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Vilnius-Stadtspaziergang_061
Vilnius-Stadtspaziergang_061

Vilnius: Vom Tor der Morgenröte bis zur Neris

Vilnius lässt meine Gedanken nicht mehr los. Sehr erstaunlich wie diese Stadt meine Aufmerksamkeit fesselt. Wahrscheinlich ist es einfach so, Vilnius bietet mir viel: prachtvolle Boulevards, verträumte Hinterhöfe, üppige Natur mitten in der Stadt. Außerdem viel Geschichte und sagenhafte Geschichten.
Inhalt

Flanieren in Vilnius

In Vilnius: Malerische Hauptstadt von Litauen habe ich über meine verwirrende erste Begegnung mit dieser aufregenden Stadt berichtet. Besonders beeindruckt haben mich in Vilnius die Flüsse Vilnia und Neris, die vielen Hügel und die verwuselten Gassen. In Kombination mit der Architektur des Barocks wirkte Vilnius auf mich an vielen Stellen wie ein fantastisches überbordendes Bühnenbild. Aber welches Stück wird auf dieser üppigen Bühne gegeben?

In diesem Teil werde ich über Menschen mit geheimnisvollen Namen, malerische Hinterhöfe, das jüdische Ghetto in Vilnius und über Essen und Trinken schreiben. Auch diesmal schlendere ich einfach durch die Stadt und hoffe, dass mir Vilnius, das verträumte Rom des Ostens, seine Geheimnisse einfach so offenbart. Vielleicht komme ich flanierend einer Antwort näher.

Blumenverkäuferinnen am Tor der Morgenröte in Vilnius
Maria Himmelfahrt in Vilnius. Ambulanter Blumenmarkt am Tor der Morgenröte
Votivherzen in der Kapelle der Barmerzigen Mutter Gottes in Vilnius.
Eine Wand ganz aus funkelnden Herzen. Votivgaben in der Kapelle der Barmherzigen Muttergottes im Tor der Morgenröte

Das Tor der Morgenröte

Wieder beginne ich meinen Stadtspaziergang dort, wo er für die meisten Besucher Vilnius’ startet. Außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer vor dem Tor der Morgenröte. Da hier viele Reisende vorbeikommen, haben sich an diesem Samstag, es ist Maria Himmelfahrt, Frauen mit ambulanten Blumenständen aufgestellt. Sie verkaufen gelbe Schafgarbe und andere Wildblumen, die sie vielleicht in den sommerlichen Auen vor der Stadt, gesammelt haben. Die Blumenladys haben ihren Standort strategisch gewählt. Denn in das Tor der Morgenröte ist eine Marien-Kapelle eingebaut.

Diese Votiv-Kapelle ist an Maria Himmelfahrt ein besonders wichtiges Pilgerziel. Denn hier findet sich eine wundertätige Ikone der Barmherzigen Muttergottes. Be­mer­kens­wer­ter­wei­se eine Mutter Maria ohne Kind. Dafür ist sie in goldenes Metall gehüllt. Alle Wände der Kapelle sind mit silbernen Votivgaben ausgeschlagen. Besonders beliebt: flammende Herzen. Heute wird solcher Silberschmuck nur noch selten mitgebracht. Die Muttergottes muss sich mit Schafgarbe zufrieden geben. Das Tor der Morgenröte ist ein Denkmal für die Marienverehrung im katholischen Litauen.

Vilnius ist überhaupt eine Stadt der Denkmäler und der Gedenkkultur. Das Baltikum ist sowieso reich an Denkmälern für dieses Ereignis oder jene Persönlichkeit. Aber in Vilnius ist das besonders präsent. Die Aušros Varty Gatvé, die Straße des Tors der Morgenröte, hinunter falle ich linker Hand über das Denkmal für den Džiugas Käse.

Denkmal für den Džiugas Hartkäse
Ein Denkmal für einen Käse

Džiugas Hartkäse aus Litauen

Genau Džiugas Käse diesen weltbekannten Hartkäse aus Litauen. Schon mal davon gehört oder gar ein Stückchen probiert? Silvio Berlusconi schmeckte der Džiugas Käse genauso gut wie der italienische Parmesan. Angela Merkel hat aus Vilnius einen ganzen Präsentkorb voller Džiugas Käse mit nach Berlin genommen. Das Denkmal für die litauische Käsespezialität besteht aus einem eleganten Sockel aus Rosengranit. Oben ist ein bronzefarbener Käselaib montiert. Eine Maus zieht sich mühsam an diesem glatten Sockel hinauf. Sie hat den lecker duftenden Käselaib fest im Blick aber ihr Ziel noch nicht erreicht.

Die kleine Kletter-Maus ist die Stellvertreterin für Džiugas Käse Liebhaber aus aller Welt. Zugegeben, diese Albernheit ist ein Gag aus der Marketing Abteilung eines Lebensmittelkonzerns. Das Denkmal steht vor einem kleinem Käse-Laden. Den Käse lass ich links liegen. Ich besorge mir hier manchmal Kibinai. Das sind traditionelle, knusprige Teigtaschen gefüllt mit Käse oder mit Lamm, oder, oder, oder. Ich mag sie am liebsten mit Pilzen oder mit Spinat. Ideal als kleiner Snack zum Mittag.

Großfürst Gediminas von Litauen, der Wolf und Vilnius

Am Rathaus vorbei, die Straße geradeaus hinunter, schlendere ich zum Dom-Platz. Im Tal Šventagaris, dort wo heute der Dom steht, versammelten sich in dunklen, längst vergangenen Zeiten die heidnischen Litauer zu mysteriösen, heiligen Ritualen. Hier träumte der legendäre Stadtgründer Fürst Gediminas von einem großen in Eisen gerüsteten, heulenden Wolf. Der Auftrag zur Gründung von Vilnius war erteilt. Das ist jetzt gut 700 Jahre her. Auf einem Hügel lässt Gediminas eine Burg errichten. Diese Burg ist das älteste Gebäude der Stadt. Viel hat sich über die Jahrhunderte nicht erhalten. Das meiste an dieser Burg ist rekonstruiert.

Turm der Burg des Großfürsten Gediminas
Oberhalb der Altstadt von Vilnius thront die Burg des Großfürsten Gediminas.

Unterhalb seiner Burg schreitet Gediminas schräg nach vorne gebeugt mit gezogenem Schwert auf uns zu. Hinter ihm sein Ross. Unter ihm der heulende Wolf. Wieder so ein bemerkenswertes Denkmal. Gediminas sieht aus wie ein klingonischer Sci-Fi Krieger, der aus der Steppe kam. Und dann ist da dieses elegante, schmale Schwert. Nicht senkrecht. Waagerecht! Die linke Hand am Schafft. Die rechte Hand sonderbar ausgestreckt in der Luft. Der Saum des Mantels wippt nach hinten. Irgendwo steckt da eine schockgefrorene Bewegung drin. Verklemmt zwischen Schräge, Horizontale und Vertikale. Bewusste Abgrenzung vom bewegten Pathos sowjetischer Denkmäler? Oder verschüchterte Darstellung eines aus der Zeit gefallenen heroischen Gründermythos?

Denkmal für den Stadtgründe rvon Vilnius: Gediminas
Gediminas, der Stadtgründer von Vilnius. Begleitet von Pferd und Wolf

Gedemino Prospekta – der Prachtboulevard von Vilnius

Nach dem Großfürsten Gediminas ist die Hauptstraße von Vilnius benannt. Der Gedemino Prospektas gehört nicht zur barocken Altstadt. Er ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das lässt sich an dem schnurgeraden Straßenlauf und den prächtigen Belle Époque Fassaden links und rechts ganz gut ablesen. Dieser prächtige Boulevard ist in der Nähe der Altstadt und des Dom-Platz’ ein schickes Shopping-Paradies. Weiter entfernt vom Zentrum säumen den Gedemino Verwaltungs- und Regierungsgebäude. Ganz am Ende, am Neris Ufer findet sich das Parlament.

Protzige Regierungs-Architektur beeindruckt mich eher selten. Deswegen ignoriere ich auch beinahe ein weißes pompöses Zuckerbäcker-Haus mit wuchtigen Ecktürmen und steifen Dekorationen. Allerdings lässt mich der Granitsockel, auf den das Gebäude aufgebockt ist, stutzen. In die Granitblöcke sind Namen und Lebensdaten eingemeißelt. Die Geburtsdaten variieren stark. Die Todesjahre liegen eng beieinander: 1945 – 1947. Die Anfangsjahre der 2. sowjetischen Okkupation.

Das ehemalige KGB Haus am Gediminas Boulevard in Vilnius
Das ehemalige KGB Haus am Gediminas Boulevard in Vilnius
Detail Ansicht des KGB Gebäudes in Vilnius
In den Granitsockel des ehemaligen KGB-Gebäudes sind die Namen von Opfern eingemeißelt

Die Historie dieses Hauses am Gediminas Boulevard reflektiert die komplizierte und wechselvolle Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert. Geplant wurde es als Gerichtsgebäude. Während des 1. Weltkriegs war es Sitz der deutschen Besatzungs-Verwaltung. Danach quartieren sich die polnischen Besatzer hier ein. Es folgen der russische KGB, die deutsche Gestapo von 1941 – 1944. Nach den deutschen Besatzern nimmt der russische KGB das Haus bis 1991 erneut in Besitz. In einem Flügel ist heute das Genozid Museum untergebracht. Die Namen auf dem Sockel weisen darauf hin, dass mit dem Begriff Genozid an die litauischen Opfer der sowjetischen Okkupation gedacht wird. Die jüdischen Opfer des Holocaust sind in der litauischen Erinnerungskultur erst wenige Jahren präsent.

Karte des Ghettos von Vilnius
Am Eingang zum ehemaligen Kleinen Ghetto in Vilnius findet sich die Karte.

Das Ghetto von Vilnius

Noch 2009, als Vilnius Europäische Kulturhauptstadt war, waren Spuren der jüdischen Geschichte in Vilnius schwer zu finden. Dabei liegt das jüdische Ghetto mitten in der barocken Altstadt. Kurz nach der Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht 1941 wurden das Kleine Ghetto und das Große Ghetto dort eingerichtet, wo Juden in Vilnius schon seit Jahrhunderten lebten. Straßen mitten in der Stadt wurden mit Mauern und Wänden verbarrikadiert. Fenster wurden zugemauert.

Im Kleinen Ghetto wurden die Menschen und Familien interniert, die von den Deutschen und ihren Helfern innerhalb kürzester Zeit ermordet wurden. Im Großen Ghetto lebten die Menschen und Familien, die von den deutschen Besatzern zuerst für den Krieg wirtschaftlich ausgebeutet wurden, bevor auch sie ermordet wurden.

Im August 1943 wurde das Ghetto von den deutschen Besatzern liquidiert. Die noch dort lebenden jüdischen Bewohner wurden von den Deutschen nach Lettland und nach Estland verschleppt. Mit dem Ende der deutschen Besatzung waren fast alle Juden in Litauen und Vilnius ermordet. Die jüdische Kultur in Litauen existierte nicht mehr. Vilnius als Jerusalem des Nordens war zerstört.

An den Eingängen zum ehemaligen Ghetto sind Hinweisschilder angebracht, die die Topografie der Ghettos zeigen. Dort wo einst die Synagoge stand, toben heute Kinder durch einen Kindergarten. Nur eine Schautafel erinnert an den Vorgängerbau. An einigen Gebäuden gibt es Gedenktafeln, die an die ehemalige Funktion als Gebetshaus erinnern.

Heute steht ein Kindergarten auf dem ehemligen Grundstück der Synagoge von Vilnius
Heute steht ein Kindergarten auf dem ehemaligen Grundstück der Synagoge von Vilnius

Das Stadtviertel des ehemaligen Kleinen Ghettos ist heute schmuck restauriert. Malerische Gassen laden zum Flanieren ein. In verschlafenen Hinterhöfen trocknet die Wäsche. Das mutet fast an wie in einem kleinen Dorf. Unzählige kleine Geschäfte bieten heimische Produkte an. Bekleidung aus Leinen, Tongeschirr für den heimischen Tisch, Landjäger vom Bieber. Ausruhen lässt sich in einem der vielen Cafés oder Restaurants. Mich irritiert das, wie schön und entspannt es heute im ehemaligen Kleinen Ghetto ist. So viel Lebensfreude, so viel Überfluss!

Hinterhof in der Altstadt von Vilnius.
Hinterhof in der Altstadt von Vilnius
Himbeertörtchen aus der Konditorei Poniu Laime in Vilnius
Macaron mit Himbeere. Eine der süßen Verführungen der Konditorei Poniu Laime

Die Konditorei Poniu Laime in der Stikliu Gatvé, der Straße der Glasbläser, offeriert süße Sünden in unglaublichen Mengen und himmlischer Qualität. Zum Beispiel Macarons gefüllt mit frischen Beeren. Gleich daneben unter der Woche lecker Mittagstisch zu unglaublich günstigen Preisen. Wenn es stilvoller sein soll, dann gehe ich in Vilnius gerne ins Kitchen. Ein Bistro mit italienisch-litauischer Fusion-Küche: Rote Beete trifft auf Pasta. Eingerichtet in einem minimalistic industrial Style. Direkt am Rathausplatz.

Wie funktioniert Gedenken?

In einer Stadt, in der es so viele Denkmäler gibt, kommt mir das ehemalige Ghetto in Vilnius wie ein Ort ohne besonderes Gedenken oder wie ein Ort ohne Gedächtnis vor. Aber natürlich ließe sich in der Straße der Glasbläser, auch eine andere Geschichte erzählen. Zum Beispiel die der Juden, die seit dem 15. Jahrhundert aus Deutschland und Böhmen in das tolerante Vilnius einwanderten. Sie brachten das Glasbläser Handwerk mit in die Stadt. Die jüdische Geschichte Litauens lässt sich im Jüdischen Museum von Vilnius nachvollziehen. Das Leben im Vilniuser Ghetto wird im Museum mit berührenden Einzelschicksalen vorgestellt. Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall.

Am anderen Neris Ufer in der Nähe der modernen Nationalgalerie entdecke ich einen geometrisch gepflanzter Hain aus Kirschbäumchen. Ich spaziere über die weiße Brücke, um mir diesen Garten etwas genauer anzusehen. Es ist ein Gedenkgarten, der an den japanischen Konsul Chiyune Sugihara erinnert. Er hat geschätzt 6000 Juden mit Visa-Papieren ausgestattet. Diese Visa ermöglichten ihnen die Flucht aus Litauen, bevor die deutschen Besatzer kamen. Mich erschüttert dieses krasse Missverhältnis zwischen der bekannten Individualität des Helfers und der Anonymität der Opfer. Als Kontrast fällt mir die namentlichen Nennung der Opfer der sowjetischen Besatzung am ehemaligen KGB-Haus auf dem Gediminas Boulevard wieder ein.

Habe ich herausgefunden welches Stück im Amphitheater von Vilnius gegeben wird? Natürlich nicht. Also heißt es noch mal hinfahren. Ganz bald! Bis dahin werde ich lesen. Zum Beispiel Vilnius, Eine Stadt in Europa von Tomas Venclova. Ein richtig tolles Buch. Schon bei den ersten Worten bekomme ich eine Gänsehaut: “Die Stadt, die thront inmitten von mächtigen Wäldern“

Vilnius-Stadtspaziergang_066
Geometrischer Gedenkgarten für den japanischen Konsul Chiyune Sugihara in Vilnius
Inschrift auf dem Gedenkstein für den japanischen Konsul Chiyune Sugihara in Vilnius
Inschrift auf dem Gedenkstein für Chiyune Sugihara

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