Eine Reise ohne Geheimtipp? Geht das überhaupt?
Eine Reise ohne Geheimtipp? Geht das Überhaupt? Wo ist denn dieses schnuckelige Restaurant im Zentrum von Florenz, in dem wir ganz allein unter verschworenen Einheimischen bombastisch gut essen werden? Wo ist das romantisch, einsame Plätzchen am Ufer der Spree, an dem sich ganz entspannt die Flasche Pils weg zischen lässt? Und wo ist bloß der Strand, an dem noch niemand vor mir seine Fussspuren in den feinsten, weißen Sand gegraben hat?
Geheimnis und Tipp passt das überhaupt zusammen? Wikipedia definiert Geheimnis so:
Ein Geheimnis ist eine meist sensible Information, die einem oder mehreren Eigentümern zugeordnet ist. Es soll einer anderen Person bzw. Personengruppe, für die es von Interesse ist/sein könnte, nicht bekannt werden. Die entsprechende Information wird häufig absichtlich in einem kleinen Kreis Eingeweihter gehalten.
Kleiner Kreis Eingeweihter. Das ist interessant. Denn im Tourismus werden Geheimtipps besonders gerne in auflagestarken Reiseführern und Katalogen oder auf viel besuchten Websites herausposaunt. Das absurde Label Geheimtipp ist eben immer eine wirksame Aufmerksamkeits- und Absatzgarantie.
Geheimtipps als wirksame Absatzgarantie
Hier funktioniert der Geheimtipp genauso wie sein Gegenteil, die übervolle 5 Sterne Sehenswürdigkeit. Beiden ist gemeinsam, dass sie das uferlose Reiseland in besonders attraktive Inseln für eine zielgesteuerte und damit zeitsparende Wahrnehmung zergliedern. Der Geheimtipp ist in diesem Sinne der weiße Strand, an dem Reisende entspannt ihre Seele baumeln lassen können.
Bietet nicht jedes unbekannte Land zwischen den beiden extremen Polen Geheimtipp und übervolle 5 Sterne Sehenswürdigkeit so allerlei, was die Aufmerksamkeit des Reisenden erregen könnte oder müsste? Denn im Reisenden, der als Flaneur oder als Entdecker die Welt durchbummelt, sollte doch alles Unbekannte, Neue oder eben Andere die Neugier und damit Aufmerksamkeit wecken können. Ist aber nicht so. Unsere Sucht nach Geheimtipps zeigt ganz einfach, dass Reisende das Reiseland in apettitlichen Häppchen verkonsumieren wollen. Wäre doch furchtbar, wenn wir in unserer sowieso viel zu knappen Urlaubszeit das Wichtigste verpassen.
Ist der Geheimtipp typisch deutsch?
Andere Sprachen scheinen ein Wort für Geheimtipp nicht zu besitzen. Ich habe mit dem Google Übersetzer, der inzwischen ja fast alles weiß, mal verschiedene Sprachen ausprobiert. Aber es ist so, Geheimtipp bleibt in jeder anderen Sprache Geheimtipp oder eben – ohne jedes Geheimnis – einfach der Tip. Als ich es andersherum mit insider tip probiere, da liefert mir der Übersetzer Geheimtipp aus. Aber das ist vielleicht wirklich nur Wortklauberei.
Denn die Sehnsucht ein fremdes Land exklusiv, authentisch, abseits der ausgetretenen Pfade zu bereisen oder noch viel aufregender zu entdecken, die steckt in jedem echten Reisenden. Vielleicht existiert ja doch ein unbekanntes Abenteuer-Gen, das nur in den Urlaubswochen durchbricht und uns dazu treibt, aus dem monotonen Alltagstrott und der Gegenwart der brechenden Überfüllung auszubrechen, Wagnisse zu suchen und Geheimnisse zu lüften.
Geheim darf der Geheimtipp gar nicht sein
Obwohl zu geheim oder abenteuerlich darf der Geheimtipp auch nicht sein. Am besten ist er stadtbekannt, fußläufig und bequem zu erreichen, vielleicht sogar in der Nähe einer bedeutenden Sehenswürdigkeit. Gefahren für Leib und Seele sollten mit dem Geheimtipp auch nicht verbunden sein und kosten sollte er am besten auch nicht zu viel. Am besten ist der Geheimtipp ganz ephemer, einfach nur intensive, unvergessbare, gratis Atmosphäre.
Der Geheimtipp ist nur eine Art Zugabe, ein knuspriges Bonbon, das die Reise zu einem besonderen Erlebnis macht. So wie die Fleischwurstfetzen, die der geschäftstüchtige Metzger, dem quengelnden Nachwuchs von der der Theke herunter reicht. Winziger Einsatz, große Wirkung. So einfach ist das!
Tatsächlich ist der Geheimtipp sogar häufig kulinarisch. Zum Beispiel die beste Eisdiele am Platz, die Bar wo Wallstreet-Bänker ihren Absacker trinken, das Restaurant wo noch die Nonna, die echte italienische Omi, kocht.
Eine Reise, die nur aus Geheimtipps besteht, lässt sich übrigens nur schlecht erzählen oder social teilen. Und darum funktioniert der Geheimtipp meistens folgendermaßen: – ich nehm mal Rom als Beispiel, da kenn ich mich ein bisschen aus – also zuerst wird in Rom die Mega-Sehenswürdigkeit Peters-Dom besichtigt und danach zur Erholung vom erschöpfenden Tourismus-Bums ein authentisches Ambiente als i-Tüpfelchen aufgesucht. Ein Café oder ein Restaurant, in dem sich die ausgeglühten Batterien wieder aufgeladen lassen und die berühmten Land & Leute noch nebenbei verköstigt werden können. Auf Reisen werden wir eben alle zu Hobby-Ethnologen und Anekdoten-Sammlern.
Unentdeckt und Mittendrin
Vor über 200 Jahren hat sich Johann Wolfgang von Goethe bei seinem ersten Aufenthalt in Rom als Römer verkleidet unter die Bewohner der ewigen Stadt gemischt. Er wollte von anderen Reisenden in Rom nicht als Reisender erkannt werden. Schon für den geheimen Rat Goethe galt: der Tourist ist der größte Feind des Touristen! Ganz besonders aber wollte Goethe hinter seiner Maskerade die echten Römer beim alltäglichen Römersein ausspionieren. Soviel Aufwand ist heute undenkbar. Wahrscheinlich werden deshalb überall auf der Welt die authentischen Geheimtipps von Aliens überschwemmt und verderben das echte Erlebnis.
Geheimtipp hört sich maßlos oldschool an. Es wird immer häufiger durch den englischen Insider Tip ersetzt. Damit verbunden ist ein ziemlich interessanter Perspektivwechsel. Der Reisende von heute möchte kein Entdecker fremder Welten mehr sein, sondern ein im bereisten Land gern gesehener Gast; einer, der dazu gehört. Aber ist das wirklich so?
Übrigens: In einem Kommentar zu Lorenz‘ Post Touristen am Pranger hat Stefanie von Gipfelglück gefragt, ob es bei dem riesigen Tourismus-Boom, den wir erleben, überhaupt noch ok ist, Geheimtipps wie zum Beispiel das “tolle Café außerhalb von Barcelona, wo es keine Touristen gibt“ zu empfehlen und zu teilen. Was meinst Du dazu?
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