Die lange Straße in den Süden
Reggio Calabria ist einer dieser Orte in Süditalien, die es bestimmt verdient hätten von interessierten Reisenden länger besucht zu werden. Unglücklicherweise legen die meisten Besucher hier aber nur einen hastigen Zwischenstop ein. Sie flitzen schnell ins Archäologische Nationalmuseum, das den tollen Beinamen Museo della Magna Grecia trägt, und werfen einen Blick auf die schärfsten Typen der Gegend, die berühmten Bronzen von Riace. Und dann springen sie ganz schnell wieder in das Auto oder in den Autobus und sind schon wieder weg.
Mir geht es ganz genauso. Auch ich komme nur wegen der Bronzen von Riace nach Reggio Calabria. Ohne den fantastischen Ruf dieser starken Kerle aus einer längst vergangenen Zeit, hätte ich den Umweg an die Stiefelspitze Italiens nicht gemacht. Dabei ist Fahrt auf der Schnellstraße Richtung Süden ziemlich spektakulär. Rechter Hand leuchtet das thyrrhenische Meer. Links baut sich langsam das Bergmassiv des Aspromonte auf und plötzlich ist Sizilien zu sehen. Unter mir öffnet sich die berühmte Meerenge von Messina, die Sizilien von Italien trennt.
Skylla und Charibdis – Eine fantastische Fahrt nach Reggio Calabria
Wir brausen schnell an Scilla vorbei. Der Ortsname erinnert an das Seeungeheuer Skylla, das im griechischen Mythos sechs Gefährten des Odysseus verschlingt. Die Unglücklichen kamen blöderweise dem räudigen Felsen zu nahe, auf dem das gefräßige Monster hauste. Und das nur deswegen, weil sie der Bedrohung durch das Ungeheuer Charybdis ausweichen wollen, das auf der anderen Seite der Meerenge sein mörderisches Unwesen trieb.
Die Anwesenheit der Skylla erinnert daran, dass auch Kalabrien zur Magna Grecia gehörte und eine Landschaft voller Mythen ist. Jenem Landstrich in Süditalien, der für die Griechen des Altertums so etwas war, wie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem sogar für die einfachsten Einwanderer die steile Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär offen stand.
Je näher ich Reggio Calabria komme, desto deutlicher wird, dass das wirklich vergangene Zeiten sind. Denn schon die mit Beton zugekübelte Landschaft, die vielen Bauruinen und unverputzten Hausfassaden sind handfeste Zeichen einer bedrohlichen Krise und bedrückender sozialen Not. Auch der Hafen von Reggio Calabria hat schon mal bessere Zeiten gesehen. Wir halten an einem Parkplatz ziemlich nah am Meer. Eine ausgesprochen einladende Promenade ermuntert zum Spaziergang entlang der Meerenge von Messina. Ich nehme diese Aufforderung gerne an, denn nach der langen Fahrt tut ein bisschen Bewegung sicherlich gut, bevor ich das Archäologische Nationalmuseum in Reggio Calabria besuche. Ich hoffe, den Ätna auf der anderen Seite des Meeres in Sizilien zu sehen. Klappt aber nicht. Der Himmel ist ziemlich diesig.
Das Archäologische Nationalmuseum in Reggio Calabria und die Bronzen von Riace
Unter dem immergrünen Blätterdach von gewaltigen Magnolienbäumen schlendere ich Richtung Museum. Das Archäologische Nationalmuseum in Reggio Calabria ist so ein abweisender autoritärer Kasten aus der Mussolini Zeit. Vor einigen Jahren aber ist das ganze Museum aufwändig erneuert und aufgehübscht worden. Dabei haben auch die Bronzen von Riace ein neues erdbebensicheres und optimal klimatisiertes Zuhause bekommen. Wichtiger war aber wohl aus einem verstaubten und wenig attraktiven Museum einen modernen und einladenden Ort zu machen, der die Besucher in die großartige griechische Vergangenheit Kalabriens eintauchen lässt.
Das Museum ist sehr pragmatisch von Level A bis Level E aufgebaut. Im Level A, ganz oben im Museum, werden die Besucher mit der Epoche vor der griechischen Kolonisation in Kalabrien vertraut gemacht. Level B und C zeigen großartige Skulpturen, Architekturfragmente und Gegenstände des täglichen Lebens, die aus den alten griechischen Städten in Kalabrien stammen. Level D präsentiert schließlich die absoluten Meisterwerke in Reggio Calabria: die einzigartigen und weltberühmten Bronzen von Riace.
Zwei überlebensgroße Skulpturen von kriegerischen Muskelmännern, die ein griechischer Bildhauer vor mehr als 2500 Jahren aus Bronze gegossen hat. Wie durch ein Wunder haben diese klassischen Skulpturen im ionischen Meer Jahrtausende überdauert. Bis sie dann zufällig von zwei Tauchern vor der Küste des Badeorts Riace im Meer gefunden worden sind. Eine sensationelle Geschichte, die um die Welt ging. Aber dazu später mehr.
Warum es sich lohnt, das Museo della Magna Grecia in Reggio Calabria zu besuchen
Die Bronzen von Riace sollen am Ende meines Rundgangs durch das Archäologischen Nationalmuseum der Höhepunkt sein. Davor will ich mir anschauen, wie das Leben in den griechischen Städten der Magna Grecia ausgesehen hat. Deswegen fahre ich erstmal mit dem Aufzug auf Level B. Dort überrascht mich eine Ausstellung, die so vollgestopft mit Exponaten ist, dass fast kein Platz mehr für Besucher bleibt. Besonders faszinieren mich die vielen Architeturfragmente, mit denen die griechischen Tempel üppig geschmückt waren. An den Wasserspeiern und Verzierungen sind noch Reste von Farbe zu sehen. Die Antike muss poppig bunt gewesen sein.
Die Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes, Söhne von Leda und Zeus, tauchen in großartigen Skupturen auf. Der Mythos erzählt, dass der unsterbliche und ewig junge Polydeukes das Altern und schlußendlich den Tod wählt, um dem sterblichen Bruder Kastor aus Liebe in den Hades folgen zu können. Was für ein Opfer. Die kämpferischen Brüder, Polydeukes der Boxer und Kastor der Wagenlenker, leben in Süditalien als die Heiligen Cosma und Damian übrigens munter weiter.
Klassische Schönheit – Der Apollo Alaios aus Cirò
Ganz besonders aber fasziniert mich der Apollo Alaios aus Cirò. Im Nationalmuseum von Reggio Calabria sind der Kopf und die Füße des griechischen Gottes zu sehen. Auch wenn die Augen in den tiefen Augenhöhlen fehlen, scheint mir dieses Apollo ziemlich lebendig zu sein. Diese verführerischen Lippen machen doch ziemlich viel Wett.
An den rauen Wangen lässt sich ablesen, dass der Kopf des Apollo von Cirò unvollendet geblieben ist. Die Bohrlöcher oberhalb der Stirn lassen vermuten, dass der Gott einstmals eine Perücke trug, die Augen müssen farbig eingelegt gewesen sein. Da vom Körper des Gottes keine Reste gefunden worden sind, gehen Archäologen davon aus, dass für dieses Kultbild nur Kopf und Extremitäten aus Marmor gearbeitet wurden, der Körper des Gottes hingegen aus einem anderen Material. In einer Vitrine ist anschaulich nachgebildet, wie so ein Götterbild aus Marmor und Stoff ausgesehen haben mag.
Hades und Persephone – Die Pinakes aus Locroi im Nationalmuseum von Reggio Calabria
Besonders berührt mich die Geschichte von Persephone und Hades. Auf unzähligen Tonreliefs – im Archäologsichen Nationalmuseum in Reggio Calabria werden sie Pinakes genannt – sind die kleinsten Details aus dem Beziehungsdrama zwischen dem Gott der Unterwelt und der Tochter der Fruchtbarkeits-Göttin Demeter ausgebreitet.
Die ungewöhnliche Geschichte ist schnell skizziert. Alter, häßlicher Mann entführt junges, schönes Mädchen. Daraufhin versinkt die Mutter des Mädchens in einer tiefen Depression und geht nicht mehr der Arbeit nach. Das wäre wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, wäre die Mutter nicht Demeter und ließe ihre Untätigkeit nicht die ganze Erde verdorren. So aber muss eine schnelle Lösung her. Eingefädelt wird sie von Göttervater Zeus, dessen Bruder Hades und dessen Schwester Demeter sich widerwillig beugen, bleibt ja in der Familie sozusagen. Persephone muss ein halbes Jahr zu Hades in die Unterwelt, dort lebt sie als Herrin im Reich der Toten. Das nächste halbe Jahr darf sie sich bei ihrer Mutter auf der Erde von dieser Bürde erholen.
Auf den ersten Blick erklärt dieser Mythos den Zyklus des Jahres. Im Herbst muss Persephone in die Unterwelt, darum versinkt Demeter in Traurigkeit und lässt die Erde vergehen. Im Frühjahr aber, wenn Persephone nach einem langen, dunklen Winter wieder zur Mutter darf, blüht diese sprichwörtlich auf.
Was erzählt der Mythos über Männer und Frauen?
Aber geht es bei dem Mythos von Persephone und Hades wirklich nur um eine märchenhafte Erklärung des Jahreszyklus, oder steckt vielleicht doch etwas anderes dahinter?
Einen Hinweis können die Pinakes selber geben. Durch zwei kleine Löcher ließ sich eine Kordel ziehen, an der die Täfelchen an Bäume in einem heiligen Bezirk gehängt werden konnten. Wahrscheinlich waren es Mädchen und Frauen, die diese Täfelchen als Opfergaben in ein Heiligtum trugen. Auffällig ist, dass neben der Darstellung des Raubs der Persephone häufig Szenen aus dem häuslichen Leben der Frauen gezeigt werden. Vielleicht gehörten diese Tontäfelchen zu einem heute vergessenen Heiratsritual der Griechen in der Magna Grecia.
Aber dann müsste auch der Mythos der Persephone anders gedeutet werden. Nämlich als eine Erzählung mit der junge Mädchen auf die traumatischen Ereignisse vorbereitet werden konnten, die sie am Tag der Hochzeit erwarteten: die Begegnung mit einem völlig fremden, in der Regel deutlich älteren Mann, der die junge Frau aus ihrer Familie entführen und über ihr Leben und vor allem ihren Körper herrschen würde. Genauso wie es Persephone ergangen war, überraschend von einem fremden und dazu noch häßlichen Mann aus ihrem heiteren Leben geraubt und vom Göttervater Zeus gezwungen bei diesem Fremden in der kalten Unterwelt zu bleiben.
Dass Männern in der griechischen Gesellschaft eine ganz besondere Rolle zugeschrieben wurde, lässt sich in jeder Antiken Sammlung abzählen, denn dort stehen fast nur Männer rum. Frauen sind da echte Exotinnen.
Die Bronzen von Riace im Archäologischen Nationalmuseum von Reggio zeigen übrigens, wie sich der griechische Mann sehen wollte: kämpferisch, jung, stark und schön! Und diese starken Typen möchte ich jetzt besuchen
Wer sind diese Männer? – Das große Rätsel um die Bronzestatuen von Riace
So einfach sind die Krieger von Riace aber nicht zu erreichen. Erst einmal werde ich in einer Klimakammer auf den Besuch vorbereitet. Das dauert gefühlt ein viertel Stunde, die Wartezeit kann ich mir vertreiben, indem ich auf Schautafeln die spannende Geschichte der Bronzen von Riace Revue passieren lasse. Ich erfahre von dem zufälligen Sensationsfund vor der kalabrischen Küste im Jahr 1972, genauso wie von den vergeblichen Versuchen aus Norditalien die Bronzen nach Florenz zu holen.
Besonders interessant ist die Dokumentation der letzte Restaurierung der Krieger von Riace, denn die zeigt, dass es sich bei den Skulpturen um griechische Originale aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeit handelt. Auch der technische Aufwand, mit dem die beiden Krieger erdbebensicher aufgestellt worden sind, wird genau erklärt. Super spannend.
Die Namen der Bronzen dagegen klingen ziemlich langweilig: Riace A und Riace B. Der Kunsthistoriker Salvatore Settis hat sich damit nicht zufrieden gegeben und die These aufgestellt, dass die beiden die Helden eines athenischen Mythos seien könnten. Riace A soll der athenisch König Erechtheus und Sohn der Göttin Athene sein; Riace B dagegen Eumolpos der Sohn des Poseidon und thrakischer König. Im folgenden Video wird die Geschichte der beiden kurz und knapp erzählt.
Falls es sich bei den Bronzen von Riace um die Göttersöhne aus dem Mythos handelt, dann wäre auch geklärt woher die beiden Bronzen stammen, nämlich von der Akropolis in Athen. Dort haben sie Reisende schon vor tausenden Jahren in der Nähe des berühmten Erechtheion bewundert und beschrieben. In diesen Berichten wird sogar der Name eines Bildhauers erwähnt, Myron, einer der Größten seiner Zunft.
Starke Kerle – Die Bronzen von Riace
Im archäologischen Nationalmuseum in Reggio Calabria müssen sich Riace A und Riace B mit einer schlichteren Atmosphäre zufrieden geben, als auf der Akropolis in Athen. Hier werden die Bronzen in einem aseptischen Saal konserviert, fühlt sich ein bisschen an wie Promi-Krankenhaus.
Die starken Typen stehen so weit auseinander, als ob sie gar nichts miteinander zu tun hätten. Wenn sie tatsächlich Erechtheus und Eumolpos wären, müssten sie sich kampfbereit mit Sperr und Kampfaxt gegenüberstehen. Aber diese spannungslose Präsentation der antiken Prachtkerle ermöglicht es, sich die Bronzen von Riace genau und konzentriert anzusehen. Toll sind sie anzuschauen, mit ihren muskulösen Körpern, dem lockigen Haar und dem strengen Blick. Nach und nach treten die Unterschiede in der Körperhaltung, dem Ausdruck und vor allem den Gesichtern deutlich hervor und trotz aller Idealisierung und Ähnlichkeiten sind Riace A und Riace B zwei ganz unterschiedliche Charaktere. Aber ein bisschen ratlos bin ich doch, denn als ideales Männerbild taugen die beiden Pfundskerle heute nicht mehr. Klar sehen die flachen Bäuche, strammen Waden und knackigen Ärsche prima aus. So ein Sixpack hätte ich auch gerne. In diesem Leben wird daraus aber nichts mehr werden.
Länger als 15 Minuten darf der Besuch bei den Bronzen von Riace nicht dauern. Freundlich werde ich von einem Kustoden Richtung Ausgang geschoben. Ich stöbere noch ein wenig im kleinen Museumsshop, in dem ich leider keine schrecklich schönen Souvenirs finde. Aber vor der Tür des Nationalmuseums habe ich eine vielversprechende Eisdiele gesehen. Dort schlendere ich noch hin, kaufe mir ein Pistazien Gelato und schaue über die Meerenge von Messina Richtung Sizilien. Dann flitze ich zum Auto und bin schon wieder weg.
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