Langstreckenflug: Horror oder Vergnügen?
Unsere Reiseträume: Colombo, Auckland, New York, die weißen Strände der Karibik oder was auch immer. Meistens heißt das Langstreckenflug. Ein Alptraum. Die Werbefilmchen der Fluggesellschaften versprechen Luxus pur über den Wolken. In der Holzklasse, in der ich fliege, wird knallhart um jeden Quadratmillimeter Leg Space und Armlehne gefeilscht. Gosh. Krieg der Armen auf engstem Raum. Ganz ehrlich nirgendwo klaffen Werbung und Realität so krass auseinander wie beim Thema Langstreckenflug.
Deswegen ist der Langstreckenflug ein Erlebnis, das ich lieber ausblende. Und das hat noch viel mehr Gründe. Die zäh und leer verrinnenden Stunden voller erzwungener und ohnmächtiger Bewegungslosigkeit. Der Lärm und die schlimme Luft im Flugzeugs. Die Schlange vor den viel zu kleinen Toiletten zweifelhafter Sauberkeit und die viel zu engen Sitze. Die unglaubliche Menge an Plastikmüll und die Luftverschmutzung …
Aber Menschen müssen reisen. Auch ich! 2016 waren über 1,2 Milliarden Menschen unterwegs. Reisen ist inzwischen sowas wie ein Menschenrecht. Universal und klassenlos. Beim Boarding denke ich allerdings manchmal, Mensch, die sehen gar nicht aus, als ob die sich das leisten können. Fliegen trotzdem mit. Irre.
Der Ärger fliegt immer mit
Ich weiß, dass ist eine dumme Perspektive und für meine Person sowieso völlig albern. Denn ich gehöre zu der vom sozialen Abstieg bedrohten, wirtschaftlich abrutschenden, sich auflösenden Mittelschicht.
Es ist einfach so, beim Langstreckenflug, beim Fliegen überhaupt, wird mir dieser gefährdete sozialen Status ganz besonders bewusst gemacht. Schon beim Check in geht das los. First Class, Business Class, Gold Card und Senator Circle Members werden privilegiert angesprochen … Und ich gehöre nicht dazu. Deswegen fliegt auch immer der Ärger mit auf all diejenigen, die sich mehr leisten können als ich und das auch noch – ganz nah bei mir – bekommen. Es gibt wenige Gelegenheiten, bei denen ich mich so aufspulen kann, wie beim Langstreckenflug.
Suspendierte Lebendigkeit und spirituelle Leere
Denn beim Langstreckenflug werde ich zu einem Gepäckstück normiert. Ich werde einer standardisierten Behandlung unterzogen, die mir verdeutlichen, dass ich mich anzupassen habe, nur deshalb weil ich nicht zu den Auserwählten und Privilegierten gehöre. Ich werde auf einen Platz bugsiert, der ganz und gar nicht auf meine Bedürfnisse zugeschnitten ist. Ausgelöscht und quasi unsichtbar gehe ich an Bord und soll mich dennoch freuen, mit dabei zu sein. Vorfreude – auf das Ziel der Reise – das ist ja bekanntlich die größte Freude. Werde ich gesehen? Bekomme ich das, was mir zusteht? Werde ich gerecht behandelt? Ist da genug Platz? Kann ich nicht auch mal der Erste sein?
Für den Soziologen Zygmunt Bauman ist die Flugzeugkabine der Ort eines stationionären Zusammenseins. Für Bauman eine dieser typischen, eingeschränkten Erfahrung des Menschseins im Zeitalter der Überfüllung. Niemand gibt sich überhaupt die Mühe zusammen zu kommen. In der Kabine sitzen eine “Ansammlung von Fremden, die wissen, sie werden bald wieder eigene Wege gehen, um sich nie wieder zu treffen“. Darum erscheint Bauman die Flugzeugkabine als eine “Stätte der suspendierten Lebendigkeit, der unterkühlten Begegnungen“. Das Design der in der Regel mit Menschen übervollen Kabine hat nur eine einzige Aufgabe nämlich den Fremden auf Abstand zu halten. Nach Bauman transformiert die Raumaufteilung physische Fülle in spirituelle Leere.
Und deswegen ist beim Langstreckenflug die wahnsinnig tödliche Langeweile der reizarmen Flughäfen und Flugzeugkabinen viel schlimmer als diese nagenden Statusfragen. Wer hat sich diesen widerstandslosen, einschläfernden Haferschleim-Farbton der Kabinenverkleidung bloß ausgedacht? Ein Farbton, der mir sofort beim Betreten des Flugzeugs mit seiner kalten Hand um die Seele fasst und wie ein überdosiertes Narkotikum Empfindsamkeit und Lebensenergie aus den Knochen lutscht.
Gefangen in gesichtslosen Transitzonen
Meine Freundin Jo spricht beim Fliegen nur von der Welt der abstoßenden Plastikdärme. Freiwillig begibt man sich hinein, wird einmal durch gesichtslose Transitzonen verdaut und am Ende auf einem anderen Kontinent wieder rausgeschissen. Und irgendetwas ist beim Verdauungsprozess abhanden gekommen. Aber was?
Auch mir sind diese gesichtslosen Transitzonen, in die ich mich während des Fliegens begebe, entsetzlich. Überall gibt es schon Burgerking oder McDonalds. Irgendetwas mit Porschedesign oder Thumi Koffern. Orientierungslosigkeit. Der Körper weiß nicht, wo er ist. Die Seele kommt ja sowieso erst später hinterher. So steht nach der Landung auch erstmal nicht die Begegnung mit dem bereisten Land im Vordergrund sondern die Beschäftigung mit dem empfindungslosen Selbst, mit Mattigkeit und Erschöpfung, mit der Frage, was tue ich mir an? Erst, wenn ich mich aus diesem dumpfen Wust heraus gelöst habe, kann die Reise beginnen.
“Wenn es eine Erfahrung des 21.Jahrhunderts gibt, dann die des Nicht-Ortes. Er unterscheidet sich nicht von anderen Orten, hat keine Kennzeichen. Bei der Zeit entwickelt es sich ähnlich. Es wird immer schwieriger, ein Jahr vom anderen zu unterscheiden. Epochen ähneln einander, man bewegt sich durch die Geschichte wie von Flughafen zu Flughafen, von Einkaufscenter zu Einkaufscenter. So wie man irgendwo sein kann, kann man irgendwann sein“, erklärt Kulturwissenschaftler Mark Fisher in dem sehr lesenswerten Interview Wir sind alle Cyborgs. Ist das die perfekte Definition von Reisen heute: So wie man irgendwo sein kann, kann man irgendwann sein? Vielleicht lässt sich das Urlaubsland ja bald streamen so wie andere Entertainment-Formate: Musik und Video
Die Welt steht uns offen! Aber warum?
Eine Beobachtung fasziniert mich immer wieder beim Langstreckenflug. In Frankfurt oder München steigen in die Flugzeuge meist die europäischen oder amerikanischen Urlauber und Freizeitreisenden ein. Auf der Suche nach Entspannung und Erholung in exotischen Welten.
In Dubai, Singapur, Colomobo oder Auckland ändert sich überraschender Weise das Bild. In der Flugzeug-Kabine sitzen neben den Urlaubsreisenden plötzlich Arbeitsmigranten und Saisonarbeiter aus diesen begehrenswerten exotischen Welten. Sie sind dem Weg zur Kiwi-Ernte nach Neuseeland. Auf dem Weg zur Baustelle nach Dubai. Auf dem Weg zur Altenpflege irgendwo in den arabischen Emiraten oder in Europa. In der Holzklasse treffen sich die Abgehängten der Globalisierung wieder. Europas Mittelklasse resigniert und geplagt von Abstiegsängsten vereint mit der globalen Konkurrenz aus Billig-Arbeitskräften. Die Werbefilmchen der Fluggesellschaften die fantasieren wirklich das Blaue vom Himmel herunter.
Ich wage mal die steile These, dass Reisen als immaterielles Produkt die ideale Ware für unsere durchgeknallten Zeiten ist. Denn, seien wir mal ehrlich, eigentlich zahlen wir beim Reisen viel Geld für nichts. Reisen verschleiert, dass wir materiell immer ärmer werden. Denn uns scheint ja, – als Reichtums-Äquivalent – die ganze Welt offen zu stehen. Freiwillig verschleudern wir unsere sauer verdienten Penunzen für flüchtige Erlebnisse und Eindrücke unterwegs. Nach Hause nehmen wir nichts außer zweifelhaften Souvenirs, Erinnerungen und digitale Fotos. Erinnerungen, die kann mir doch keiner nehmen. Ist das die Logik, die hinter dem Langstreckenflug steckt?