Libanon – Mosaik aus vielen Wirklichkeiten
Gerade war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch im Libanon. Die mediale Aufmerksamkeit hierzulande bleibt ein Strohfeuer. Gnädig wird die Tatsache gewürdigt, dass das Land rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Syrien aufgenommen hat – eine gewaltige Zahl angesichts der insgesamt gerade mal viereinhalb Millionen Einwohner. Ganz zu schweigen von hunderttausenden palästinensischen Flüchtlingen, die teilweise schon in der vierten Generation im Libanon leben. Steinmeier reist rasch weiter und mit ihm unsere Aufmerksamkeit für ein Land, das aus unserer saturierten Sicht Täter und Opfer des unüberschaubaren Nahostkonflikts ist und dessen Hauptstadt Beirut zeitweise geradezu ein Synonym für diese Unruheregion war.
Vielleicht erklärt diese kurze Skizze schon hinreichend, warum die Mehrzahl der Libanesen heute fern der Heimat lebt – in Brasilien, Frankreich, Subsahara-Afrika, Australien und den USA. Ich bin kein Libanon-Kenner, nur ein oberflächlicher Besucher. Doch ich konnte schon nach kurzer Zeit feststellen, dass das Bild des Landes in den Nachrichten nur einen Bruchteil der Wirklichkeit wiedergibt und dass dorthin zu reisen nicht nur möglich, sondern auch spannend ist – zumindest in Teilregionen. Denn die Lage im Libanon ist nicht überall so hoffnungslos, wie politische Kommentatoren glauben machen. Dort leben auch nicht nur Extremisten. Zwar prägen die Religionen das öffentliche Leben sehr nachhaltig, doch geht das selbst vielen Libanesen gegen den Strich. Sie wollen – wie wir auch – vor allem ihre Ruhe, nur haben sie das Pech, in einem Gebiet der Welt zu leben, in dem Spannungen und Krieg zum Dauerzustand geworden sind. Und das liegt ganz sicher nicht nur in der Verantwortung der Menschen vor Ort.
Beirut: Alle Religionen wollen mitbestimmen
Rund die Hälfte der Einwohner des Landes lebt in Beirut. Reisenden präsentiert sich die Hauptstadt auf den ersten Blick als moderne Nahost-Metropole mit Straßenschluchten, Hochhausdschungel, McDonalds-Filialen, mondänen Clubs und den sonstigen Segnungen der Globalisierung. Von einem Diktat der Religionen ist auf den ersten Blick wenig zu spüren. Auf der Stadtautobahn – wir stehen mal wieder im Stau – schlängelt sich an uns ein Motorrad mit zwei Männern vorbei, die im Fahren fröhlich die Bierflasche an den Mund setzen.
Niemanden juckt das – weder Verkehrssicherheit noch Alkohol sind in Beirut ein vordringliches Thema. Überhaupt spielt der Libanon unter den arabischen Ländern seit jeher eine Sonderrolle, er versteht sich erst gar nicht als arabisch. Das liegt an der traditionellen Vielfalt der Religionen. Es gibt Schiiten, Sunniten, Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholische, Drusen, orthodoxe und katholische Armenier. Früher einmal waren die Christen in der Mehrheit, mittlerweile stellen sie – auch durch die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahrzehnte – etwa ein Drittel der Bevölkerung. Das zerbrechliche Gleichgewicht regelt ein ausgeklügelter politischer Proporz: Der Präsident ist immer maronitischer Christ, der Regierungschef sunnitischer Muslim, das Amt des Parlamentspräsidenten gehört den Schiiten und den Stabschef der Armee stellen wiederum die Christen. Auch Arbeitsplätze, Staatsaufträge und verschiedene Sozialleistungen gehen anteilig an die verschiedenen Religionsgemeinschaften.
Ein Miteinander der Religionen ist das nicht, eher ein Nebeneinander, nicht selten auch ein Gegeneinander. Seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs 1990 klappt es immerhin irgendwie. Aber irgendwie ist nicht genug, besonders die Jungen haben die Nase voll von Stromausfällen, Wasserknappheit und den Müllbergen, die sich zuletzt im Sommer 2015 auftürmten – verursacht durch die allgegenwärtige Korruption. Die Proteste mündeten in die Bürgerbewegung „Beirut Madinati“ („Beirut ist meine Stadt“), die bei den Kommunalwahlen 2016 als Liste von 24 unabhängigen Kandidaten fast 40 Prozent der Stimmen holte. Dass das wegen des Mehrheitswahlrechts nicht für den Einzug in den Stadtrat reichte, ist wieder typisch libanesisch.
Ungeachtet der Misswirtschaft gibt es in der Stadt viel Geld. An einem Samstagabend essen wir in einem großen Restaurant, das bis auf den letzten Platz besetzt ist. Zur ohrenbetäubenden Musik einer Live-Band tafeln gut betuchte Beiruter aller Religionen in bester Laune bis in die Nachtstunden. Die ganze Innenstadt ist eine einzige Ausgehmeile. Allein das ausgezeichnete libanesische Essen, das hier serviert wird, ist ein Grund, nach Beirut zu reisen. Spannend ist auch der Gegensatz zwischen den wenigen noch verbliebenen Resten kolonialer Vorkriegsarchitektur und den nüchternen Fassaden moderner Hochhausblöcke.
Byblos wird zur Bibel – viel Kultur, wenig Tourismus
Nicht weit nördlich von Beirut – eigentlich merken wir gar nicht, dass wir die Stadt verlassen haben – liegt die Stadt Byblos mit ihrer jahrtausendealten Kultur. Schon von weitem ist die wiederaufgebaute mittelalterliche Zitadelle zu sehen. Wer sie erklimmt, genießt einen weiten Blick aufs Mittelmeer, das überhaupt omnipräsent ist, wenn nicht gerade Hochhäuser die Sicht verstellen. Gleich hinter dem schmalen Küstenstreifen erheben sich die Ausläufer des Libanon-Gebirges. Die Kombination aus Berg und Küste prägt weite Teile des Landes und wäre andernorts sicherlich Garant für einen boomenden Tourismus.
Die Ausgrabungsstätte ist kaum besucht, was nicht nur an der Mittagshitze liegt. Dass der Tourismus trotzdem ein Geschäft ist, verrät die Ladenstraße im Eingangsbereich. Tatsächlich hat der Ort Besuchern einiges an Kultur-Highlights zu bieten: Byblos gilt als eine der ältesten permanent besiedelten Städte der Erde, stieg schon im 3. Jahrtausend v. Chr. zum wichtigsten Hafen an der Levante auf, avancierte unter den Phöniziern zum Hauptumschlagplatz für Papyrus und veranlasste auf diese Weise die alten Griechen, Papyrusrollen als „biblion“ zu bezeichnen – eine Vokabel, die in unserer „Bibel“ bis heute überlebt. Die – durchaus sehenswerte Zitadelle – hockt auf den spärlichen Resten dieser beispiellosen Geschichte wie ein Elefant auf einer Schmuckschatulle.
Auf dem Rückweg von Byblos machen wir Station in Jounieh. Die dortigen Hochhäuser unterscheiden sich in nichts von der übrigen dichten Bebauung der Küste – bis auf ein Detail, das erklärt, warum besonders Pilger dorthin reisen: Hier beginnt die Gondelbahn hinauf zum Marienheiligtum Harissa hoch oben auf der Abdachung des Libanon-Gebirges. Die knapp fünfminütige Gondelfahrt ist selbst bei dunstigem Wetter ein Erlebnis und entpuppt sich als Highlight des Nachmittags.
Oben herrscht reger Betrieb, auf den die 15 Tonnen schwere Marienstatue stoisch herabblickt. Der Tourismus folgt einem klar geregelten Ablauf: Die meisten Besucher genießen zunächst von der Terrasse der oberen Gondelstation aus den gewaltigen Blick über die Küstenebene und machen sich dann an den spiralförmigen Aufstieg auf den hohen gemauerten Sockel, auf dem Maria thront. Gleich daneben, in einer modernen Kathedrale aus Glas und Beton, deren Architektur an eine Skisprungschanze erinnert, findet gerade ein Gottesdienst statt. Mit seinem Pilgerbetrieb ist Harissa für westliche Augen ein besonders spektakuläres Beispiel für den Pluralismus der Religionen im Libanon.
Das Rauschen der Libanon-Zedern
Wir verlassen Beirut und fahren hinauf ins Libanon-Gebirge. Dessen Hänge waren bis in die römische Antike hinein mit dichten Wäldern bedeckt. Das Holz war begehrt und ein wichtiger Exportartikel. Es lieferte die Balken und Planken für die Schiffe, die das Mittelmeer kreuzten, und natürlich machten auch die Phönizier Gebrauch davon, zu deren Handelsstädten unter anderem Byblos und Berytos – das antike Beirut – zählten. Das wertvollste Holz aber lieferten die Libanon-Zedern, von denen die Bibel sagt, Gott der Herr habe sie eigenhändig gepflanzt.
Der Ruf der Libanon-Zedern hat auch mit ihrem hohen Alter zu tun. Manche Exemplare sollen über 1.000 Jahre alt werden. Wir nähern uns den wenigen noch verbliebenen Wäldern bei Tagesanbruch, in den Tälern wogt noch der Frühnebel. Dort unten war es bereits heiß, hier oben geht ein kühler Wind. Im Winter trotzen die Baumriesen Eis und Schnee, doch jetzt rauschen sie nur sacht in der Sommerbrise. In den Libanon reisen und die Zedern nicht sehen ist ein bisschen wie ein Paris-Besuch ohne Eiffelturm.
Junge Zedern haben die konische Gestalt von Tannen, doch wenn sie heranwachsen, strecken sie ihre knorrigen Äste gerade von sich. Bis auf das Rauschen des Windes herrscht Stille im Wald, der Frieden hier oben kommt uns fast unwirklich vor nach dem Lärm des Straßenverkehrs in den Städten. Plötzlich bricht ganz in der Nähe ein Wildschwein durchs Unterholz, zum Glück unter uns am Hang, deshalb droht keine unmittelbare Gefahr. Trotzdem blicken wir uns suchend um. Nur gut, dass Zedern gute Kletterbäume sind, denken wir.
Die Sonne steht am Himmel und taucht die Zedern in strahlendes Licht. Majestätisch stehen sie da. Vögel zwitschern. Kaum vorstellbar, dass gar nicht weit von hier seit mehr als sechs Jahren der Syrienkrieg wütet. Am Libanon ist er nicht spurlos vorbeigegangen. An den Zedern schon.
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Service: In den Libanon reisen
Für den Sucheintrag Beirut gibt Google als Ergänzungsvorschläge neben „Urlaub“ auch die Stichwörter „Krieg“, „Sicherheit“ und „gefährlich“ aus. Das sagt eine Menge. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in den Norden und Süden des Landes und rät außerdem dringend dazu, die südlichen Vororte von Beirut zu meiden. Viel bleibt da nicht übrig. Also gar nicht erst in den Libanon reisen?
Mit sorgfältiger Vorbereitung sind Reisen nach Beirut und in das von der Religionsgemeinschaft der Drusen kontrollierte zentrale Libanon-Gebirge möglich. Dabei sollten die Dienste eines spezialisierten Reiseunternehmens bzw. anerkannter Touristenführer in Anspruch genommen werden. Der Bewegungsradius ist relativ eingeschränkt. Gerade Beirut und die nördlich angrenzenden Städte zeigen jedoch eine kulturelle Bandbreite, die in dieser Form im Nahen Osten einzigartig ist.
Ein Ausflug auf das Libanon-Gebirge ist jeweils abhängig von der aktuellen Sicherheitslage – wir haben auf dem Weg in die Berge nur einen einzigen Militärposten passiert. Auf der Höhe des Gebirges erstreckt sich das Al-Shouf Cedar Reserve, das rund 25 Prozent der im Libanon noch erhaltenen Bestände an Libanon-Zedern schützt. Es gibt verschiedene, mit Schranken und Wachhütten ausgestattete Eingänge zu dem Naturschutzgebiet. Hauptanlaufpunkt für auswärtige Besucher ist das Naturschutzzentrum am Hauptplatz von Maasser el Shouf. Von dort sind die ältesten und beeindruckendsten Bäume gut zu erreichen, entweder auf ausgeschilderten Wanderwegen oder in Begleitung ausgebildeter Bergführer.