Moderne Architektur in Tallinn
Das Rotermann Viertel in Tallinn ist total abgefahren. Denn Vergangenheit und Zukunft werden hier wild durcheinander gewirbelt. Krass futuristische Techno-Architektur stülpt sich über ein abgehalftertes Industriedenkmal und füllt es wieder mit prallem Leben.
Da, wo früher Brot gebacken, Bretter gehobelt oder Schnaps gebrannt wurde, gibt es heute Shoppen, Flanieren, Wohnen und Arbeiten. Dazu wachsen hypermoderne Gebäude zwischen alten Industriekomplexen. Natürlich sind die Arbeiter und Handwerker von einst längst ausgezogen, dafür haben hippe, kreative Brainworker das Rotermann Viertel übernommen. Dabei war Rotermann in Estland einst eine Art Synonym für Industrie.
Das Rotermann Viertel, ein Industriedenkmal
Was die Rotermann Familie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht alles hergestellt, produziert und vertrieben hat. Gemeinsam mit der Familie von Rosen zum Beispiel Schnaps. Gerade das Schnaps-Brennen muss unglaublich lukrativ gewesen sein, immerhin wurde das Heer der Zaren mit festen Wodka-Rationen besoldet. Außerdem wurde Mehl gemahlen, Salz gelagert und Baumaterialien vertrieben. Sogar das erste Autohaus Estlands stand auf diesem Gelände.
Wieder einmal ist es die sowjetische Okkupation, die das blühende Industrie-Viertel in eine gammelige Brache verwandelt. Irgendwann war das Rotermann Viertel durch die Planwirtschaft so verrottet, dass Andrei Tarkovsky hier ein abgerocktes Set vorfand, um seinen apokalyptischen Science Fiction Stalker zu drehen.
Nach der Wende war diese Brache zwischen Altstadt und Ostsee das ideale Areal, ein neues attraktives Stadtviertel zu entwickeln. Dabei war die Vision der Investoren Wohnen, Arbeiten, Shoppen in einem Stadtviertel der kurzen Wege, deswegen können auch die Autos draußen bleiben. Darum ist das Roterman Viertel Fußgängerzone und damit richtig entspannend!
Hypermodern: Freilichtmuseum Rotermann Viertel
Ich erlebe das Rotermann Viertel als eine Art Freilichtmuseum für die zeitgenössische estnische Architektur. Die Architekten, die hier bauen, kommen fast alle aus Tallinn. So viele aktuelle Architektur, eng zusammengerückt auf einem Spot, lässt sich im Baltikum sonst nirgendwo entdecken. Dabei steht das Rotermann Viertel unter Denkmalschutz, darum müssen die alten, maroden Gemäuer restauriert werden. Auch darf nicht höher als 24 Meter gebaut werden, außerdem müssen sich die neuen Gebäude in das existierendes historisches Ambiente harmonisch einpassen.
Auf diese Herausforderungen reagieren die Architekten mit fantastischen Entwürfen. Da ist zum Beispiel die alte Tischlerei, das Architektur Büro Koko hat dem schmächtigen Kalksteinbau drei futuristische Techno-Türme aufs Dach gesetzt. Sie sind von Industrie-Kühltürmen inspiriert aber scheinen über dem Dach zu schweben. An den Ecken gibt es dreieckige Fenster Schlitze. Nachts sind sie rot erleuchtet. Dann funkeln sie wie die Augen einer Raubkatze. Das passt hierher, denn Estland war vor der Finanzkrise der führende baltische Tigerstaat.
Aus alt mach neu!
Auf der anderen Seite der zentralen Plaza des Rotermann Viertels steht eine quadratische Rostlaube. Der alte Mehlspeicher. Ein Entwurf des estnisch-japanischen Architekten-Duos Hayashi und Grossschmidt. Robuster und klarer als mit dieser Fassade aus rostigem Stahl lässt sich die verblichene Industrie-Atmosphäre des Ortes nicht formulieren. Die großzügigen Erker und die Panorama-Fenster verdeutlichen allerdings, dass hier niemand mehr einer schmutzigen, schweißtreibenden Arbeit nachgeht. Das Rotermann Viertel ist wirklich Brainworker World! Direkt neben dem Mehlspeicher ein Haus mit Stelzen aus Holz, auch hier wird ein traditionelles Material verwendete. der Entwurf stammt von dem Architektur Büro Alvers.
Im Rotermann Viertel verschmelzen die alten Idustriebauten auf fantasievolle Weise mit aktueller Architektur. Die Materialien, die in den neuen Häusern verbaut werden, passen ziemlich gut zum historischen Ambiente. Backstein sowieso, der wurde an vielen Orten in Tallinn vermauert. Samtig-braun und rot korrodierter Stahl passt immer zu Hafen und Schifffahrt. Dynamische Bodenwellen zwischen den Häusern erinnern an die bewegte See. Spitz zulaufende Hausecken, lassen behäbige Steinmassen wie schnittige Ozeanriesen erscheinen.
Eine Fassade lässt mich sogar an den Blasebalg einer Quetschkommode oder die hutzeligen Giebel windschiefer Gemäuer in der Altstadt denken. Das Rotermann Viertel ist noch längst nicht fertig, darum wird überall gebuddelt und gemörtelt. Ich bin gespannt, welche aufregenden Gebäude ich bei meinem nächsten Besuch in Tallinn hier entdecken kann.
Klar, manches an dieser Architektur sieht ein bisschen so aus, als ob Tallinn auf Deubel komm raus am hypermodernen Image bastelt. Deswegen gehe ich geh jetzt ins Estnische Architektur Museum, um ein bisschen theoretischen Input zu bekommen.
Das Estnische Architektur-Museum
Das Estnische Architektur-Museum steht von Straßen umbraust auf einer winzigen grünen Verkehrs-Insel am Hafenrand. Zum Glück hat es eine solide Hülle aus weiß glänzendem Kalkstein. Es ist in einem ehemaligen Salzspeicher untergebracht. Der sieht festungsartig solide aus.
Drinnen aber ist es licht und geräumig. Schon beim Eintritt in das Estnische Architektur-Museum wird mir klar: hier bin ich richtig. Überhaupt jeder, der eine Faszination für Spielzeugeisenbahn, Faller-Häuschen-Bau, Miniatur-Welten mitbringt, ist hier richtig. Denn im Architektur Museum gibt es jede Menge hervorragend gearbeitete Hausmodelle zu bewundern.
Mich begeistert besonders ein Zeitstrahl, auf dem die Chronologie der estnischen Architektur vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Zukunft des laufenden 21. Jahrhunderts beispielhaft komprimiert ist.
Wahnsinn, wie schnell sich die Architekten in den 20er Jahren vom deutschen Historismus und dem finnischen Romantismus entfernen und eine eigene funktionalistische Formensprache entwickeln. Die behalten die Architekten auch während der sowjetischen Okkupation bei. Nach einem Ausflug in die verspiegelte Investoren-Architektur der 90er Jahre gibt es nun eine Generation von jungen Architekten, die mit rechtem Winkel, Kreis und Quadrat ziemlich fantasievoll spielen.
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Entspannen in der Sky Lounge
Eine gute Mischung aus schönen Exponaten zum Anschauen und informativen Texten, die erklären und einordnen, machen für mich den Besuch des Estnischen Architektur-Museums zu einem lohnenden Ereignis. Jetzt möchte ich mir Zersiedlung und Urban Sprawl in Tallinn genauer anschauen. Also bummele ich durch Tallinns geschäftiges Zentrum.
An der Narva Maantee, der Narva Straße, steht ein Gebäude, das aussieht wie ein gigantischer Ozeanriese. Etwas weiter am Rävala Puistee, dem Rävala Boulevard, steht ein Geschäftshaus, ganz und gar übergossen mit Buchstabensuppe. Und dann komme ich auch schon ans Radisson Blu Sky Hotel von Tallinn.
Ich nehme den Aufzug und fahre hinauf in den 24 Stock zur Lounge 24. In 90 Meter Höhe mit einem untypischen Aperol-Spritz im Glas habe ich einen sensationellen Ausblick über das Zentrum von Tallinn und weit darüber hinaus. Ich kann den Ülemiste-See sehen, die Plattenbauten aus sowjetischer Zeit und den Park von Kadriorg mit dem Schloss Catherinenthal. Dort befindet sich auch das Kumu, das Kunstmuseum von Tallinn. Der nächste Tallinn-Tipp.