Letzte Bastion im Atlantik
Bei der Ankunft am Hafen hält ein Mann ein Schild mit unserem Namen in die Höhe. Das sind wir, sagen wir und zeigen auf das Schild. Der Mann mustert uns missmutig und bellt: Gehen sie die Straße hoch und warten dort, meine Frau holt Sie ab. Wir sind so verdattert, dass wir stumm Folge leisten. Es ist kalt, die Wolken jagen über den Himmel, der Wind zerrt an Jacken und Gepäck. Wir warten vergeblich, keine Frau weit und breit. Stattdessen beobachten wir, wie der Mann andere Passagiere in seinen Kleinbus einsteigen lässt und mit ihnen davonbraust. Ich rufe die Vermieterin unserer Ferienwohnung an, die die Taxifahrt für uns arrangiert hat. Fünf Minuten später ist der Mann wieder da. Er ist wie ausgewechselt, scherzt sogar. Anstandslos bringt er uns zu unserem Domizil.
Willkommen auf Ouessant! Der Ton passt zum Wetter: ein bisschen rau. Dass hier ein anderer Wind weht, machte sich schon auf dem Schiff bemerkbar. In der Bucht von Brest und selbst bei der Überfahrt auf die Nachbarinsel Molène war das Wasser noch ruhig. Doch kaum nahm die Fähre Kurs auf Ouessant, blies uns der Wind an Deck fast um, die Gischt spritzte auf die Bänke und das Schiff rollte durch eine ziemlich aufgewühlte Dünung.
Ouessant ist Frankreichs westlichster Zipfel. Jenseits davon kommt erst mal lange nichts und dann irgendwann Neufundland. 20 Kilometer Wasser trennen Ouessant vom bretonischen Festland. Um die kleine Insel herum wogt der offene Atlantik, der bei Sturm richtig ungemütlich werden kann, vor allem für die Schiffe, die hier in den Ärmelkanal einbiegen. Entsprechend lang ist die Liste spektakulärer Schiffsunglücke – und die Geschichte der Leuchttürme.
Die stehen auf der Insel selbst, aber auch mitten im Meer. Einer davon, La Jument, spielt sogar eine Hauptrolle in einem jüngeren Kinofilm: Die Frau des Leuchtturmwärters von Philippe Lioret. Die bittersüße Liebesgeschichte mit viel Lokalkolorit gibt für uns den letzten Anstoß, selbst nach Ouessant zu fahren.
Natürlich wollen wir unbedingt auf einen der Leuchttürme hinauf. Bei dem ältesten von ihnen, anno 1700, geht das sogar. Also schwingen wir uns auf unsere Leihfahrräder und radeln gen Osten zum Phare du Stiff, ganz in der Nähe des Fährhafens. Ein schöner Turm, der bestimmt einen herrlichen Blick über die Insel bietet – aber leider erst ab April.
Ouessant in der Vorsaison
Das erleben wir immer wieder: verschlossene Türen. Egal ob im Hauptort Lampaul oder sonst irgendwo auf der Insel. Lass uns Meeresfrüchte kaufen, beschließen wir begeistert, wir wohnen schließlich mitten im Atlantik. Dann stellen wir fest, dass von den beiden Fischhändlern, die die Insel noch hat, keiner auf dem Posten ist. Monsieur Le Pape repariert gerade sein Schiff, Monsieur Grunweiser ist gar nicht erst erreichbar, sein Fischstand am zentralen Platz von Lampaul ist verwaist.
Lass uns Crêpes essen, wir sind schließlich in der Bretagne. Aber die erste Crêperie, die wir sehen, öffnet erst einen Tag nach unserer Abreise, die zweite immerhin einen Tag früher und die dritte hat zwar geöffnet, als wir mittags hereinschneien, aber Crêpes gibt es trotzdem nicht und auch keine Grillhähnchen, wie draußen angezeigt – wir grillen nur abends, heißt es mit einem Schulterzucken.
Lass uns zum Frühstück Croissants holen, wir sind schließlich in Frankreich. Aber der einzige Bäcker der Insel öffnet erst um zehn, eine halbe Stunde später sind alle Croissants ausverkauft und um halb zwölf ist schon wieder Mittagspause.
Zum Glück gibt es zwei Supermärkte: den Spar am zentralen Platz, der allerdings eine Art realsozialistischen Flair verströmt, und „8 à huit“, ein gut sortierter, wenn auch etwas teurer Einkaufsladen, der auch Baguettes und (verpackte) Croissants verkauft und in dem wir morgens alle Insulaner treffen – wo sollen sie sonst einkaufen?
Grandiose Einsamkeit
Ouessant lebt vom Tourismus, lesen wir überall – wie schaffen die das? Am Osterwochenende beginnt die Saison, dann strömen die Tagestouristen. Vielleicht genießen die Insulaner die Ruhe vor dem Sturm und drehen erst auf, wenn es soweit ist.
Wir gewöhnen uns allmählich an das langsamere Tempo – das ist ja einer der Gründe, warum wir hier sind. Zwar müssen wir nun häufiger selber kochen, aber unsere Ferienküche ist gut ausgestattet, das Häuschen gemütlich und das Wetter wird immer besser. Außerdem begegnen wir auf unseren Streifzügen kaum einer Menschenseele. Auf der Insel sind geschätzte sechs Touristen unterwegs, vier davon sind wir.
Besonders angetan hat es uns die Nordküste mit ihren bizarren Felsformationen, die alle erklettert werden wollen. Zwischendurch treffen wir immer wieder auf Reste früher Schifffahrtssignale. Zum Beispiel die Nebelsirene, die von einem Pferdegöpel angetrieben wurde. Oder den Phare de Nividic, der vor der Küste steht und einer der ersten automatisch betriebenen Leuchttürme war. Um ihn mit Strom zu versorgen, wurden eigens zwei massive Masten gebaut, an denen die Stromkabel angebracht waren.
Die Felsküste ist einfach grandios. Meist sind es nur schmale Trampelpfade, die an den Klippen entlang führen und immer wieder spektakuläre Blicke bereithalten. Im selben Maß, wie die herb-salzige Brise nachlässt, gewinnt die Sonne an Kraft – im Windschatten der Felsen ist es schon frühlingswarm. Das alles haben wir exklusiv für uns – ein unschätzbarer Vorteil der verschlafenen Vorsaison. Mit jedem Tag dringt die Insel tiefer in unsere Poren.
Inselleben
Einmal besuchen wir auch den Phare du Creac’h, einen der leuchtstärksten Leuchttürme überhaupt. In seinen Nebengebäuden beherbergt er ein spannendes Museum, das die immer raffiniertere Technik der Leuchttürme dokumentiert und historisches Filmmaterial zeigt. Dort erfahren wir auch, dass schon in der Steinzeit Menschen auf Ouessant lebten und dass hier einst die kleinsten Schafe der Welt – allesamt schwarz – zuhause waren.
Im zweiten Inselmuseum ein paar Dörfer weiter geht es vor allem um den traditionellen Inselalltag. Während die Männer fischen gingen oder zur See fuhren, mühten sich die Frauen mit den kargen Böden ab und verrichteten harte Bauernarbeit. Ein Vergnügen war beides nicht, aber trotzdem richteten sich die Menschen in diesem Leben ein, so gut es ging.
Das tun sie auch heute, allerdings hat sich das Inselleben komplett verändert. Zu Fuß gehen hier eigentlich nur noch die Alten, ganz selten sehen wir auch mal ein Schulkind die Straße entlangtrotten. Der Rest der Bevölkerung steigt ins Auto, und sei der Weg noch so kurz. In der einen Woche, in der wir die Insel kreuz und quer erwandern und erradeln, begegnen wir immer denselben Gesichtern – meist hinter Windschutzscheiben.
Ansonsten gibt es auf Ouessant vor allem Schafe, deutlich mehr als Menschen sogar. Von der kleinen Ouessant-Rasse ist allerdings nichts zu sehen. Dafür hüpfen – zum Entzücken der Kinder – überall Osterlämmer über die Wiesen.
Für ein Bad im Meer ist’s natürlich zu kalt. Aber um diese Jahreszeit entwickeln die gerölligen Strände ihre ganz eigene Ästhetik und erzählen ganz nebenher von der Wucht der Elemente, die hier – passend zur Karwoche – jede Menge Ostereier abgelegt haben.
Meeresfrüchte zum Abschluss
Zuletzt kommen wir doch noch in den Genuss frischer Meeresfrüchte. Wir entdecken ein Hotel, das ganze Platten davon nach Hause liefert, einfach so. Wieso haben wir das nicht schon früher entdeckt, fragen wir uns. Weil wir nie am Hafen von Lampaul waren. Da liegt das Hotel nämlich. Nur ist das heute eine tote Sackgasse, weil der Hafen nicht mehr benutzt wird – die Fähren legen auf der anderen Seite der Insel an.
Pünktlich am Abend kommt das Essen: Muscheln, Seeschnecken, Garnelen, Krebse, frische Austern in Hülle und Fülle: Wir können unser Glück kaum fassen, so viele Meeresfrüchte haben wir noch nie auf einmal verspeist. Am Abreisetag gelingt uns noch ein Coup: Wir essen mittags leckere Crêpes in einem Café, das heute aufgemacht hat. Nun ist alles gut. Adieu, Ouessant.
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Service
Auf der touristischen Website von Ouessant finden Besucher alle notwendigen Informationen übersichtlich aufbereitet: Wie komme ich hin? Wo Wohne ich? Wo kehre ich ein? Welche Läden gibt es?
Die Insel ist ca. acht Kilometer lang und vier Kilometer breit und bietet rund 35 Kilometer Küstenwege. Dafür, dass es nie langweilig wird, sorgt die zerklüftete Steilküste. Im Hauptort Lampaul und am Fährhafen gibt es überdies verschiedene Fahrradverleiher. Das Radfahren ist allerdings nur auf den ausgebauten Straßen der Insel erlaubt.
Brest, Le Conquet und Camaret-sur-Mer sind die Fährhäfen nach Ouessant. Wir sind nach Brest mit dem Zug angereist. Von dort fahren ein- bis zweimal täglich Schiffe auf die Insel. Die Überfahrt dauert je nach Route zwei bis zweieinhalb Stunden. Wer will, kann von Brest auch im Kleinflugzeug auf die Insel fliegen.
Das Hotel, das Meeresfrüchte nach Hause liefert, heißt La Duchesse Anne. Der Service ist sehr zu empfehlen. Wer handgefertigte Wollprodukte aus lokaler Schurwolle sucht, ist bestens im L’Abri du Mouton am zentralen Platz von Lampaul aufgehoben. Die Inhaberin kennt sich bestens mit der lokalen Handwerkstradition aus und erklärt den historischen Hintergrund der Erzeugnisse gern und ausführlich. Die „Crêperie Chez Carole – Salon de Thé“ hat uns zum Abschluss hervorragende Crêpes und Galettes serviert, das Ganze in einem gemütlich eingerichteten traditionellen Holzhaus.