Die Katakomben von Neapel – Ein geheimnisvolles Labyrinth
Neapel ist eine Stadt der herben Kontraste und scharfen Extreme. Schillernd zwischen erhabener Schönheit und groteskem Verfall. Zerrissen zwischen fantastischem Reichtum und trostloser Armut. Verstrickt im Kampf zwischen den Guten der Zivilgesellschaft und den Bösen der Camorra. Und dann ist da noch der krasse Gegensatz zwischen dem hitzigen Sonnenlicht des Südens und der zwielichtigen Dunkelheit der Unterwelt Neapels und seiner Katakomben.
Schon die griechischen Stadtgründer Neapels haben vor über 2500 Jahren begonnen den weichen Tuff unterhalb Neapels auszuhöhlen. Sie verlegten Wasserleitungen und brachen Zisternen aus dem weichen Gestein. Dieses unterirdische Labyrinth verwucherte in Neapel über die Jahrhundert zu einem weit verzweigten Gewirr aus Brunnen, Fluchtgängen, Höhlen, Schutzbunkern, archäologischen Grabungen und Katakomben.
Von der emsigen Maulwurfsarbeit jener dunklen Vergangenheit, profitiert Neapel bis in die Gegenwart. Denn längst sind die Geheimnisse dieser verworrenen Unterwelt ausgeleuchtet und für den Tourismus erschlossen. Darum kommen heute Groß und Klein im Untergrund Neapels auf ihre Kosten. Napoli Sotterranea bietet etwas für jeden Geschmack, archäologische Unterweisung zum Beispiel in der Grabung unterhalb des Klosters von San Lorenzo. Oder stimmungsvolle Unterhaltung in Aquädukten und Zisternen. Und dann gibt es noch Grusel und Schauer über obskure Totenkulte im Schattenreich der Friedhöfe und Katakomben von Neapel.
Die geheimnisvollen Totenwelt von Neapel
Das erste Mal, dass ich in die Katakomben Neapels hinunter gestiegen bin, ist schon viele, viele Jahre her. Damals standen die unterirdischen Friedhöfe von Neapel tatsächlich noch unter kirchlicher Verwaltung. Wie alle Katakomben in Italien wurden sie durch den allgegenwärtigen Vatikan kontrolliert. Im fernen Rom hatten sie allerdings genug zu tun mit ihren eigenen Katakomben, deshalb konnten sie zum Beispiel die fantastischen Katakomben von Gennaro getrost links liegen lassen. Also schnarchten diese Katakomben in Neapel in einem modrigen Dornröschenschlaf dahin, dabei sind sie doch so überraschend eindrucksvoll.
Die Katakomben von San Gennaro wurden schon in der heidnischen Antike als Friedhof angelegt. Deswegen liegen sie außerhalb der griechischen Stadt, in einer Talsenke, ausgewaschen von einem heute verschwundenen Flüsschen. Ihre Lage, unterhalb des Hügel von Capodimonte, ist gut zu erkennen. Denn diese wird markiert von einer gewaltigen Kirche, die aussieht wie eine schwachbrüstige Kopie des Petersdoms in Rom. Von hier oben steigt der Besucher in die Totenwelt der Katakomben von Neapel hinunter.
Die Katakomben von San Gennaro
Die Katakomben von San Gennaro sind nach Jannuarius dem hochverehrten Stadtpatron Neapels benannt. Der Bischof von Benevent erlitt sein Martyrium zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian im Amphitheaters von Pozzuoli. Anfang des 5. Jahrhunderts wurden seine Gebeine in der Katakombe unterhalb des Hügels von Capodimonte beigesetzt. Seitdem trägt der antike Friedhof seinen Namen.
Nach der Übertragung des Gennaro Grabes, begann die unterirdische Grablege zu wachsen. Denn die frühen Christen mutmaßten, dass am Tag des jüngsten Gerichts, die Nähe des Grabes eines Heiligen nur von Vorteil sein konnte. Die Vermutung war, dass Heilige am letzten Tag nicht nur schneller in den Himmel aufführe sondern auch schneller vor dem Weltenrichter stünden. Die Christen hofften, dass die Toten in der Nähe des Heiligengrabs von dieser privilegierten Fast Lane profitieren konnten; also ebenfalls zügig vor dem jüngsten Gericht standen und sich nicht in der langen Warteschlage der Normalsterblichen die Beine in den Bauch stehen mussten. Wahrscheinlich wurde vor Gericht auch die Fürbitte eines Heiligen vom Format eines Gennaro als segensreiche Hilfe angesehen.
Die Katakomben von San Gennaro sind besonders beeindruckend, weil sie anders als viele andere antike Friedhöfe nicht nur aus langen Gängen und Korridoren bestehen. Im Untergrund gibt es sogar Kapellen und Kirchen. In der Kirche des heiligen Aggripinus, einem Bischof Neapels aus dem 3. Jahrhundert sind sogar der Bischoftsstuhl und der Altar aus dem lebendigen Felsen noch erhalten. Besonders schön sind auch die frühchristlichen Mosaike und Malereien.
Die Rione Sanità – Echt Neapel!
Unten im Tal, dort wo vor Jahrhunderten die Toten zur Ruhe gebetet wurden, tobt heute das pralle, durchgeknallte neapolitanische Leben. Das Stadtviertel Rione Sanità soll eines der letzten Refugien für echtes, brodelndes neapolitanisches Lebensgefühl sein. Also zum Beispiel echt gefährlich, darum Taschen festhalten. Außerdem laut, tatsächlich knattern ständig lärmende Vespas vorbei. Dreckig! Stimmt, entlang der Bürgersteige und Straßen hat sich ein übles Sediment aus Wohlstandsmüll abgelagert.
Das ist eine ideale Kulisse für Sozialromantik oder Abbild dieser elendigen wirtschaftlichen Situation, in der viele Menschen an der südlichen Peripherie Europas leben müssen. In der Rione Sanità lässt sich gut vergessen, dass Italien zu den G7 Staaten, den reichsten Industrieländern der Erde, gehört. Denn falls es im Sanità Viertel irgendeine Form materiellen Reichtums geben sollte, ist der richtig gut getarnt.
Ideeller Reichtum dagegen ist in Hülle und Fülle vorhanden, Kunst, Kultur, Geschichte! Zum Beispiel diese faszinierenden Friedhöfe. Neben den Katakomben von San Gennaro sind das die Katakombe von San Gaudeoso und der Cimitero delle Fontanelle. Deswegen verschränken sich in Neapels Rione Sanità explosive mediterrane Lebendigkeit und melancholischer Moder zu einer prallen Vanitas Allegorie.
Vergänglichkeit, herrlich! Alles ist eitel, wie toll! Denn am Ende treffen wir uns alle wieder in der Unterwelt! Überzeugender hätte sich diese stimmungsvoll existentielle Mischung keine Werbe-Agentur ausdenken können.
We work here to change things!
Die Katakomben von Neapel sind längst aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Den Helden in dieser Erfolgsstory spielt eine Kooperative junger Menschen aus der Rione Sanità. Die Cooperativa La Paranza vermarktet die Katakomben von Neapel mit großem Engagement. Paranza lässt sich mit Fischerboot oder Fischernetz übersetzen.
“We were born in Rione Sanità and we work here to change things.“ So beschreibt sich die Cooperative auf der Website Catacombe di Napoli. Und arbeiten können diese jungen Neapolitaner*innen. Die Katakomben von San Gennaro zum Beispiel wurden von Unrat gesäubert, mit neuer Beleuchtung ausgestattet und tatsächlich als einzige Katakombe der Welt barrierefrei für Menschen mit Behinderungen zugänglich gemacht. Großartig! Wer sich eine Katakombe aus schaurigen, feuchten und dunklen Gänge vorstellt, ist von den Katakomben vielleicht enttäuscht. Alles sehr sauber und perfekt organisiert, Tote machen eben keinen Schmutz.
Zwar haben die Katakomben von Neapel durch die zackige Vermarktung ihren Charakter als echter Geheimtipp verloren. Dafür kommen die Besucher aber in Kontakt mit Neapel und hören von den jugendlichen Katakomben-Guides aufregende Geschichten, wie sich Neapel verändert und modernisiert. Klar wird der gewichtige Unterschied zwischen Arkosol- oder Loculi-Gräbern erklärt. Geheimnisvolle Bestattungsrituale der Antike werden beleuchtet. Auch die Bedeutung des Vogels Pfau als Symbol für die Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung im Paradies wird tiefsinnig erörtert.
Viel interessanter aber als die Erklärung der spektakulären Katakomben sind die Erzählung der jungen Menschen über ihr Leben in der Rione Sanità. Wie sie sich mit der Cooperativa La Paranza Arbeitsplätze und damit ihre Zukunft selber erarbeitet haben. Welche abwechslungsreichen Freizeitangebote für jungen Menschen interessante Perspektiven eröffnen. Wie sie tatsächlich Hoffnung und Optimismus unter abgehängten, jungen Menschen verbreiten: Du kannst was auf die Beine stellen!
Die Cooperativa La Paranza organisiert Besichtigungen in den Katakomben von Neapel
Mit Unterstützung der Kirche in Neapel, privaten Stiftungen und der Hilfe von engagierten Neapolitanern haben es inzwischen 20 junge Menschen geschafft, die Cooperativa La Paranza im Sanità Viertel zu etablieren. Die italienische Politik aber blieb draußen vor. Darauf legt Enzio Porzio, einer der Gründer der Cooperativa La Paranza, großen Wert.
Die Unternehmensziele sind klar definiert: Touristische Erschließung der Rione Sanità. Die Cooperativa La Paranza arbeitet als Sozialunternehmen, das heißt Förderung und Teilhabe von Minderheiten und Menschen mit Behinderungen sind ebenso fester Bestandteil der Unternehmensziele wie das wirtschaften mit den Mitteln der Legalität.
So klare Bekenntnisse besitzen in Neapel, einer Stadt, in der die organisierte Kriminalität zu den wichtigsten Arbeitgebern für die perspektivlose und abgehängte Jugend fungiert, Leuchturm-Qualität: Seht her, es geht auch anders. Wir heben die Schätze der Vergangenheit, werten sie auf und machen sie als Geschichte unserer großartigen Heimatstadt Neapel den Menschen aus aller Welt zugänglich. Denn unsere Kultur ist die Ressource, aus der wir unsere Zukunft bauen. Wahrscheinlich ist das komplizierter und anstrengender als die hervorragend und steuerfrei entlohnte Arbeit als draufgängerischer Drogenkurier. Dafür aber macht die Arbeit in der Kooperative die jungen Menschen sichtlich stolz. Und bietet Chancen!
Kulturelles Kapital – Die Katakomben von San Gaudeoso
Mit Friedhofstourismus begonnen hat die Cooperativa La Paranza in der Katakombe von San Gaudeoso unter der barocken Kirche Santa Maria di Sanità. Auch diese Katakomben gehen auf antike und frühchristliche Wurzeln zurück. Aber anders als die Katakomben von San Gennaro wurden die von San Gaudeoso seit dem 17. Jahrhundert wieder als Friedhof genutzt. Die Tuffstein-Grotten boten sogar ideale Voraussetzungen für ein bizarres Bestattungsritual, das die Spanier nach Neapel und Kampanien importierten. Die Scollatura. Ich habe Scollatura mal im Wörterbuch nachgeschlagen, dort wird es mit Ablösen oder Dekolleté übersetzt. In den Katakomben von San Gaudeoso verstehen sie unter Scolaturra folgendes:
Ein Toter wird hockend in einer Tuffstein-Nische über einer kleinen Grube positioniert. Danach wird der Hinterkopf durch eine kopfgroßes Loch in der Rückwand geschoben. So wird der Körper in einer hockenden Position fixiert. Das muss blitzschnell gehen, noch bevor die Leichenstarre einsetzt. Blut, Urin, Kot, Wasser, zarte Membranen, Körperflüssigkeiten können nun in die Grube abtropfen und zügig im porösen Tuff versickern. Außerordentlich praktisch!
Der Leichnam trocknet aus. Haut, Sehnen, Muskeln werden brüchig. Gerade am dünnen Hals setzt der Zerfall besonders schnell ein. Die zarten Sehnen am Hals können das Gewicht des aufgehängten Körper nicht mehr halten. Der sündige und verachtete Leib sackt in die Tiefe. Der Kopf bleibt oben festgeklemmt.
La Scollatura. Nichts für Weicheier
Hartgesottene Mönche mit Nerven aus Stahlseilen machten sich nun daran, den abgelösten Schädel von schründigen Fleisch- und Hautfetzen zu reinigen. Der blitzeblanke Totenkopf wurde mit den Augenhöhlen nach vorne in eine Wand vermauert. Auf die Wand unterhalb des Schädels wurde eine prächtige Robe oder ein schmucker Anzug gemalt.
So entstand eine aberwitzige und perverse Allegorie auf den trügerischen Schein der irdischen Existenz und die ganz gewisse Ewigkeit des Todes. Krass. Mir schwirren Bilder aus den stubenreinen Leichenpräsentationen eines Gunter von Hagen durch den Kopf. Verglichen mit dem Grusel-Laboratorium in den Katakomben von San Gaudeoso kommen seine Körperwelten rüber wie ein sinnentleerter Ponyhof.
Genauso wie heute die Körperwelten wurden die Katakomben von San Gaudeoso im 17. Jahrhundert besucht. An strenge Gerüche des Verfalls und der Verwesung waren die Menschen der damaligen Zeit angeblich gewöhnt. Da waren sie vielleicht nicht so zimperlich wie wir modernen, olofaktorischen Weicheier. Denn die blutige Grausamkeit öffentlicher Hinrichtungen und Folter hat die Empfindsamkeit der Menschen sicherlich ebenso abgehärtet, vielleicht sogar verroht. Aber welchen Eindruck hinterließen beim Betrachter, die menschlichen Leiber in verschiedenen Phasen der Verwesung? Ich male mir diese Grabhöhle als ein summendes Paradies für Würmer und für Fliegen aus. Und dann versagt meine Fantasie ganz schnell an der Ekelgrenze!
Dass die Faszination für Schädel in Neapel die Jahrhunderte überdauerte, kannst Du wenige Schritte von der Katakombe San Gaudeoso überprüfen. Denn dort liegt der Cimitero delle Fontanelle. Was die Neapolitaner dort mit Schädeln anstellen, erfährst Du im Post: Neapel. Heißer Draht ins Jenseits.
Wenn Du mehr über Neapel erfahren möchtest, lies auch diese Artikel:
- Lecce – Die charmante Hauptstadt des Salento in Italien
- Neapel Reisetipps: 12 Tipps für eine perfekte Neapel Reise
- Paestum: Tempel, Weltkulturerbe & Mozzarella
- Pozzuoli – Leben mit dem Supervulkan
- Neapel Sehenswürdigkeiten – Die schönsten Highlights darfst Du nicht verpassen
- Alberobello & Trulli-Häuser – Schlumpfhausen in Apulien
- Pompeji – Ausgrabungen einer römischen Stadt
- Caravaggio in Neapel – Ein Genie auf der Flucht
- Golf von Neapel Reiseberichte
- Frankreich Reiseberichte
- Padua: Palazzo della Ragione, Universität & Santa Giustina
- Vilnius Reisebericht: Vom Tor der Morgenröte bis zur Neris
Katakomben von Neapel Service:
Wenn Du die Katakomben von San Gennaro oder von San Gaudeoso besuchen möchtest, findest Du alle wichtigen Informationen von Öffnungszeiten bis Eintrittspreise auf der englisch sprachigen Version der Website Catacombe di Napoli.
Folgende Buslinien bringen Dich vom Archäologischen Nationalmuseum in Neapel, Ecke Via Santa Teresa degli Scalzi, zu den Katakomben. Bushaltestelle Nr. 1246 Museo Nazionale, Linien 168, 178, C63 and R4. Am besten steigst Du an der Kirche aus, die ausschaut wie der Petersdom. Bushaltestelle Nr. 3250 – Basilica dell’Incoronata.