Flughafen Tempelhof: Das größte Industriedenkmal Europas
Das Königsschloss in Versailles, da sind sich die Historiker einig, ist Ausdruck ausgeprägten Größenwahns. 800 Hektar Parkfläche, eine 700 Meter lange Schaufront, 51.000 Quadratmeter Fläche und hunderte Räume waren damals, an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, eine klare Ansage des Bauherrn: Ich bin der Größte!
Als ich Berlins ehemaligen Flughafen Tempelhof betrete, habe ich ein ähnliches Empfinden. Zwar ist die Flugfläche mit ihren 300 Hektar nicht mal halb so groß wie der Versailler Park, wirkt aber dadurch, dass sie unbebaut ist, umso gewaltiger – erst recht im großstädtischen Zusammenhang. Alle anderen Zahlen stellen Frankreichs absolutistischen Prunkbau par excellence locker in den Schatten: Das 1936 begonnene Flughafengebäude – das größte Ingenieurbauwerk und Denkmal Europas – erstreckt sich über eine Länge von fast 1,2 Kilometern und hat eine Bruttogeschossfläche von 300.000 Quadratmetern, von denen immerhin zwei Drittel nutzbar sind.
Tempelhof der Nazis
Dennoch war Adolf Hitler kein ausgeprägter Fan des tempelhofer Flughafens. Die Bauhistorikern Dr. Elke Dittrich, die uns in dreieinhalb Stunden durch das Gebäude führt und seine Erforschung zu ihrem Lebensprojekt gemacht hat, erzählt von vielen Unstimmigkeiten und Planänderungen.
Größenwahn spielt dabei eine Rolle: Hitler wollte einen „Weltflughafen“ für Berlin, er wollte Marmorfußböden, Wandpfeiler, massige Skulpturengruppen und schwere Natursteinfassaden. Auch die Ausrichtung der Flughafenachse auf Karl Friedrich Schinkels Kreuzbergdenkmal war kein Zufall und sollte durch eine Wasserkaskade, zu der es allerdings nie kam, unterstrichen werden. Aber selbst ohne den Zweiten Weltkrieg hätten die Wasserspiele wohl keine Chance gehabt: Sie lagen – wie der Flughafen Tempelhof selbst auch – Albert Speers monumentaler Nord-Süd-Achse der noch größenwahnsinnigeren „Welthauptstadt Germania“ schlicht im Weg.
Der Architekt Ernst Sagebiel, der den Bau des tempelhofer Flughafens zwischen 1936 und 1939 verantwortete, entsprach den monumentalen Gelüsten der Naziführung nur teilweise. Zur Stadtseite baute er blockartig und kantig, dort blickt die Fassade des Empfangsgebäudes mit ihren hoch aufragenden Fensterbahnen streng auf Berlin. Hinten dagegen, zum Flugfeld hin, stellt er eine geschwungene, freitragende, leicht wirkende Kragkonstruktion aus Stahl hin. Elke Dittrich weist auf eine Loge samt Fahrstuhl, von der aus Hitler die Flugschauen der Luftwaffe verfolgen wollte, was er jedoch nie tat: Seit 1940 degradierte sein Reichsluftfahrtminister Hermann Göring den „Weltflughafen“ zur Flugzeugfabrik Tempelhof.
Flughafen der Pioniere
Während wir durch die Räume und die langen Flure gehen, während wir am Rand des Rollfelds stehen und in die gleißende Sonne blinzeln, ist die Nazigeschichte bedrückend gegenwärtig. Die langen Reihen von Behelfsunterkünften für Geflüchtete, die wir in der Nähe sehen, erinnern unwillkürlich an die Barackenanlagen für Zwangsarbeiter, die Unternehmen wie die „Weser“ Flugzeugbau GmbH oder die Deutsche Lufthansa hier massenhaft einsetzten. Schon vor Baubeginn des heutigen Flughafens war Tempelhof als Standort eines Gestapo-Gefängnisses und eines daraus hervorgegangenen Konzentrationslagers Teil des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparats.
Dabei war hier einmal ein Ort des Aufbruchs gewesen, der allerdings von Beginn an unter militärischen Vorzeichen stand. Seit 1884 machte das preußische „Ballon-Detachement“, dem auch eine „Luftschiffer-Abteilung“ angegliedert war, das Tempelhofer Feld zu einem Übungs- und Vorführgelände für Flugversuche. Hier startete 1893 der Ballon „Humboldt“, 1897 gefolgt von einem der ersten lenkbaren Luftschiffe, das allerdings schon nach kurzem Flug explodierte und abstürzte. 1909 beehrten gleich drei Flugpioniere Tempelhof mit spektakulären Flugvorführungen, die viele Zuschauer anzogen: Ferdinand Graf von Zeppelin, Orville Wright und Hubert Latham.
Am 8. Oktober 1923 ging der erste offizielle Flughafen von Berlin in Betrieb, zunächst unter dem Namen „Flughafen Tempelhofer Feld“. Erst in den Folgejahren entstand die dazugehörige Flughafenarchitektur aus Flugzeughallen und Hauptgebäude. Bereits 1930 fertigte Tempelhof mehr Passagiere ab als jeder andere Flughafen in Europa – und wurde auch schon wieder zu klein. Ab Mai 1933 übernahm der Reichsluftfahrtminister die Verantwortung und trieb den Ausbau der Luftwaffe mit Hochdruck voran.
Berlin bleibt frei: die Luftbrücke
Die Nazis drücken Tempelhof bis heute ihren Stempel auf. Dass der Flughafen trotzdem zu einem weltweiten Freiheitssymbol avancieren konnte, verdankt er der raschen Eskalation des Kalten Krieges. Die Sowjetunion will den Westteil von Berlin in die Knie zwingen, indem sie die Zufahrtswege zu Land und zu Wasser blockiert. Die Westalliierten, allen voran die USA, antworten mit einer Versorgung der eingeschlossenen Stadt via Flugzeug.
Logistisch war das eine Meisterleistung, sagt Elke Dittrich. Allein die Kohle zum Verheizen machte rund 60 Prozent der eingeflogenen Güter aus. Die Lebensmittel bestanden vor allem aus Trockenprodukten wie Milchpulver, getrocknetem Gemüse, Trockenkartoffeln und Mehl. Legendär sind die „Candy Bomber“, die kurz vor der Landung für die schon wartenden Kinder Kaugummi und Süßigkeiten abwarfen.
Tempelhof trägt in dieser Zeit – vom 26. Juni 1948 bis zum 30 September 1949 – die Hauptlast der sogenannten Luftbrücke. Erst in deren Verlauf erhält der Flughafen befestigte Start- und Landepisten und das seinerzeit modernste Radarsystem. Trotzdem kommt es zu Engpässen durch dichten Nebel, vor allem im Februar 1949. Für die Geschichte Berlins ist die Luftbrücke ein einschneidendes Erlebnis. Fünf Berliner und 72 amerikanische und britische Piloten bezahlen sie mit ihrem Leben. Seit 1950 markiert das berühmte Luftbrücken-Denkmal am „Platz der Luftbrücke“ den Haupteingang des Flughafens Tempelhof.
„Quo vadis Tempelhof?“
Das fragte Prof. Joseph Hoppe, stellvertretender Direktor des Deutschen Technikmuseums und des Berliner Zentrums Industriekultur, im Oktober bei der Eröffnung des Siebten Berliner Forums für Industriekultur und Gesellschaft zum Thema „Flughafen Tempelhof: Europäisches Kulturerbe – Wert und Inwertsetzung“. Denn was mit dem ehemaligen Flughafen geschehen soll, ist immer noch nicht klar.
Zwar legt das Tempelhofer Feldgesetz, das 2014 aus einem Volksentscheid hervorging, die Erhaltung des Feldes als Freifläche fest. Zwar besuchen jedes Jahr rund 60.000 Menschen aus dem In- und Ausland das Flughafengebäude im Rahmen geführter Touren. Zwar sind im Flughafen Tempelhof etwa 80 Firmen und Institutionen ansässig, darunter das Berliner Polizeipräsidium. Aber darüber, wie die gewaltige historische Bausubstanz mit Inhalt gefüllt werden soll, gehen die Meinungen auseinander.
Bislang waren die allermeisten Nutzungen aus der Not geboren, allen voran die Wiedereröffnung als Flughafen 1985, um Engpässe in Tegel auszugleichen. Seit 1995 steht der gesamte Gebäudekomplex unter Denkmalschutz, und erst 2008 wurde der Flugbetrieb endgültig eingestellt. Jetzt reklamieren alle den Ort für sich: Kreativwirtschaft, Kunst und Kultur sollen hier eine Heimat finden, anderen geht es um Wohnungsbau oder den Erhalt als Architekturikone, wieder andere fordern den Denkmalcharakter ein, und Tourismusvertreter sehen vor allem das Potential zum Hotspot für Berlinbesucher.
Doch die Ratlosigkeit ist allseits groß. Wie groß, zeigt die Berufung eines Beirats von Fachleuten aus Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, der angeblich die „blickweitende Expertise eines unabhängigen und beratenden Gremiums“ besitzt, um „den notwendigen Profilbildungsprozess“ voranzutreiben.
Geschichtsgalerie auf dem Dach
Weil sich das nicht nach einem klaren Konzept anhört, ist die Frage „Quo vadis Tempelhof?“ auch im Oktober 2019 noch hochaktuell. Auf der von Joseph Hoppe eingeleiteten Veranstaltung spricht auch Elke Dittrich. Sie fordert, dass der Denkmalcharakter bei allen Überlegungen im Zentrum stehen müsse. Tatsächlich war für mich gerade die Nazivergangenheit des Gebäudes der bedrückendste und nachhaltigste Eindruck. Dem soll eine Geschichtsgalerie auf dem Dach Rechnung tragen, die die gesamte Geschichte des Flughafens Tempelhof mit all ihren Brüchen darstellen soll. Das wird schwer genug. Derzeit gibt es – außer den Führungen – kein Besucherangebot, das die Rolle des Ortes im Dritten Reich aufarbeitet. Das, finde ich, darf nicht so bleiben – erst recht, wenn sich der „notwendige Profilbildungsprozess“ derart in die Länge zieht.
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