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46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen
46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen

46 Stunden – Zugfahrt mit Hindernissen

Wer sagt, dass auf Reisen alles glattläuft? Eine Bahn hat Verspätung. 30 Menschen stranden in Bordeaux, weil der Nachtzug nach Lissabon nicht wartet - ein Missgeschick, das zusammenschweißt. Von Deutschland nach Portugal in 46 Stunden: Slapstick à la SNCF.
Inhalt

Dem Fahrplan hinterher rennen

Reisende nach Lissabon werden gebeten, in Dax auszusteigen. Peng! Der Nachtzug nach Lissabon wird nicht mehr erreicht. Peng! Bitte fahren Sie mit dem nächstmöglichen Zug zurück nach Bordeaux, Sie werden dort erwartet. Peng!

Wie bitte? Haben wir uns verhört? Das verlängert unsere Fahrzeit auf mindestens 46 Stunden, schießt es mir durch den Kopf. Meinen die das ernst? Vielleicht liegt’s ja an unserem Französisch. Vielleicht haben wir einfach die Durchsage falsch verstanden.

In einem französischen Zug gibt es natürlich nur französische Durchsagen. Wir sitzen in einem TGV, dem französischsten aller Züge und Stolz der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, seiner Schnelligkeit wegen. Heute sind wir nicht so schnell, wir hinken dem Fahrplan eine Stunde hinterher. Unser Ziel ist Lissabon, aber da fährt uns der TGV nicht hin. Der fährt nur bis Irun an der Grenze zu Spanien. Die Grenze liegt keine 50 Kilometer von hier und doch in weiter Ferne. Aber der Reihe nach.

46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen
Hier ist die Welt noch in Ordnung: Bahnhof im französischen Baskenland auf dem Weg nach Irun.

Alles ist gut – vorerst jedenfalls

Wir machen diese Reise nicht zum ersten Mal. Als wir am Morgen um kurz nach fünf in Köln den Zug besteigen, wissen wir noch nichts von den 46 Stunden, die uns bevorstehen. Wir schwitzen, die Luft ist feucht und schwül – knapp 30 Grad schon um diese Uhrzeit. Klimatisiert und ohne Zwischenfälle rauschen wir nach Paris. Raus aus dem Zug, rein in die Metro zur Gare de Montparnasse, wir kennen das. Im Wartebereich hängt eine kleine Ausstellung mit Natur- und Industriefotografien. Herumschlendern, Croissants kauen, Kaffee trinken, Leute beobachten, so vergeht die Zeit bis zur nächsten Zugabfahrt.

Der TGV nach Irun steht pünktlich am Gleis und nimmt bereitwillig hunderte Passagiere auf, auch in Frankreich sind Ferien. Zielstrebig kämpfen wir uns durch das Koffergetümmel und sinken mit einer glatten Bewegung auf die reservierten Plätze. Alles ist gut, nur ein defekter Zug steht noch im Weg. Dass wir schließlich mit einer Stunde Verspätung starten, beunruhigt uns nicht weiter.

46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen
An Pariser Bahnhöfen kann man sich die Wartezeit sogar mit Klavierspiel vertreiben

Im Zug mit Polanski

Aufregung dafür später beim Gang zum Speisewagen. Acht von 46 Stunden sind um. Die Klimatisierung funktioniert gut, trotzdem sind die Kehlen trocken, die der Kinder und die eigenen. Hast du gesehen, wer da sitzt, fragt Susana, kaum dass wir wieder an unseren Plätzen angekommen sind. Sie erkennt jeden, das ist eine ihrer Begabungen, nur fallen ihr die zugehörigen Namen nicht immer ein. Wen denn, frage ich ahnungslos. Diesen Regisseur. Welchen Regisseur? Der diesen Vampirfilm gemacht hat.

Ich weiß sofort, welchen Film sie meint. Sie kann ihn nicht leiden, ich finde ihn wunderbar, auch wenn ich sonst nichts mit Vampiren am Hut habe: Tanz der Vampire. Ich falle aus allen Wolken. Roman Polanski sitzt im Zug? Ja, da vorne, einen Wagen weiter, direkt vor der Tür, er schläft.

Elektrisiert gehe ich zurück, tue so, als suchte ich die Toilette, und schlendere vollkommen unauffällig an der besagten Stelle vorbei. Das ist doch nicht Polanski, der sieht doch völlig anders aus. Ist er wohl! Quatsch! Wir befragen Wikipedia. Siehste! Wieso siehste, entgegne ich entrüstet, der Schläfer hat doch überhaupt keine Ähnlichkeit mit Polanski. Noch zweimal gehe ich wie zufällig durch den angrenzenden Waggon. Sie hat Recht, da sitzt er, ich hatte in die falsche Richtung geschaut.

Jagd nach dem Schaffner

Roman Polanski macht es richtig, er steigt in Bordeaux aus. Wir bleiben sitzen. 12 von 46 Stunden sind um. Wir haben immer noch reichlich Verspätung und fragen den Schaffner, ob der Nachtzug nach Lissabon auf uns warten wird. Er runzelt die Stirn unter dem kahlen Schädel: Wir stehen in Kontakt, momentan kann ich Ihnen dazu nichts sagen. Kurze Zeit später ertönt seine Durchsage: Der Nachtzug wird nicht erreicht. Peng!

Es folgt ein Katz-und-Maus-Spiel. Der Schaffner macht sich rar. Wo ist er? Adam sucht ihn auch. Er ist Schotte, lebt seit Jahren in Frankreich und ist mit seinem Vater unterwegs. Sie haben sich in Frankreich umgesehen, nun soll es nach Lissabon gehen und anschließend noch ein paar Tage nach Dänemark – eine recht eigenwillige Route. Adam spricht fließend Französisch und wird so etwas wie unser Dolmetscher.

Im übernächsten Wagen stellen wir den Schaffner und fragen ihn aus. Wie soll es weitergehen? Warum wartet der Nachtzug nicht auf uns? Wieso will man uns zurück nach Bordeaux schicken? Viel ist nicht aus dem Mann herauszubekommen. Immerhin erfahren wir, dass die SNCF in Irun keine Vertragshotels hat. Deshalb Bordeaux. Der Nachtzug ist weg.

Gleich nebenan sprechen uns zwei ältere Paare an, Farmer aus Westaustralien. Sie beenden gerade ihre Frankreichrundreise und wollten eigentlich am nächsten Tag eine mehrtägige Flusskreuzfahrt auf dem Douro in Nordportugal antreten. Aber dazu müssen sie erst nach Lissabon. Let’s hitchhike the train, kapern wir den Zug, schlägt Ian vor, einer der Australier. Auch später verliert er nie seinen Humor.

46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen
Links der TGV, den wir gerade verlassen haben. Der Schaffner (mit Glatze) ist das Problem los, für uns fängt die Malaise erst an.

Zurück auf Los

Wir verfolgen den Schaffner noch eine Weile durch den Zug, fragen nach einem Kontakt der Dienststelle in Bordeaux, die uns sagen kann, wie es weitergeht – alles zwecklos. In Dax, nicht weit von Bayonne und Biarritz, finden wir uns auf dem Bahnsteig wieder, alles in allem rund 30 Gestrandete. Portugiesen, die seit Jahren in Frankreich leben und arbeiten und nur in den Ferien in die alte Heimat fahren. Eine junge Niederländerin, die ihren Vater in Portugal besucht. Ein belgisches Ehepaar, das im Zug nach Lissabon reist, um das Klima zu schonen. Adam und sein knarziger Vater, der selbstgedrehte Zigaretten raucht. Um den Hals trägt er einen mit Troddeln und Metallscharnier verzierten schottischen Geldbeutel aus Fell.

Im überfüllten Regionalzug fahren wir zurück nach Bordeaux und beratschlagen über gemeinsame Forderungen an die SNCF. Hotelübernachtung natürlich, Kompensation für die verlorene Zeit – mit unseren 46 Stunden sind wir Spitzenreiter –, kostenlose Buchung gleichwertiger Sitz- bzw. Schlafplätze im Nachtzug am nächsten Abend. Da gibt’s keine Plätze, wirft Adam ein, jedenfalls nicht in den Schlaf- und Liegewagen. Er weiß das, weil er ursprünglich einen Tag später reisen wollte, aber keine Fahrkarten mehr bekam. Wenn das so ist, sollen sie eben einen Bus bereitstellen. Dann ruft Adam noch seine französische Freundin an, sie soll die Flugverbindungen checken. Das Ergebnis ist ernüchternd: Ab 300 Euro aufwärts kosten die Tickets – zu teuer für die SNCF und auch für uns.

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Zurück in Bordeaux: Wie geht es weiter? Die Mitarbeiter am SNCF-Schalter sind überfordert. Es ist kurz nach acht Uhr abends.

Gestrandet in Bordeaux

In Bordeaux belagern wir sofort den Informationsschalter. Es ist mittlerweile acht Uhr abends, 15 von 46 Stunden sind um. Die australischen Farmersfrauen zeigen erste Erschöpfungserscheinungen. Die SNCF-Mitarbeiter wissen von nichts. Unter der Führung von Adam dringen wir auf sie ein, die Belegung des Nachtzugs von Irun nach Lissabon am nächsten Abend zu prüfen. Das können wir nicht, sagen sie, kommen Sie morgen wieder.

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Auf dem Weg zum Hotel – die SNCF spendiert uns eine Übernachtung in Bordeaux. Die Stimmung könnte besser sein…

Nur die Hotelübernachtung wird anstandslos gewährt. Und etwas zu essen, bekommen wir das auch? Kurze Zeit später taucht eine Mitarbeiterin mit einer Sackkarre voller Kartons auf. SNCF Assistance steht darauf. Müde nehmen wir die „Mahlzeit“ entgegen, verabreden uns für acht Uhr morgens am nächsten Tag und machen uns mit Sack und Pack auf in das nahe gelegene Hotel. Die Verpflegung im Karton entpuppt sich als Mogelpackung – Wasser, ein Keks und Apfelmus, sonst nichts. Wir wollten sowieso essen gehen. Bordeaux ist schön, das wissen wir von unserer letzten Reise.

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Mahlzeit! Verpflegung à la SNCF

Überraschung am Morgen

Auf dem Weg zum Frühstück treffen wir Adam am Telefon. Er versucht die Flusskreuzfahrt für die Australier zu retten. Sie können später zusteigen, aber wer bringt sie zum Schiff? Um Punkt acht Uhr – 27 von 46 Stunden sind um – versammeln wir uns wieder am Schalter der SNCF. Dort empfängt uns das übliche Achselzucken. Nach einigem Hin und Her taucht endlich eine Mitarbeiterin auf, die unsere Situation ernst nimmt. Sie spricht sogar Englisch.

Adam verhandelt, wir anderen schalten uns ab und zu ein. Schließlich heißt es, im heutigen Nachtzug seien noch Plätze frei. Haben Sie das geprüft, fragen wir. Ja, sagt die Mitarbeiterin. Außerdem teilt sie uns mit, dass Erstattungen nur auf schriftlichem Weg beantragt werden können. Sie verteilt Formulare und sorgt dafür, dass unsere Fahrkarten einen gestempelten Vermerk erhalten. Unser Zug nach Bordeaux gehe um 9.37 Uhr, erfahren wir zum Abschluss. Um 9.37 Uhr schon? Sicher ist sicher, erwidert sie todernst.

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Wieder ratlose Gesichter am SNCF-Schalter in Bordeaux – genau zwölf Stunden nach unserer Ankunft am Abend davor.

Begeistert sind wir nicht – die Wartezeit bis zum Abend hätten wir lieber in Bordeaux verbracht. Aber die SNCF hat offenbar genauso wenig Vertrauen in die Pünktlichkeit ihrer Züge wie wir. Also holen wir unser Gepäck vom Hotel und fahren zum dritten Mal die Strecke Richtung Irun. Unterwegs erleben wir eine Überraschung: Eine aus unserer Gruppe – sie und ihre beiden Kinder waren als einzige in einem anderen Hotel untergebracht – berichtet, in Irun stünde ein Sonderbus für uns bereit. Das hätten ihr SNCF-Mitarbeiter am Morgen im Hotel mitgeteilt. Wir reiben uns die Augen. Die 29. von 46 Stunden ist soeben angebrochen.

Im Bus nach Lissabon

Der Bus steht tatsächlich vor dem Bahnhof, als wir in Irun ankommen. Ich steig da nicht ein, grummelt Adams Vater und dreht sich trotzig eine Zigarette. Am Ende sitzt er doch drin. Hat er eine andere Wahl? Auch die Australier sind unschlüssig. Sie müssen irgendwie nach Porto und von da aus ihrem Schiff nachfahren. Aber Porto liegt nicht auf der Strecke. Sie können ja in Coimbra aussteigen und dann weiter nach Porto fahren, schlagen die beiden Busfahrer und die SNCF-Mitarbeiterin vor, die uns empfangen. Wann sind wir denn in Coimbra, fragt Adam. Gegen Mitternacht, lautet die Antwort. Da können wir uns die Anschlusszüge ja aussuchen, seufzt Ian sarkastisch. Die Australier sind mit Europa ziemlich durch.

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Bus statt Zug: Ab Irun geht’s auf der Straße weiter.

Mittags um fünf nach eins setzt sich der Bus in Bewegung. 32 von 46 Stunden sind um. Die Busfahrer reden ohne Unterlass und lachen viel. Nach kaum anderthalb Stunden machen wir die erste Pause. Adam hängt wieder am Telefon, um für die Australier einen nächtlichen Transfer von Coimbra zum Schiff zu organisieren. Die Stimmung ist leidlich, alle sind froh, dass es endlich weitergeht. Mittlerweile ist aus dem zusammengewürfelten Haufen eine richtige Reisegruppe geworden.

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Die ersten Kilometer auf der Autobahn: Noch 16 Stunden bis Lissabon!

Ankunft nach 46 Stunden

In der spanischen Meseta beginnt es zu dämmern. Die Sonnenblumen blicken der sinkenden Sonne hinterher. Wir sehen viele verlassene Dörfer. Kurz vor der portugiesischen Grenze legen wir eine letzte Essenspause ein. Wir sind gut in der Zeit, trotzdem zieht sich die Busfahrt in die Länge. Dass sie so lange dauert, damit hatte niemand gerechnet. Aber es wollen eben nicht alle nach Lissabon, einige steigen schon früher aus: in Celorico da Beira und Santa Comba Dão zum Beispiel – Kleinstädte, in denen auch der Nachtzug hält. Coimbra erreichen wir wie vorgesehen kurz nach Mitternacht. Adam hat es tatsächlich geschafft: Die Australier werden abgeholt und liegen wahrscheinlich noch vor Morgengrauen in ihren Schiffskojen.

In Lissabon kennen sich die beiden Fahrer nicht aus. Sie heuern einen Taxifahrer als Lotsen an. Als wir aus dem Bus steigen, weht uns vom Tejo ein warmer Wind entgegen. Es ist halb drei Uhr morgens Ortszeit, halb vier nach deutscher Zeit. Nach 46 Stunden haben wir unser Ziel erreicht.

Wenn Du Dich für Zugfahren interessierst, findest Du hier mehr Reiseberichte:

Epilog

Ob wir nach diesem Erlebnis dieselbe Reise wieder mit dem Zug machen würden? Na klar! Auch Pannen sind Erlebnisse, das haben auch die Kinder mitgekriegt. Und hätten wir sonst Adam und Ian und all die anderen kennen gelernt? Denn bei allem Frust: Wir hatten auch lustige Momente miteinander. Und wer weiß – vielleicht sehen wir uns mal wieder, in Schottland oder Australien zum Beispiel. Es fehlt eigentlich nur noch das Polanski-Autogramm. Aber wer reißt dafür schon einen Star aus dem Schlaf?

46 Stunden - Zugfahrt mit Hindernissen
Gruppenbild mit Bus. Wir reisen im „Springenden Basken“. Am linken Bildrand telefoniert Ian. Auch die schottische Geldbörse ist zu sehen. Sie hängt am Hals des Herrn mit dem schwarzen Hemd.