nur langsam von ihrer dunklen, jüngeren Geschichte, zu der auch Konfrontationen zwischen der kurdischen Arbeiterpartei und dem türkischen Militär gehören.
In einem ehemaligen Armeegebäude befindet sich heute ein Museum, das die vielschichtige Historie der Region und die kulturellen Bräuche von Muslimen und Christen, die sich durch die jahrhundertelange Koexistenz angenähert haben, zeigt. Auf uns wirkte das eher wie eine phantasievolle Utopie als an Geschichte.
Eine Felsenfestung für die Ewigkeit
Hasankeyf liegt nordöstlich von Mardin und wurde im 3. Jahrhundert als Grenzfestung errichtet, um den Tigrisübergang zu kontrollieren. Ab 1101 wurde die Stadt sogar zum Zentrum ausgebaut. Dabei wurden Wasserkanäle errichtet, die bis zur Burg hinaufreichten.
Wie Diyarbakir liegt Hasankeyf direkt am Tigris und doch fällt uns bei der Ankunft sofort der große Unterschied zwischen den beiden Städten auf. Im Gegensatz zum wachsenden Diyarbakir wirkt Hasankeyf trotz der historischen Bedeutung für die Region geradezu ausgestorben. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass Hasankeyf tatsächlich ausgestorben ist.
Das umstrittene Staudamm-Projekt: Eine Felsenfestung geht baden
Das von der türkischen Regierung geplante Südostanatolien-Projekt, das die Schaffung vieler Staudämme im Südosten der Türkei zum Ziel hat, sieht unter anderem die Flutung der antiken Stadt Hasankeyf vor. Bis heute regt sich dagegen nationaler, meist kurdischer, und internationaler Protest. Ungeachtet dessen hat die Türkei Anfang August 2006 mit dem Bau des Staudamms begonnen. Teile der antiken Stadt sollen versetzt und in einem Kulturpark wiederaufgebaut werden. Es ist jedoch fraglich, ob auf diese Weise die Kulturgüter tatsächlich bewahrt werden können.
Die Region ist für Staudämme deshalb so beliebt, weil das Gelände eine ständige Berg- und Talfahrt macht. Ebenfalls besonders ist, dass in den Bergen seit vielen Jahrhunderten bis hinein in die 1970er Jahre Höhlen bewohnt wurden, die zudem über weit verzweigte Gänge verfügen sollen. Es heißt, dass die türkische Regierung auch deshalb die Gegend überfluten will, um diese Systeme zum Erliegen zu bringen und damit den kurdischen Freiheitskämpfern ihre Verstecke zu nehmen.
Beim Rundgang durch die Stadt bekamen wir die Gelegenheit, eine der alten Höhlenwohnung zu besichtigen. Überraschenderweise war es gar nicht kühl und kalt wie ich es mir zunächst vorgestellt hatte, wenn Wände, Decken und Fußboden aus Fels bestehen. Es gab Sitz- und Liegegelegenheiten, die im bewohnten Zustand mit Teppichen und Kissen belegt waren. Für Beleuchtung sorgten Leuchten in vielen Nischen. Geräumig wirkten diese Räume ohnehin. Und doch war es früher wohl so wie heute, dass ein Großteil des Lebens vor den Höhlen stattgefunden hat.
Die Kirche zum Heiligen Kreuz mitten im Vansee
Auf unserer Reise weiter in Richtung Osten erreichen wir nach ein paar Stunden Fahrt den Vansee. Er ist der größte See der Türkei und siebenmal so groß wie der Bodensee. An der tiefsten Stelle ist er bis 400 Meter tief. Ihn umgeben bis zu 4.000 Meter hohe Berge. Allein das ist bereits ein Naturschauspiel. Der Vansee verfügt dazu über einen höheren Salzgehalt als Meerwasser und außerdem einen so hohen Alkaligehalt, dass die Anwohner keine Seife zum Waschen benötigen.
Um den Vansee siedelten schon früh rivalisierende Völker. Über die Jahrhunderte entstanden so die verschiedensten Kult- und Glaubensstätten. Neben den heute weit verbreiteten Moscheen finden sich daher auch noch einige wenige christliche Kirchen, die von den Armeniern gegründet wurden. Ein besonders schönes und gut erhaltenes Beispiel ist die Kirche zum Heiligen Kreuz, einem der meist fotografierten Gebäude in Ostanatolien.
Ein paar Kilometer vom südlichen Seeufer entfernt liegt auf der kleinen Insel Akdamar der Klosterkomplex um die Kirche zum Heiligen Kreuz. Um 900 n. Chr. wurde die Kirche von armenischen Christen erbaut. Das Kloster wurde allerdings während der Verfolgung der Armenier im Jahr 1915 nahezu vollständig zerstört, die Kirche geplündert und die Mönche wurden getötet. Seit 2010 finden dort an wenigen Tagen wieder katholische Gottestdienste statt. Die Kirche zum Heiligen Kreuz gilt heute als ein wichtiger Wallfahrtsort, der zu Hochzeiten bis zu 5.000 Gläubige an einem Tag anzieht. Innen beeindruckt die Kirche mit ihren Gewölben und den gut erhaltenen Fresken an den Wänden.
Im April hat die offizielle Besuchszeit für die Insel noch nicht begonnen und somit fuhren auch noch keine Fähren als wir am Ufer des Vansees Ausschau hielten. Wie so häufig auf dieser Reise bedeutet das aber nicht, dass man nicht trotzdem hin kommt. Ein privater Bootsbesitzer bot uns ein Übersetzen an. Mit uns waren dann vor Ort auf der Insel nur noch ein Wachmann, der Bootsführer, ein Touristenpärchen und eine Gruppe von 8 Mädchen mit einer älteren Frau. Die Mädchen erzählten uns auf der Rückfahrt, dass sie einmal in der Woche hinausfahren, um frische Kräuter für den in dieser Region als Delikatesse bekannten Käse zu sammeln, den wir beim Stopp in der Stadt Van selbstverständlich probieren mussten. Dazu aber ein anderes Mal mehr.