Darf man da noch hinreisen?
„Demokratie Schtonk! Liberty Schtonk! Free Sprecken Schtonk!“ Als Charlie Chaplin am 15. Oktober 1940 den Film „Der Große Diktator“ auf die Leinwand brachte, muss Hitler geschäumt haben. Zwar ist nicht sicher, ob der die Satire auf seine Person je gesehen hat, aber aus Unterlagen der Nürnberger Prozesse geht hervor, dass er den Film anforderte, und das gleich zwei Mal. In den Vereinigten Staaten selbst beeinflusste der Streifen die Diskussion um den Kriegseintritt der USA – und spaltete die Öffentlichkeit.
Gespaltene Reaktionen rief auch Jan Böhmermanns Schmähung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hervor. Damit erschöpfen sich allerdings auch schon die Parallelen. Tatsächlich will ich hier nichts und niemanden gleichsetzen – die Assoziation zum Chaplin-Film kam mir einfach, und dabei ist mir nicht zum Lachen zumute.
Pressefreiheit? Fehlanzeige
Das Lachen wäre mir ohnehin spätestens beim Lesen der taz-Sonderausgabe „Türkei“ vom Dienstag im Hals stecken geblieben. Darin beschreiben türkische Journalisten die Repression, der sie in wachsendem Maße ausgesetzt sind. Warum? Weil sie Kritik am Staatschef üben. Weil sie Belege dafür anführen, dass der sogenannte Kampf gegen den Terrorismus der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Ostanatolien nichts anderes als Staatsterrorismus gegen die dort lebende Bevölkerung ist. Weil sie das Abgleiten der türkischen Republik in einen Unrechtsstaat dokumentieren.
Ich schreibe diesen Text nicht aus eigener Anschauung. Natürlich war ich schon in der Türkei, aber in der Vor-Erdogan-Ära. Damals war Iran der „Schurkenstaat“ schlechthin und die Türkei der Deutschen zweitliebstes Reiseland. Jetzt boomt der Tourismus in Iran und niemand will mehr an den Bosporus. Der Grund sind die sich häufenden Terroranschläge. Die Unterdrückung der Medien und der staatliche Terror in den Kurdengebieten interessiert hier nicht so viele.
Das ist nachvollziehbar. Ostanatolien ist weit weg von den Urlaubsstränden am Mittelmeer. Überhaupt ist ja auch die Bundeskanzlerin mittlerweile Dauergast in der Türkei – wenn die da hinfährt, kann es ja nicht falsch sein, das auch selbst zu tun. Allerdings reist Frau Merkel nicht zum Vergnügen, sie dealt – mit Flüchtlingen.
So geht’s zu in Tayyipistan
Was da im Einzelnen verhandelt wird, will ich hier gar nicht weiter vertiefen, das steht ja fast täglich in den Medien. Fest steht, dass es dabei nicht unbedingt sauber zugeht. Das liegt einerseits an Frau Merkel und der EU. Die wollen – in unserem Namen übrigens – möglichst viele Flüchtlinge loswerden und vor allem keine mehr nach Europa reinlassen – völkerrechtlich und menschlich eine schwierige Geschichte.
Noch schwieriger ist der Partner des Deals. Herr Erdogan, Herrscher über Tayyipistan, wie manche auf Twitter ätzen, kämpft mit harten Bandagen. Jetzt geht sogar das Gerücht um, dass er Selbstschussanlagen an der Grenze zu Syrien installieren will, genau wie die DDR damals. Das ist schon krass. Noch krasser ist sein Umgang mit der kurdischen Minderheit im eigenen Land. Obendrein hat er das Ego eines osmanischen Sultans und verfolgt gnadenlos alle, von denen er sich beleidigt fühlt. Und beleidigt fühlt er sich schnell.
Das Resultat: über 2.000 gefeuerte Journalisten, mindestens 150 Nachrichtensperren zwischen 2010 und 2014, 353 geblockte Twitter-Accounts und 110.464 geblockte Webseiten, 21 wegen Präsidentenbeleidigung verurteilte Journalisten und Karikaturisten im Jahr 2015 – um nur einige der Zahlen zu nennen, die die taz recherchiert hat. In derselben Ausgabe schreibt ein Reporter der türkischen Tageszeitung Birgün: „Die Türkei ist ein Land, in der die Nachrichtensperre noch vor der Ambulanz kommt.“
Urlauberflucht
Will man diesem Tayyipistan Flüchtlinge anvertrauen? Und ist es wirklich eine gute Idee, einfach dahin zu reisen und so zu tun, als sei das alles nicht so schlimm? Aber ein Boykottaufruf ist gar nicht nötig, gerade deutsche Touristen buchen derzeit massenweise um aufs westliche Mittelmeer. Dass sie das vor allem aus Angst vor weiteren Terroranschlägen tun, ist zweitrangig. Was zählt, ist das Ergebnis: Der Türkei laufen die Urlauber davon.
Das trifft, wie meist in solchen Fällen, auch die Falschen – all jene, die mit der Hetze nichts zu tun haben, ihr Geld im Tourismus verdienen und nun kein Einkommen mehr haben. Aber vielleicht hat die Urlauberflucht auch ihr Gutes: Wenn nämlich die, die den Herrn Erdogan gewählt haben, plötzlich merken, dass sein Haudrauf-Patriotismus ihrem Geldbeutel schadet.
„Demokratie Schtonk! Liberty Schtonk! Free Sprecken Schtonk!“ – mit solchen kleinen und großen Diktatorenträumen wäre es dann schnell vorbei. Und wir könnten wieder guten Gewissens in die Türkei reisen.